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Angsthase gegen Zahnarzt: Ist es Liebe
Angsthase gegen Zahnarzt: Ist es Liebe
Angsthase gegen Zahnarzt: Ist es Liebe
eBook461 Seiten6 Stunden

Angsthase gegen Zahnarzt: Ist es Liebe

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Über dieses E-Book

Angelika, Übersetzerin, Mitte dreißig, hat einen Teil ihres Studiums in London und einen weiteren in Istanbul absolviert. Hier promoviert sie zum Doktor phil. Nach dem frühen Tod ihres türkischen Ehemannes kehrt sie nach Deutschland zurück und lässt sich in Münchens Stadtteil Schwabing nieder. Sie schafft es sich ihr Leben einzurichten und einen Freundeskreis aufzubauen. Was sie jedoch nicht ablegen kann ist ihre panische Angst vor Zahnärzten. Bei einem Besuch einer Zahnarztpraxis soll ihr Leben eine Wendung nehmen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Aug. 2014
ISBN9783847605423
Angsthase gegen Zahnarzt: Ist es Liebe

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    Buchvorschau

    Angsthase gegen Zahnarzt - Christine Jörg

    Montag, 12. Oktober

    „Geht’s wieder?" Ein freundliches Gesicht lächelt mich an.

    Verwirrt starre ich zurück. Wo bin ich? Was ist geschehen? Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Und wieder ist es geschehen.

    Ich sitze auf dem Stuhl eines Zahnarztes. Und jetzt wurde ich Laufe der Behandlung ohnmächtig.

    Vor Zahnärzten habe ich panische Angst. Das ist der Grund weshalb fast jeder meiner Besuche bei diesen Ärzten katastrophal endet.

    Seit ich hier in München lebe, seit drei Jahren also, ist Doktor Kersky mein vierter Zahnarztversuch.

    Aber brav vereinbare ich nach Möglichkeit alle sechs Monate einen Termin. Damit hoffe ich sicherzugehen, dass nichts Schlimmes bei meinen Zähnen anfällt.

    Aber das Szenario dieser Vorsorgeuntersuchungen läuft fast immer gleich ab. Weshalb sollte es heute anders sein?

    *

    Die Sprechstundenhilfe ruft meinen Namen. Mit gesenktem Kopf, wie ein Opferlamm, das zur Schlachtbank geführt wird, folge ich der freundlichen Dame ins Behandlungszimmer. Ich würde gerne am Fenster stehen bleiben und hinausschauen auf die regennasse Straße, auf die Menschen, die an diesem Oktobertag mit geöffneten Schirmen vorbeieilen. Doch ich werde genötigt, mich auf den Folterstuhl zu setzen.

    Was mag dieser Doktor Kersky für ein Mensch? Wie alt? Hat er Erfahrung mit Angsthasen wie ich einer bin?

    Selbstverständlich hoffe ich, diesmal die ganze Untersuchung durchzuhalten.

    Meine Hände sind nach wie vor schweißnass. Ich beginne zu zittern. Wie will Doktor Kersky mir in den Mund schauen, wenn ich zittere wie Espenlaub? Ist mir kalt? Könnte sein.

    Entspanne dich, sage ich mir immer wieder vor. Wie soll ich bitte ruhig sein, wenn ich panische Angst habe? Meine Entspannung artet in das Hecheln einer schwangeren Frau aus. Zumindest glaube ich, dass eine Frau bei der Entbindung hechelt. Eigene Erfahrungen habe ich nicht gesammelt.

    Weshalb lassen die Zahnärzte ihre Patienten immer so lange auf diesen schrecklich unbequemen Stühlen halb liegend verweilen, bevor es zur Sache geht? Sie müssten doch wissen, dass das Stress pur bedeutet. Vielleicht sollte man die Frauen und Herren Doktoren einmal darauf hinweisen.

