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Reinheitsverbot
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eBook297 Seiten3 Stunden

Reinheitsverbot

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Über dieses E-Book

Nachdem Paul Klinger angeschossen wurde, kommt auch sein Doppelleben ans Tageslicht. Die Mafia ist hinter ihm her, weil er sich mit den Konzernen der Kosmetik-Branche angelegt hat.
Kommissar Bösinger wird der Fall anvertraut und er wäre überfordert, wenn er nicht anonyme Unterstützung von hochbegabten Senioren erhalten würde. Seine Spur wird immer heißer und führt ihn hinter die dunklen Kulissen der skrupellosen Bosse der mächtigen Kosmetikindustrie.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Apr. 2020
ISBN9783749797714
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    Buchvorschau

    Reinheitsverbot - Veronika Reischle

    1

    Er verlor den Halt. Eigentlich war es mehr ein Wegrutschen. Sein rechter Fuß glitt vom Sims auf die erste Ziegelreihe. Er fragte sich, warum er barfuß war, warum es dunkel war. Er ruderte mit den Armen und verlor schließlich die Kontrolle. Er fiel. Mit dem Kopf schlug er auf den darunter liegenden Ziegelreihen auf. Alte, brüchige Ziegel. Der Aufprall ließ ihn aufschreien. Dann verlor er das Bewusstsein.

    Eine warme Hand streichelte seine Hand. Wem gehörte sie? Nichts war ihm vertraut. Es roch nach Krankenhaus und nach Medikamenten. Er öffnete kurz das rechte Auge, das linke verweigerte seinen Dienst. Wahrscheinlich war es kaputt. Doch die gute Nachricht war: Er lebte. Er wusste nur nicht, in welchem Zustand.

    Die streichelnde Hand war verschwunden. Er hörte, wie jemand den Raum verließ und wieder hineinkam. „Schwester, er ist aufgewacht."

    Marianne, seine Lebensgefährtin, wischte sich die Tränen aus den Augen. Es waren Tränen des Glücks und der Erleichterung. Das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen hatte ein Ende. „Paul, ich bin es, Mary. Kannst Du mich verstehen? Mit einem Auge sah er in zwei Augenpaare. „SSSS, geehht sooo nigermaasen. 1 Million Fragen schwirrten durch seinen Schädel. Als erstes versuchte er seinen Zehen zu befehlen, sich zu bewegen. Aus diversen Quellen wusste er: Wenn er die Zehen nicht mehr bewegen konnte, dann war es etwas ganz Schlimmes. Er jagte den Befehl durch seinen verbundenen Körper. Sie ließen sich bewegen. Er hätte vor Freude schreien können.

    Nach einigen Lippen- und Mundbewegungen versuchte er sich erneut im Reden: „Mary, was ist passiert? Wo bin ich?"

    Statt einer Antwort hörte er eine fremde Frauenstimme sagen: „Sie sollten ihn jetzt lieber noch in Ruhe lassen. Er darf sich nicht anstrengen. Wenn er in seinem Zustand weiß, dass jemand da ist und ihm beisteht, dann ist das fürs Erste genug. Ich werde umgehend den Stationsarzt informieren. Der Patient ist noch sehr schwach, nach allem, was er durchgemacht hat." Er hörte, wie die zwei Menschen den Raum verließen.

    Er war wieder allein und versuchte seine Finger zu bewegen. Es funktionierte. „Was ist mir nur passiert?" Seine Gedanken schwirrten umher – ohne Lösung, ohne Antwort.

    2

    Sie war auf dem Weg von Italien nach Hause. Den Arlberg hatte sie schon lange hinter sich gelassen. Der Nebel hatte sich dicht über die immer noch leicht verschneite Landschaft gelegt.

    Langsam, ganz langsam fuhr sie mit ihrem in die Jahre gekommenen Auto die kurvige nasse Straße entlang. Eigentlich müsste sie sich ein neues Auto kaufen, doch sie konnte sich nur schwer von ihrem liebgewonnenen Golf trennen. Es dämmerte bereits und sie machte sich Sorgen, ob sie rechtzeitig in der gebuchten Pension ankommen würde.

    Sie fragte sich, ob er schon dort war. Das Radio spielte alte Hits aus den Siebzigern. Ob er sich über die aktuelle CD der Rolling Stones „blue and lonesome" freuen würde, die sie in Innsbruck für ihn gekauft hatte? Als glühender Fan der Stones, der noch nie ein Konzert seiner nicht mehr jungen Idole verpasst hatte, freute er sich bestimmt sehr, dass sie trotz ihrer Vorliebe für Klassik daran gedacht hatte.

