Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat: Der vierte Fall des Erich Rottmann
Von Günter Huth
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Rezensionen für Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat
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Buchvorschau
Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat - Günter Huth
60 JAHRE SPÄTER
Der Abend war nicht mehr fern. Hans Huhn, der Kellermeister des Staatlichen Hofkellers in Würzburg, führte eine kleine, gut gelaunte Besuchergruppe durch sein unterirdisches Kellerreich. Normalerweise hatte er um diese Zeit längst Feierabend, aber Stadtrat Markus Näher hatte seine Beziehungen zum Chef des Hofkellers spielen lassen und für eine Besuchergruppe von Politikern aus Würzburgs Partnerstadt Dundee um eine Ausnahme gebeten. Huhn hatte selbstverständlich zugesagt. Wenn er Menschen den Frankenwein näherbringen konnte, war ihm die Arbeitszeit egal.
Wie immer hatten die Gäste einen süffigen fränkischen Begrüßungssekt bekommen und waren dann dem Kellermeister durch die historischen Gewölbe des Weinkellers gefolgt. Huhn freute sich, wenn er Menschen von der Architektur dieses Kleinods und der Geschichte des Weins, der hier erzeugt wurde, erzählen konnte.
Die Schatzkammer des Weinguts war ein Höhepunkt des Rundgangs. Es handelte es sich um einen kleinen, gesicherten Raum im Weinkeller, in dem besondere alte Weine, wahre Fürstentröpfchen, aufbewahrt wurden. Mit großem Interesse lauschten die Damen und Herren Kommunalpolitiker den Erklärungen des Kellermeisters, der es sich selbstverständlich nicht nehmen ließ, zu einigen der lagernden Weine die dazugehörenden Histörchen zum Besten zu geben.
Eine Stunde später näherte sich die Gruppe wieder dem Ausgang. Hans Huhn bedankte sich bei den Gästen für ihr Interesse und wünschte ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Würzburg. Stadtrat Näher bedankte sich seinerseits beim Kellermeister, dann stiegen die Besucher die breite Steintreppe zum linken Vorhof der Residenz hinauf.
Hans Huhn schloss mit dem altertümlichen, überdimensionalen Schlüssel den Zugang zum Weinkeller von innen. Dann lief er durch die unterirdischen Verbindungswege hinüber zum Verwaltungsgebäude des Staatlichen Hofkellers. Auf seinem Weg löschte er hinter sich das Licht. Er hatte es jetzt eilig, denn zu Hause wartete das Abendessen auf ihn. Die vermeintlich verlassene Welt des Weinkellers lag allerdings nur für kurze Zeit in völliger Dunkelheit. Als die Schritte des Kellermeisters in den Gängen verklungen waren, stach plötzlich der Lichtschein einer kleinen Taschenlampe durch die vom Weinduft geschwängerte Finsternis. Es handelte sich um einen jungen Mann, der sich vorher, unbemerkt von der Gruppe, hinter einem der großen Fässer im Eingangsbereich des Fasskellers versteckt hatte. Er trat nun aus seinem Versteck, orientierte sich kurz und eilte dann geradewegs hinüber zur Schatzkammer. Mit Erleichterung hatte er beim Rundgang vom Kellermeister erfahren, dass die Alarmanlage, die üblicherweise den Flaschenschatz bewachte, im Augenblick wegen eines elektronischen Fehlers außer Betrieb war – ein Umstand, der seinen Plänen unvermutet entgegenkam.
Mit nervösen Bewegungen holte er Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche und zog sie über. Das ungeschützte Schloss der kunstgeschmiedeten Eisentür zur Schatzkammer war kein Problem, weil er sich vor einiger Zeit aufgrund seiner guten Verbindungen zu einer der Damen des Hauses einen Nachschlüssel hatte beschaffen können. Die geölte Tür öffnete sich lautlos.