    Eine Tür öffnet sich in meinem Rücken. Mehr spüre ich den Windhauch, als dass ich das Geräusch wahrnehme. Gerade überlege ich, ob ich nicht aufspringen und das Weite suchen soll, als eine angenehme, freundliche Stimme sagt:

    „Guten Tag, Frau Osmani." Ein etwa vierzigjähriger Mann tritt auf mich zu und reicht mir die Hand.

    Zögernd strecke ich ihm meine feuchte Hand entgegen. Sie an der Hose abzuwischen bleibt keine Zeit. Ich schäme mich schon das erste Mal.

    Zaghaft murmle ich etwas von: „Guten Tag, Herr Doktor", und beiße die Zähne zusammen. Inzwischen habe ich beschlossen, den Mund nicht mehr zu öffnen.

    „Haben Sie irgendwelche Probleme?", kommt die Standardfrage.

    Selbst wenn ich welche hätte, würde ich ihm das nicht auf die Nase binden. Soll er doch selbst suchen! Ich nehme ihm die Arbeit gewiss nicht ab.

    Als ich nicht antworte fährt er im gleichen freundlichen Ton fort: „Also nur nachschauen, nehme ich an." Er setzt sich auf den Hocker neben meinem Stuhl und fährt den Hinrichtungsstuhl in die liegende Stellung. Passend für die Folter, die er mit mir vorhat.

    Für eine Flucht ist es nun definitiv zu spät. Ich gebe mich geschlagen!

    Meine Lippen fest zusammengepresst liege ich da und harre der Dinge, die unaufhaltsam auf mich einstürzen.

    „Entspannen Sie sich, Frau Osmani", redet er mir beruhigend zu. Er hat meine Angst also bemerkt. Und jetzt?

    Inzwischen hat er sich die Handschuhe angezogen, ebenso wie den Mundschutz. In der Hand hält er den kleinen, runden Spiegel, der ihm nichts an meinen Zähnen verheimlicht.

    Nein, ich mache den Mund nicht auf. Diesmal bleibe ich eisern, habe ich mir spontan vorgenommen. Verkrampft beiße ich die Zähne zusammen, Mein Kiefer schmerzt.

    Unbeweglich sitzt der Mann vor mir. Wie kann man als Zahnklempner überhaupt so viel Geld verdienen? Nur Sadisten werden Zahnärzte, fährt es mir durch den Kopf. Ich bekomme eine Gänsehaut.

    Als ich mich immer noch nicht rühre und ihn mit starren Blick, aber mit geschlossenem Mund anglotze, sagt er freundlich, jedoch bestimmt: „So, nun öffnen Sie den Mund, bitte." Er bittet mich sogar!

    Als von mir weiterhin keine Reaktion ausgeht, meint er sanft: „Frau Osmani, wenn sie den Mund nicht öffnen, kann ich Ihnen nicht sagen, ob alles in Ordnung ist. Und deswegen sind Sie doch da." Jetzt spricht er zu mir wie zu einem kleinen Kind. Die Situation wird immer peinlicher.

    Ich sehe ein, dass er am längeren Hebel sitzt, reiße schließlich den Mund groß auf und strecke ihm mein Gebiss entgegen.

    Er beginnt der Sprechstundenhilfe zu diktieren. Sie trägt alles fein, säuberlich auf mein Krankenblatt ein. Das nehme ich zumindest an. Er entdeckt so viel und hört nicht auf zu diktieren. Ich wusste gar nicht, dass es so schlecht um meine Zähne bestellt ist. In diesem Augenblick bereue ich, überhaupt hergekommen zu sein. Ich hätte diese Stunde angenehmer verbringen können, daran ändert selbst die schöne Musik nichts, die im Hintergrund spielt.

    Das Ende des Diktats bekomme ich nicht mehr mit. Einmal mehr falle ich in Ohnmacht.

    Als ich zu mir komme, ist der Stuhl verstellt, der Kopf tief nach unten, die Beine nach oben und Doktor Kersky, der mein Händchen hält und meinen Puls prüft.