    Sie hatte auch das neue Kleid im Gepäck, das er so an ihr liebte. Sie wurde nervös, als sie an den Glanz in seinen Augen dachte. Da war etwas Sanftes in seinem Blick, wenn er sie betrachtete.

    Früher, als sie noch jünger war, konnte sie ohne viel Sport mühelos ihre zierliche Figur halten. Heute war das anders. Es kostete sie sehr viel Mühe, frühmorgens aufzustehen, um ihr Laufpensum zu schaffen. Und das alles, damit sie in Form blieb. Manchmal würde sie am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und sich gehen lassen. Aber dann reißt sie sich zusammen. Sie wollte nicht riskieren, dass er sich einer Jüngeren zuwendet. Auch heute war sie vor ihrer Abreise tapfer gewesen, trotz des nassen Wetters.

    In Gedanken fuhr sie weiter. Die Heizung lief auf vollen Touren. Sie merkte, dass sie müde wurde und überlegte, ob sie kurz anhalten sollte. In der Zwischenzeit hatte es angefangen zu regnen, als sie sich dem vereinbarten Treffpunkt langsam näherte. Eine Katze saß vor einem menschenleeren Café. Sie war froh, dass sie die weite Strecke bald hinter sich hatte.

    Plötzlich klingelte ihr Telefon. Sie wühlte mit einer Hand in ihrer Handtasche. War er das? Hoffentlich war ihm nichts dazwischengekommen, dachte sie. Endlich hatte sie das Handy gefunden. Gerade wollte sie auf die grüne Taste drücken, als wie aus dem Nichts ein Schatten vor ihr auftauchte. Alles was sie hörte war ein Knall und ein Schrei. Etwas fiel vor ihr auf die Straße. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie fragte sich, was passiert war und ob sie aussteigen sollte.

    3

    Paul erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Er sah Schläuche und einen Infusionsbeutel. Der Haltegriff über ihm erinnerte ihn an ein Dreieck.

    Er lag in einem Einzelzimmer. War das noch die Intensivstation? Ein Dreieck. Wieso dachte er wieder an ein Dreieck? Er versuchte sich zu erinnern.

    Da ging die Tür auf und ein Mann in einem weißen Kittel trat vor ihn. „Ich bin Dr. Michels, Ihr Stationsarzt, wie geht es Ihnen …? Er sah auf die Patientenkarte: „… Herr Klinger.

    „Sagen Sie es mir. Ich kann die wichtigen Körperteile bewegen und habe kaum mehr Schmerzen. Haben Sie mir Schmerzmittel eingeflößt?"

    „Hier steht, dass Sie vor zwei Tagen nach einem Sturz von einem Dach eingeliefert wurden. Ihre Schulter war ausgerenkt und Ihr linkes Knie mussten wir mit einer Schiene ruhigstellen. Außerdem haben Sie noch eine leichte Gehirnerschütterung. Sind Sie Sportler?"

    „Nicht wirklich, aber ich versuche durch Krafttraining und etwas Ausdauersport fit zu bleiben. Wieso?"

    „Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Ihr Körper nicht noch mehr Blessuren davongetragen hat. Sie müssen sich beim Aufprall geschickt abgerollt haben und ein Schutzengel, der mit Ihnen geflogen ist, war wohl auch mit im Spiel."

    Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sagen Sie, haben Sie Feinde? Paul überlegte einen Moment. Was sollte denn diese Frage? „Puh, ich gehe mal davon aus, dass mich nicht jeder mag. Aber, ob ich die gleich als Feinde bezeichnen würde? Da tue ich mich echt schwer.

    „Sie hatten nämlich doppeltes Glück, gab Dr. Michels ihm zu verstehen. „Ihren Streifschuss am rechten Oberschenkel konnten wir mit wenigen Stichen nähen. Ein paar Zentimeter weiter links und es hätte Ihnen den Knochen zerfetzt. Etwas höher und mittiger und der Schuss wäre im Genitalbereich gelandet. Das wäre es dann gewesen. Sie hatten also unverschämtes Glück.