Flink huschte der Lichtkegel über die Flaschen, verharrte kurz hier und dort. Beiläufig holte der Mann währenddessen einen Stoffbeutel aus seiner Jackentasche. Konzentriert las er die Etiketten. Der Bocksbeutel, weswegen er diese riskante Aktion unternommen hatte, stand in einer Glasvitrine.
Der Einbrecher öffnete die Tür, packte die Flasche und steckte sie vorsichtig in den Beutel. Jetzt musste er nur noch zusehen, dass er hier wieder heil herauskam. Nach seinem Plan würde er allerdings eine längere Wartezeit auf sich nehmen müssen.
Er verließ die Schatzkammer und schloss wieder ab. Mit einem kurzen Schwenk der Taschenlampe durch die Gitter der Tür vergewisserte er sich, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Bis am nächsten Morgen der Keller wieder aufgeschlossen wurde, würden annähernd zwölf Stunden vergehen.
Obwohl es zwischen den Fässern recht kühl war, hatte sich auf seiner Stirn ein kalter Schweißfilm gebildet. Er war ein Mensch, der einem Abenteuer durchaus nicht abgeneigt war, aber diese Aktion wurde ihm jetzt doch langsam zuviel. Ihm fehlte die Abgebrühtheit eines Profis, und seine Nerven lagen ziemlich blank.
Er suchte die Toilette, die, wie er wusste, in einem der Seitengänge untergebracht war. Hier konnte er wenigstens ungesehen Licht anmachen und musste nicht in tiefster Dunkelheit ausharren. Der Strahl der Taschenlampe fand den Lichtschalter. Eine Sekunde später blendete ihn die grelle Deckenbeleuchtung. Er drehte den Wasserhahn auf und nahm einen Schluck Wasser. Sein Hals war ziemlich trocken. Anschließend öffnete er eine der Toilettenkabinen und ließ sich auf dem Klodeckel nieder. Nicht gerade bequem, aber besser, als auf dem kalten Fliesenboden zu sitzen.
Vorsichtig holte er den Bocksbeutel aus der Stofftasche und betrachtete das schon leicht verwitterte Etikett: 1937er Würzburger Stein Riesling Spätlese. Oben in der Mitte des Etiketts prangte der Reichsadler.
Während er den eiskalten Hauch der schlimmen Geschichte seiner Stadt spürte, dachte er darüber nach, was ihn, einen anständigen Studenten, dazu bewegt hatte, diesen Wein zu entwenden.
Gunnar van Jochem, der Eventmanager des Staatlichen Hofkellers, letzter Spross des aus dem deutsch-holländischen Grenzgebiet stammenden Handelsgeschlechts der van Jochem-Elten-Gummersbach, schaltete seinen Computer aus und streckte sich. In seinem Job, einem bayerischen Staatsweingut nach außen den Ruf eines fortschrittlich gemanagten Weinvermarktungsunternehmens zu verleihen, ließ es sich leider nicht vermeiden, Überstunden zu machen.
Er suchte auf seinem Schreibtisch nach seinem Terminkalender. Dieser war allerdings nirgendwo zu finden. Van Jochem dachte einen Augenblick nach. Verdammt, bestimmt hatte er den Organizer heute früh liegenlassen, als er im Fasskeller mit einem Verantwortlichen des Bayerischen Rundfunks über eine Veranstaltung im Keller des Weinguts verhandelt hatte. Er seufzte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einmal hinunter in den Weinkeller zu gehen. Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefe des Gebäudes. Eilig durchschritt er den Verbindungsgang.
Wenig später schlugen ihm die Kühle und der vertraute Duft des Weinkellers entgegen. Er schaltete das Licht ein und eilte durch die Gänge. Der Kalender lag tatsächlich auf dem kleinen Tisch am Kopfende des Fasskellers, an dem er mit dem Vertreter des Bayerischen Rundfunks ein Glas Sekt getrunken hatte. Er schnappte sich den Ringordner und machte kehrt.