    „Geht‘s wieder?", fragt die freundlich, besorgte Stimme des Zahnarztes. Wie oft wurde mir diese Frage schon von einem Dentisten gestellt? In meiner Todesangst hatte ich ganz vergessen Doktor Kersky darauf hinzuweisen, dass ich ab und zu ohnmächtig werde. Na ja, jetzt weiß er es, und außerdem ist es zu spät.

    Wenigstens kommt von Doktor Kersky kein Vorwurf oder ein unverschämtes Wort wie vor sechs Monaten bei einem Doktor Mangel. Der meinte mich darauf hinzuweisen zu müssen, dass bei meinen Zähnen verschiedentlich Reparaturarbeiten durchgeführt worden waren. Daraus folgerte er, dass ich daran gewöhnt sein müsste, dass in meinem Mund gearbeitet wird.

    Natürlich geht es wieder. Doktor Kersky hat schließlich noch andere Patienten außer mir. Das Blut durchflutet mein Gehirn und es arbeitet jetzt weitgehend normal.

    „Können wir weitermachen?, will der Zahnarzt wissen, „oder ist Ihnen eine Pause lieber? Bisher habe ich nichts entdeckt. Wir entfernen nachher noch den Zahnstein. Er hält es jetzt für angebracht, mir Erklärungen zu geben. Danke!

    Aber weshalb dann das lange Diktat? Darauf die Frage zu stellen verzichte ich. Das würde den Aufenthalt hier nur in die Länge ziehen und das möchte ich um jeden Preis vermeiden.

    Ich schaue ihn fragend an und antworte mit schwacher Stimme: „Sie können weitermachen."

    „Wir sind auch gleich fertig", verspricht er.

    Um möglichst schnell den Ort meiner Scham zu verlassen, reiße ich diesmal sofort den Mund auf.

    Doktor Kersky hat mir keine Märchen erzählt. Ziemlich schnell ist das Diktat beendet. Nun folgt die nächste Tortur, den Zahnstein entfernen. Aber ich muss tapfer sein.

    Wie schon andere Zahnärzte, unter deren Händen ich gelitten habe, beginnt auch er zu sprechen, während er Zahnstein entfernt, um mich von meinem Übel abzulenken. Der Dialog ist natürlich sehr einseitig. Ich kann nicht antworten. Alle Zahnärzte nützen das schamlos aus und versuchen einem die sieben Wahrheiten über Frauen- und Zahnarztpsychologie zu erklären. Zufrieden und grinsend stellt er schließlich fest, dass dies wohl der einzige Augenblick ist, in dem eine Frau schweigt. Soll ich lachen? Oder was? Am liebsten würde ich ihn mit den Augen töten, aber ich brauche ihn noch bis zum Ende meiner Behandlung.

    Dies war mein erster Besuch bei Doktor Kersky, und ich habe gleich eine schlechte Visitenkarte hinterlassen. Für mich ist das Kapitel abgeschlossen. In sechs Monaten oder besser, wenn ich das nächste Mal den Mut aufbringe, suche ich sicher einen anderen Zahnarzt heim.

    Noch kennen mich nicht alle Zahnärzte in München und Umgebung. Hier kann ich mich auf keinen Fall mehr blicken lassen. So viel steht jetzt schon fest.

    Mittwoch, 14. Oktober

    Ich denke, ich sollte mich kurz vorstellen, nachdem meine zweifelhafte Vorliebe für Zahnärzte jetzt bekannt ist.

    Mein Name ist Angelika Osmani, geborene Senn. Das Licht der Welt erblickte ich in Immenstadt vor fünfunddreißig Jahren. Gleich nach dem Abitur im neusprachlichen Gymnasium zog es mich aus dem Allgäu fort.

    Meine Vorstellungen über den Weg, den ich einschlagen wollte waren unklar und so genehmigte ich mir gegen den Wunsch meiner Eltern ein Jahr der Findung, man könnte es auch Auszeit nennen und ging 1996 nach London.