    „Meine Güte. Jemand hat auf mich geschossen? Paul steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Das ist ja entsetzlich, ich verstehe die Welt nicht mehr. Mir fehlen noch die Ereignisse der letzten Tage, ich hoffe, mir fällt bald alles wieder ein." In ihm brodelte es wie in einem Vulkan. Welcher Feind trachtete ihm nach dem Leben? Fassungslos starrte er Dr. Michels an.

    „Das ist nicht mehr mein Fachbereich., sagte Dr. Michels. „Sie sind meines Erachtens vernehmungsfähig. Draußen wartet nämlich ein Kommissar von der Kripo.

    Kommissar Franz Bösinger wartete geduldig im Krankenhausgang auf grünes Licht von Dr. Michels, um den verunglückten Patienten zu vernehmen.

    Er hasste es, bei diesem nassen Wetter auch noch den Geruch von Krankenhäusern ertragen zu müssen.

    Seit seinem Fahrradunfall vor einigen Jahren, der ihm einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt beschert hatte, war er auf diese Häuser nicht mehr gut zu sprechen. Was hatte er sich alles anhören müssen wegen seines Missgeschicks, das ihm passiert war. Nach dem Motto: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

    Markus, sein Sohn, ein begeisterter Sportler, hatte sich damals ein todschickes und dem neuesten Trend entsprechendes Mountainbike geleistet. Und er, obwohl er wusste, dass Sport nicht gerade seine Stärke ist, hat es nicht lassen können, dieses Bike auszuprobieren.

    Also hat er sich in Markus’ Abwesenheit auf das Rad geschwungen und war in Richtung Wald gefahren. Es war früher Abend gewesen und die Sonne stand schon tief im Westen. Trotz Sonnenbrille hat er kaum etwas sehen können. Die Hauptstraße Richtung Wald war leicht ansteigend und die Hitze machte ihm zu schaffen.

    Er fuhr also bergauf und fluchte, weil er merkte, dass seine Kondition ganz schön nachgelassen hatte. Er wollte deshalb den Gang wechseln und war unkonzentriert. Er kannte sich mit diesem Bike nicht wirklich aus. Auf die Gangschaltung konzentriert, hatte er übersehen, dass ein parkendes Auto am Straßenrand stand und war mit voller Wucht ins Heck des Kombis gekracht.

    Anscheinend hatte er den Helm nicht richtig festgezurrt, sodass dieser davonflog. Er flog mit dem Kopf voraus über den Lenker ins Heckfenster, die Brille zerbrach, die Brillengläser ramponierten sein Gesicht und mit dem Brillenbügel hatte er sich zu guter Letzt auch noch den Nasenflügel aufgerissen. Er schlug auf der Straße auf mit dem Ergebnis: zwei gebrochene Rippen, ein gebrochener Arm, eine Gehirnerschütterung, mehrere Schnittwunden im Gesicht und ein Körper voller Abschürfungen. Nicht zu vergessen: der jämmerliche Zustand des Bikes.

    Die Häme seiner Kollegen hatte er bis heute nicht verdaut. Allein deshalb nicht, weil aus Umweltgründen im Kommissariat für Kurzstrecken kürzlich ein E-Bike angeschafft wurde.

    „Entschuldigen Sie, sind Sie eine Angehörige von Paul Klinger? Kommissar Bösinger sah, wie eine Krankenschwester und eine jüngere Frau aus dem Zimmer kamen. Während sich die Krankenschwester mit dem Hinweis verabschiedete, dass sie zum Stationsarzt musste, antwortete Mary: „Ja, nein, wieso, wer sind Sie?

    „Ich bin von der Kripo, mein Name ist Bösinger." Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. Während er ihn wieder in seiner Jackentasche verstaute, dachte er: Klasseweib, blondes, gepflegtes Haar, tolle Kurven, riecht gut und dieses Gesicht mit den blau-grünen Augen, beneidenswert.

    Er gönnte sich noch eine Nase voll des betörenden Eau de Toilette, indem er die übliche Distanz zum Verhörenden um 20 cm verkürzte. Im Gegensatz zu vielen anderen Befragungen in den sozialen Brennpunkten seiner Stadt, bei denen er oftmals die Distanz gerne um einen Meter oder mehr vergrößerte. So gleicht sich alles wieder aus, dachte er.

    „Ich bin die Freundin von Paul Klinger. Wir leben erst seit wenigen Wochen zusammen. Mein Name ist Marianne Semel."