Als er auf dem Rückweg an den Toiletten vorbeikam, stutzte er. Durch eine der Türritzen erblickte er einen Lichtschimmer. Offenbar hatte jemand vom Personal vergessen, in der Herrentoilette das Licht auszuschalten. Van Jochem öffnete die Tür und ging hinein. Sicherheitshalber sah er in die Kabinen hinein. Es war gelegentlich schon vorgekommen, dass Besucher des Kellers, die bei einer der großzügigen Weinproben zu tief ins Glas geschaut hatten, auf der Toilette eingeschlafen waren.
Ehe sich Van Jochem versah, kam aus einer der Kabinen eine männliche Person gestürmt und stieß ihn heftig gegen die Wand. Van Jochem seinerseits verfügte aber über ausgezeichnete Reflexe. Seine Hand schnellte instinktiv nach vorne und packte den Angreifer am Arm. Als der sich wehrte, fasste Van Jochem nochmals beherzt zu und zwang den Mann in den Schwitzkasten.
Der Angreifer war in seiner Gegenwehr sichtlich gehandicapt, weil er nur eine Hand einsetzte. In der anderen hielt er krampfhaft eine Stofftasche fest. Ein zusätzlicher Vorteil für den Manager. Wenig später gab der Fremde keuchend auf.
Van Jochem war ebenfalls ziemlich atemlos. „Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle!, stieß er erregt hervor. „Ich werde jetzt die Polizei verständigen.
Der junge Einbrecher nickte, dann ließ er sich wie ein Häuflein Elend an den Kacheln der Wand herunterrutschen und blieb mit angezogenen Knien sitzen.
Van Jochem verließ die Toilette und schloss die Tür hinter sich ab. Dann eilte er zu einem der im Keller angebrachten Telefone und verständigte die Polizei.
Wie sich später bei der Vernehmung herausstellte, handelte es sich bei dem Straftäter um den sechsundzwanzigjährigen Studenten der Betriebswirtschaft Thorsten Fiedmann, mit festem Wohnsitz in Würzburg. Andere Angaben als die zu seiner Person machte er auf Anraten seines Anwalts nicht.
Es blieb also weiterhin ein Rätsel, warum der bisher unbescholtene junge Mann diesen merkwürdigen Einbruchdiebstahl begangen hatte. Da er einen festen Wohnsitz nachweisen konnte, wurde er nach der Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt.
Der entwendete Bocksbeutel wurde als Beweisstück sichergestellt und wegen seines Wertes in einem Tresor der Polizeidirektion verwahrt. Kurze Zeit später landete die Anzeige gegen Thorsten Fiedmann nebst Beweis-Bocksbeutel bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Würzburg.
EINIGE MONATE SPÄTER
Die Geräusche der Feier hallten laut von den Wänden des verlassenen Justizgebäudes wider. Sie drangen durch das Treppenhaus bis in den dritten Stock, wo sie allerdings nur noch ganz schwach zu hören waren. Hier existierte nur eine Notbeleuchtung, die den Flur in voneinander abgegrenzte Licht- und Schattenbereiche unterteilte.
Öchsle, der treue Begleiter seines Herrchens, Mischlingsrüde von sonst eher ausgeglichenem Gemüt, wirkte verunsichert. War es der Nachhall der Geräusche, die seine Nägel auf den Steinplatten des Fußbodens erzeugten oder die gespenstisch anmutende Atmosphäre, die das verlassene Gerichtsgebäude vermittelte? Mit eingekniffenem Schwanz, auf Halbmast hängenden Ohren und aufgerichtetem Nackenfell suchte er die Nähe seines Herrchens, der gemächlich wiegenden Schrittes, die Hände auf dem Rücken verschränkt, diesen langen Flur des Justizgebäudes durchmaß.