    Ich fand eine Au-pair-Familie und lernte sehr bald meinen zukünftigen Mann, den türkischen Studenten Mustafa Osmani kennen.

    Inzwischen konnte ich meine Findung beenden und begann Englisch und Türkisch zu studieren. Ich saß schließlich an der Quelle und hatte einen ausgezeichneten Lehrer in Mustafa.

    Zwei Jahre später heirateten Mustafa und ich in London. Eine kleine Feierlichkeit ohne Freunde und Familie.

    2006 erhielt Mustafa ein großartiges Stellenangebot in Istanbul. Wir verließen London in Richtung Bosporus-Metropole. Die pulsierende Stadt hatte es uns beiden angetan. Wir fühlten uns dort sehr wohl.

    Auch ich wollte mich beschäftigen und schrieb mich an der Universität ein. Wieder studierte ich Türkisch, aber auch Türkische Zivilisation. Nebenbei arbeitete ich als Fremdenführerin.

    Der Wunsch nach Kindern wurde uns nicht erfüllt. Mustafa erkrankte an Krebs und überlebte die Krankheit nicht. Im Jahr 2008 starb er. Unseren Traum und die Wünsche für die Zukunft nahm er mit.

    Schließlich brach ich 2009 meine Zelte in Istanbul ab und ließ mich in München nieder.

    Schnell fasste ich Fuß als Übersetzerin und Dolmetscherin. Ich konnte in kürzester Zeit die Prüfungen zur vereidigten Übersetzerin ablegen und war somit auch bei Gericht und offiziellen Institutionen zugelassen.

    So begann mein Leben in München unscheinbar als graue Maus.

    *

    Mittwochs ist mein Universitätstag.

    Ich arbeite freiberuflich als Übersetzerin und Dolmetscherin für Türkisch und Englisch.

    Damit mir nicht langweilig wird und ich meine grauen Zellen beschäftigen kann, habe ich eine Vorlesung in Altgriechisch belegt.

    Am Gymnasium musste ich Latein lernen. Weshalb soll ich jetzt nicht Altgriechisch in den Sprachreigen aufnehmen? Keiner versteht es wirklich. Nicht einmal ich selbst, aber ich habe meinen Spaß an den Vorlesungen.

    *

    An diesem Abend habe ich keine Lust nach Hause zu gehen und zu arbeiten und entscheide ich mich fürs Kino. Sofort nehme ich meinen Sitzplatz ein. Der Film beginnt in fünf Minuten. Ich ziehe die Zeitung aus der Tasche. Ich schleppe sie schon seit dem Morgen herum, ohne die Zeit gefunden zu haben, sie durchzublättern, geschweige denn darin zu lesen.

    Das Kino füllt sich. Ich bin immer noch beim „Klatsch aus aller Welt" als mich eine Männerstimme fragt, ob der Platz neben mir noch frei ist. Klar ist der Platz noch frei. Das muss die Stimme doch wissen, schließlich sind die Karten nummeriert. Trotzdem bejahe ich ohne aufzuschauen. Der Mann setzt sich. Schließlich wage ich doch vorsichtig einen Blick zur Seite. Ist es weibliche Neugier? Ich weiß es nicht. Dann durchfährt es mich wie ein Stromschlag.

    Nein, diesmal fällst du nicht in Ohnmacht, befehle ich mir sofort. Du willst den Film sehen. Ich hoffe, er erkennt mich nicht wieder. Wie peinlich! Wäre es nicht zu auffällig, würde ich auf der Stelle den Sitzplatz verlassen. Noch sind genügend andere Plätze frei. Doch ich unterlasse es und hoffe auf mein Glück. Schon wendet er sich mir zu und lächelt mich an:

    „Na, so eine Überraschung. Wie geht es Ihnen denn?"