    „Haben Sie eine Erklärung, was Herrn Klinger dazu bewogen haben könnte, auf das Dach der Pension Lichtblick zu klettern? Wieso wurde auf ihn geschossen?"

    Trotz Ratlosigkeit und Erschütterung versuchte sie so unverfänglich wie möglich zu antworten: „Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen. Paul ist beruflich oft tagelang unterwegs. Er hat sich von mir vor vier Tagen verabschiedet und sagte, dass er geschäftlich nach Hamburg und anschließend noch nach Bremen muss. Wir haben täglich telefoniert, aber von einer Pension hier am Bodensee hat er nichts erwähnt. Er hatte immer eine Visitenkarte und ein Bild von mir im Geldbeutel, aufgrund dieser Karte, hat mich die Polizei informiert."

    Der Stationsarzt kam auf Franz Bösinger zu und gab ihm ein Signal, dass er Paul Klinger nun befragen könne. Er gab Mary seine Visitenkarte mit dem Hinweis, sich für weitere Fragen bereit zu halten und sich unverzüglich zu melden, wenn ihr etwas Sachdienliches einfiele.

    Bösinger war sich nicht sicher, wie er die Reaktion von Marianne Semel einschätzen sollte, als er erwähnte, dass Paul angeschossen wurde. Hinter seinen vordergründigen erotischen Gedankenspielchen machte sich ein nicht zu erklärendes Unbehagen breit. Manchmal verfluchte er sich dafür, dass er hinter allem und jedem irgendetwas Verdächtiges vermutete. Er verdrängte seinen Gedanken, ohne ihn zu vergessen und klopfte an die Tür des Krankenzimmers.

    „Guten Morgen Herr Klinger, darf ich reinkommen? Mein Name ist Franz Bösinger von der Kripo. Auch ihm zeigte er seinen Dienstausweis. „Geht es Ihnen schon etwas besser?

    Paul Klinger lag in seinem Bett. Sein Blick schweifte durch das Fenster, so als würde er angestrengt nachdenken. Verunsichert drehte er seinen verbundenen Kopf Richtung Bösinger und antwortete nach einigem Zögern.

    „Ja, danke, Herr Kommissar, es geht einigermaßen. Worüber ich aber sehr schockiert bin, ist, dass angeblich jemand auf mich geschossen hat. Mary, meine Lebensgefährtin, ängstigt sich seither zu Tode. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was passiert ist. Ich muss wohl vor jemandem geflohen sein."

    „Haben Sie denn Feinde oder haben Sie in der letzten Zeit bemerkt, dass Sie verfolgt oder bedroht wurden? Können Sie mir sagen, was Sie in dieser gottverlassenen Gegend in dieser Pension gemacht haben?"

    Paul Klinger überlegte krampfhaft, so als kramte er in seiner Vergangenheit. Langsam drehte er den Kopf zum Haltegriff seines Bettes, betrachtete diesen angestrengt und antwortete:

    „Herr Kommissar, ich weiß, es klingt komisch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendetwas mit einem Dreieck zu tun hat. Aber mir will einfach nicht einfallen, warum. Es ist zum Verzweifeln, aber mein Hirn ist wie leer. Ich weiß absolut nichts mehr, was die letzten Tage anbelangt."

    „Weiß denn Ihre Lebensgefährtin Frau Semel, was Sie in dieser Gegend wollten? Haben Sie Geheimnisse vor ihr? Wenn ja, sollten Sie uns einweihen, Sie sind in akuter Gefahr!"

    „Nein, das ist es ja gerade. Wir sind erst vor kurzem zusammengezogen. Wir kennen uns zwar schon lange, aber ein Paar sind wir erst seit wenigen Monaten. Ihr Vater ist mein Chef. Ihm gehört das Unternehmen, für das ich als Vertriebsleiter tätig bin. Ich kann Ihnen sagen, er war nicht gerade erfreut, dass seine einzige Tochter mit einem ,Angestellten‛ liiert ist. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie den jungen Stefan Frankenberg, den Sohn seines größten Konkurrenten, erhört hätte. Er hat sich schon vorgestellt, die Unternehmen durch eine Hochzeit zu vereinen. Quasi nach dem ,Habsburger Modell‛.