Erich Rottmann, der pensionierte Leiter der Würzburger Mordkommission, wandelte hier gewissermaßen auf den Spuren seiner beruflichen Vergangenheit. Er wusste nicht mehr, wie häufig er im Laufe seiner zahlreichen Dienstjahre hier im Hause vor dem Schwurgericht als Zeuge der Anklage aufgetreten war. Oft waren es seine Aussagen gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass so mancher Mörder den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen musste. Er bedauerte, dass es einigen wenigen, von deren Schuld er überzeugt gewesen war, gelungen war, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Aber auch als Polizeibeamter hatte er den Grundsatz „in dubio pro reo", im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten, akzeptieren müssen, wenn das auch nicht immer leicht war.
Plötzlich riss ein lauter Knall Erich Rottmann aus seinen
Gedanken. Es hörte sich im ersten Augenblick wie ein Schuss an. Öchsle zuckte zusammen.
„Das reinste Gespensterhaus, brummelte Rottmann im Selbstgespräch. „Vermutlich war’s nur eine Tür.
Wobei man die Frage stellen konnte, weswegen die Tür zugeschlagen war. Hier herrschte kein Durchzug.
Neugierig blickte er den Gang entlang. Soweit er erkennen konnte, war der Flur nach beiden Seiten menschenleer.
„Komisch", murmelte Rottmann. Es war schon interessant, dass er, ein gestandener Kriminaler, der wirklich nicht mehr sagen konnte, wie oft er in seinem Berufsleben lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt war, sich der eigenartigen Magie einer zuschlagenden Tür nicht ganz entziehen konnte.
Öchsles gesteigerte Wachsamkeit war unübersehbar. Seine Ohren standen auf Habachtstellung, sein leicht nach oben gereckter schwarzer Nasenschwamm bewegte sich im Rhythmus der stoßweise eingesogenen Luft.
Rottmann zuckte mit den Achseln, rückte sich die braune Breitcordhose über dem kräftigen Bauch mittels der Hosenträger zurecht und marschierte weiter den Gang entlang. Dabei holte er seine gestopfte Pfeife aus der Tasche seiner geliebten Lodenjoppe und zündete das Kraut an. Der vertraute Geruch seines Tabaks gab ihm schnell seine Selbstsicherheit zurück.
Während Rottmann in Gedanken versunken über den Flur schlenderte, begann Öchsle erneut zu knurren.
„Ist ja gut, mein Junge", versuchte Rottmann seinen Vierbeiner zu beruhigen. In diesem Augenblick hörte er Schritte, die ihm entgegenkamen. Wenig später schälte sich aus dem Dämmerlicht des Ganges die Gestalt eines jüngeren Mannes heraus, der sich ihnen eiligen Schrittes näherte. Er trug die Uniform eines Justizwachtmeisters und wies sich so als Mitarbeiter der Justizbehörden aus.
Erich Rottmann kannte den Mann nicht. Das hatte nichts zu sagen. Rottmann war schon seit geraumer Zeit nicht mehr bei Gericht gewesen. Zwischenzeitlich hatte sicher in vielen Bereichen der Justiz ein Personalwechsel stattgefunden. Ein völlig normaler Vorgang.
Der Mann war offenbar ebenso überrascht über die Anwesenheit Rottmanns, wie der Ex-Kommissar über seine. Er musterte Rottmann mit einem Seitenblick und eilte dann mit einem kurzen, grüßenden Nicken vorüber. Der Mann machte einen nervösen Eindruck auf Rottmann.
Der pensionierte Kriminalkommissar wunderte sich ein bisschen darüber, dass ihn der Beamte nicht nach dem Grund fragte, warum er sich hier auf diesem Stockwerk aufhielt. Rottmann zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich war es dem Mann unangenehm, dass Rottmann ihn hier auf dem Flur gesehen hatte – weshalb auch immer. Zumindest dürfte damit die schlagende Tür erklärt sein.
Vor einem der ehemaligen Sitzungssäle blieb Rottmann stehen, zögerte kurz, dann öffnete er langsam die unverschlossene Tür: Die Klinke quietschte leicht.
Der Raum wurde nur von dem Dämmerlicht, das von draußen durch die zahlreichen