    Er hat mich erkannt! War das nötig? Ich meine, ein Zahnarzt hat so viele Patienten. Der kann sich doch nicht an alle erinnern. Wobei ich sicherlich keine alltägliche Patientin bin. Selbst auf der Straße und in der Freizeit ist man vor Zahnärzten nicht mehr sicher. Mach das Beste aus der schrecklichen Lage, beschwöre ich mich. Ich lächle ihm tapfer zu.

    „Guten Abend, Herr Doktor. Ja wirklich ein Zufall!", dass es ein schauderhafter ist, behalte ich für mich. War seine Frage eine Anspielung auf den Vorfall von vorgestern? Ich muss etwas Nettes erwidern und so füge ich hinzu:

    „Seien Sie unbesorgt. Es geht mir wieder gut."

    „Ja, meint er lächelnd, „schon erstaunlich. Viele haben zwar Angst vor unserer Berufsgruppe, aber wenige reagieren so heftig wie Sie.

    Das achte Weltwunder oder was? Ich wage aber nicht den Gedanken auszusprechen. Schließlich habe ich mich in der Praxis schon lächerlich genug gemacht.

    Die Werbung beginnt. Wir schweigen. Ich bin froh, als das Licht ausgeht. Endlich kann ich mich entspannen.

    Nach der Werbung wird es nochmals hell im Saal. Doktor Kersky steht auf und verlässt den Saal. Kurz darauf kehrt er mit einer Packung Schokolade zurück, die er mir mit den Worten anbietet:

    „Hier ein kleines Trostpflaster für vorgestern und um Ihnen zu zeigen, dass Zahnärzte auch Menschen wie du und ich sind."

    Jetzt bin ich beschämt und erstaunt, aber mich reitet ein Teufelchen und so sage ich: „Tausend Dank. Ist das denn gut für die Zähne?, dabei grinse ich ihn wie ich glaube frech an. Und dann: „Das Trostpflaster akzeptiere ich aber nur, wenn Sie es mit mir teilen.

    „Schokolade ist natürlich nicht sonderlich gut für die Zähne, da haben Sie Recht, gesteht er ein, „aber Sie putzen Ihre Zähne so ordentlich, dass ich keine Gefahr sehe, wenn Sie sich ab und zu Schleckereien genehmigen. Außerdem, denken Sie an die Glückshormone, die Schokolade vermittelt. Er lächelt.

    Ja, von den Glückshormonen in Schokolade hatte ich auch schon gehört, aber nicht, wenn dieser Mann neben mir sitzt. Aber das sage ich natürlich nicht.

    Der Universitätstag am Mittwoch ist normalerweise mein Fastentag. Doch heute will ich eine Ausnahme machen. Ich öffne die Schokolade und halte ihm die Packung hin. Er akzeptiert und nimmt das erste Stückchen. Wir teilen die Packung Glückshormone. Besser wird mein Gemütszustand jedoch nicht.

    Das Licht wird wieder gelöscht. Der Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu" beginnt.

    Ich bin immer noch durcheinander und kann mich anfangs nicht auf den Film zu konzentrieren.

    Der Film nimmt mich gefangen. Aber das ist jetzt nicht mein Hauptproblem. Neben mir sitzt nämlich immer noch Herr Doktor. Nachdem ich die Schokolade angenommen habe, muss ich mich jetzt vielleicht revanchieren? Kann ich einfach am Ende des Films aufstehen, auf Wiedersehen sagen und von dannen ziehen? Oder sollte ich fragen ob er noch im „zum neuen Alten Hut", der gleich um die Ecke ist, etwas trinken möchte? Ich bin noch ganz und gar mit diesem Problem beschäftigt, als es im Saal hell wird. Bevor ich zu einer Entscheidung komme, schaut Doktor Kersky mich lächelnd an und fragt:

    „Haben Sie schon was vor oder darf ich Sie zu einem Absacker einladen?"

    Ich hätte verneinen können und dann ganz einfach nach Hause gehen. Aber schon höre ich mich antworten:

    „Nein, ich habe nichts vor. Gegen einen Absacker ist nichts einzuwenden. Aber von Einladen kann keine Rede sein."