    4

    In Gedanken versunken saß Marianne in ihrem 911er Porsche. Der neuste Song von Adele hat es ihr besonders angetan. Sie stellte die Bose-Lautsprecher noch zwei Stufen lauter. Sie dachte an die romantischen Stunden, die sie mit Paul verbracht hatte. Vieles rauschte an ihr vorbei, wie die Häuser- und Baumreihen in den Straßen. Und nun, dieses abrupte Ende mit Krankenhaus und Schussverletzung. Marianne beschloss kurzerhand noch einen Abstecher in den Supermarkt zu machen. Es galt, die Bestände an Obst, Gemüse und Joghurt etwas aufzufrischen.

    Danach fuhr sie in die gemeinsame Wohnung. Dass sie sich diese Wohnung am noblen Stadtrand überhaupt leisten konnten, hatte sie vor allem ihrem Vater zu verdanken. Er hat sie ihr Leben lang immer finanziell unterstützt, immerhin, denn er hatte fast nie Zeit für Sie, auch nicht als Kind. Auch der Porsche hatte nicht auf ihrer Must-Have-Liste gestanden. Ihr sportlich eingestellter Vater hatte sie zu ihrem 28. Geburtstag mit dem Porsche überrascht: „Du hast nun 10 Jahre lang bewiesen, dass du eine gute Autofahrerin bist. Wobei ich nie verstanden habe, dass du dich in so einem Mini-Fuzzi-Car bei 150 km/h auf der Autobahn noch wohlfühlen konntest. Für mich kommt sowas einem Himmelfahrtskommando gleich."

    Auf dem kurzen Teilstück vom Supermarkt nach Hause, wo noch 70 km/h erlaubt sind, gab es plötzlich einen Knall und Mary verlor für einen Augenblick die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Sie schlingerte gefährlich nah an den rechten Fahrbahnrand und kam knapp an einem Baum vorbei. Gerade noch rechtzeitig riss sie das Steuer herum und konnte das Auto zum Stehen bringen. Die Anzeige an der Armatur meldete, dass der linke Hinterreifen kaputt war.

    Nach einem Anruf beim nächstgelegenen Autohaus kam auch schon der Abschleppwagen. An eine Weiterfahrt war nicht mehr zu denken. Die Felge hätte keine hundert Meter mehr gehalten. Der Reifen war völlig zerfetzt. Dass der Reifen manipuliert worden ist, sagte ihr der KFZ-Meister. Irgendjemand hatte einen spitzen Gegenstand ins Profil gesteckt. Es war anzunehmen, dass der Reifen nach 3–10 km platzen musste.

    Zu Hause angekommen nahm sie die gekauften Lebensmittel aus ihrem Einkaufskorb. Gerade wollte sie das Obst im Kühlschrank verstauen, da fiel ihr Blick auf die in Folie gehüllten roten Trauben. Darauf war ein Aufkleber angebracht, auf dem in Druckbuchstaben stand: „Ich mach dich kalt, du Schlampe."

    Es fuhr ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie zum Telefonhörer griff. Die Karte von Kommissar Bösinger lag noch auf dem Küchentresen. Auch hier war ihr Vater sehr großzügig gewesen. Die Küche war mit allen Schikanen ausgestattet. Eine freitragende Kochinsel mit edlem Granit, Lackfronten und Edelstahlelemente, High-End-Geräte, selbst einen Weinschrank gab es. Manchmal fragte sie sich, was gewesen wäre, wenn sie nur von zwei durchschnittlichen Gehältern hätten leben müssen. Sie wusste, dass ihr Vater es lieber gesehen hätte, wenn sie mit Stefan zusammengekommen wäre. Aber Paul hatte sie sofort fasziniert, sein Hang zu exquisiten Dingen, seine sportliche Figur und seine Hobbys, seine Art, eine Frau spüren zu lassen, dass sie etwas ganz Besonderes ist. Das war es, was ihn ausmachte. Obwohl er im nächsten Jahr 45 wurde, war er äußerst attraktiv.

    Stefan hingegen war bodenständig. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist für sie immer so etwas wie ein guter Freund gewesen. Jemand, mit dem man in der Kindheit Streiche ausgeheckt und durch die Gegend gestreift ist. Bei Paul, der ihr den Hof machte, gleich nachdem er als Vertriebsleiter bei ihrem Vater anfing, hatte sie immer das Gefühl, sie könne fliegen.

    Gedankenverloren bemerkte sie, dass eine unbekannte Nummer zwei Mal versucht hatte, sie zu erreichen. Sie gab die Nummer von Kommissar Bösinger in ihr Smartphone ein. Er nahm sofort ab. Sie schilderte ihm den Unfall mit dem Porsche und die Manipulation des Reifens. Ebenso erzählte sie ihm von dem Aufkleber mit der furchteinflößenden Nachricht.

    Auf sein Nachfragen, ob sie denn jemanden gesehen habe, der diesen Aufkleber angebracht haben könnte, überlegte sie, ob sie etwas bemerkt hatte. Doch sie war noch so durcheinander wegen des Vorfalls, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

    Kommissar Bösinger versprach, sogleich vorbeizukommen und einen Kollegen in den Supermarkt zu schicken, der dort versuchen sollte, Zeugen zu finden, die etwas beobachtet haben könnten. Möglicherweise gab es in diesem Bereich sogar eine Videoüberwachung. Er bat sie, die Lebensmittel nicht anzufassen, eventuell gab es brauchbare Spuren für eine DNA-Analyse.

    Nachdenklich setzte sie sich auf den Barhocker und wartete auf die Polizei. Wer war derjenige, der versuchte, sie und Paul auszulöschen? Hatte Paul Geheimnisse? Gab es etwas, das sie nicht wusste? Warum war er hunderte Kilometer weit weg von Hamburg, wo er hätte sein sollen, und was hat er in dieser Pension gewollt?

    5

    Reflexartig riss sie das Steuer herum. Sie glaubte nicht, dass ihr Auto etwas abbekommen hatte. Sie blickte in den Rückspiegel und bemerkte, dass etwas, das aussah wie ein menschlicher Körper, zwischen Straße und Bürgersteig lag. Bei der nächstbesten sich bietenden Gelegenheit fuhr sie rechts ran. Nachdem sie eine Parklücke gefunden hatte, stieg sie aus, um zumindest aus der Ferne zu schauen, um vielleicht etwas zu erfahren, um vielleicht zu helfen.

    Bereits aus dieser Entfernung sah sie, wie sich eine Menschentraube um den am Boden Liegenden gebildet hatte. Vermutlich kniete ein Arzt oder ein Sanitäter, der zufällig im Café gesessen hat, vor dem Verletzten. Seine Handgriffe wirkten professionell. Einige Passanten wandten sich bereits wieder ab. Zu wenig Blut, kein Toter, uninteressant. Sie gaben den Blick frei und Sophia sah, dass da ein gänzlich Fremder lag. Ein Koloss, ein Ungetüm in Schwarz. Er hatte so viel Fett am Körper, dass dadurch der Aufprall wohl abgemildert worden war. Ein lautes Stöhnen drang an ihr Ohr. Das spekulative Gemurmel der herumstehenden Gaffer war kein Deut leiser.

    Über dem Café erkannte sie in der Dunkelheit einen kleinen Balkon. Zu klein, um sich hinzusetzen. Wahrscheinlich hatte der Erbauer ihn vor über hundert Jahren lediglich als Fassadenzierde anbringen lassen. Heute diente er vor allem Rauchern, denen die gestrenge Hausfrau verbot, in der Wohnung zu rauchen. Und wenn die fetten Männer zu faul waren, nach unten ins Freie zu gehen, dann erwies sich so ein Minibalkon auch noch als nützlich.

    Sophia reimte es sich jedenfalls so zusammen, dass sich da vielleicht eine von der nicht mehr vorhandenen Erotik ihres Mannes derart enttäuschte Ehefrau, zu einem folgenschweren Schubser hat hinreißen lassen. Und da auch Dicke bekanntlich nicht fliegen können, stürzte er mitsamt seiner Zigarette auf den Vorsprung des Cafés und rollte dann weiter nach unten. Zwischen Bürgersteig und Straße blieb er liegen. Einen Meter weiter und er wäre von ihrem Auto überrollt worden. Besonderes Lob verdiente der Erbauer des schrägen Vorsprungs über dem Café. Es hatte keinen erwähnenswerten Schaden davongetragen.

    Erst jetzt erinnerte sie sich, dass vor einigen Minuten ihr Handy geklingelt hatte. Vor lauter Schreck hatte sie es fallen lassen. Es lag noch mitsamt dem Inhalt ihrer Handtasche im Fußbereich des Beifahrersitzes. Auf dem Display erblickte sie das Symbol für eine neue Nachricht auf der Mobilbox.

    Ängstlich hörte sie die Mailbox

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