    „Also gut. Wohin gehen wir?"

    „Der „Zum neuen Hut" ist nicht weit. Wenn Sie gerne Bier trinken, können wir dort einkehren.

    „Gute Idee. Trinken Sie Bier?"

    Ich bejahe die Frage. Ich kann mir, wenn wir dort sind, Mineralwasser bestellen, denn ich trinke grundsätzlich keinen Alkohol. Er schmeckt mir nicht und ich mache mir nichts daraus. Viele Leute können das nicht verstehen. Es hat auch nichts mit Mustafa und meinem Leben in Istanbul zu tun. Es ist einfach so.

    Schweigend schlendern wir bis zum „Zum Neuen Hut". Dort ist es ganz nett, wenn man das Glück hat einen Platz, auch Stehplatz, zu finden. Sie haben meist gute Musik. Zumindest für meinen Geschmack

    Ich wohne um die Ecke und gehe abends ab und zu alleine oder mit Freunden dorthin.

    Obwohl es Wochenmitte ist, finden wir die Kneipe gut gefüllt vor. Wir klingeln,

    werden eingelassen und drängen uns an ein kleines Plätzchen. Mein Zahnarzt bestellt sich ein Pils. Als ich mich für Mineralwasser entscheide, ist er erstaunt.

    „Mögen Sie gar kein Bier? Wir hätten auch in ein Weinlokal gehen können."

    „Nein, das ist schon in Ordnung. Ich finde es zünftig hier. Um mich brauchen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen. Ich trinke keinen Alkohol? Aber trotzdem Prost!"

    In der Zwischenzeit haben wir unsere Getränke bekommen.

    „Auf Ihr Wohl. Ich heiße übrigens Markus. Nachnamen und Beruf kennen Sie ja."

    Auch den Vornamen kenne ich. Der steht auf seinem Schild vor dem Gebäude und auch am Eingang zur Praxis. Trotzdem sage ich: „Angelika. Auf Ihr Wohl, Markus! Mit Wasser stößt man zwar nicht an, aber Sie machen vielleicht eine Ausnahme. Nicht wahr?"

    „Freilich, gerne!"

    Danach schweigen wir einen Augenblick und betrachten die anderen Gäste.

    Ich darf nicht länger schweigen, sonst wird es unangenehm. Und so sage ich:

    „Für einen Mittwochabend ist ziemlich viel los", was für ein Gelaber habe ich nur. Wie schrecklich ist Smalltalk.

    „Mich stört es nicht. Ist doch urig. Sagen Sie mal, Angelika, wie hat Ihnen der Film gefallen?"

    Sofort fällt mir auf, dass Markus nicht die deutsche Gewohnheit aufnimmt und mich sofort duzt, als er mich mit dem Vornamen anredet. Ein Pluspunkt! Ich habe nie verstanden, weshalb man sich gleich duzen muss, nur weil man vom Nachnamen auf den Vornamen wechselt.

    „Gut! Das Heimleben dieser Kinder war sehr schwierig. Schon unglaublich wie hart mit den Kindern umgegangen wurde. Die Aufnahmen sind schön. Die Geschichte mit Abhandlung gut. Der Film war schön. Es hat sich gelohnt."

    Markus hört mir anscheinend interessiert zu und gibt mir jetzt Recht:

    „Ja, so sehe ich es auch. Ein Freund hat mir den Film empfohlen und ich muss sagen, es war ein guter Rat. Ganz ehrlich, ich war begeistert."

    „Sagen Sie mal Angelika, in diesem Augenblick befürchte ich, er würde wieder auf mein Missgeschick zurückkommen und überlege, was ich zu meiner Entschuldigung vortragen kann. „Sie sind doch auch nicht aus München. Wo kommen Sie denn her? Wenn man das fragen darf?, wechselt er überraschend das Thema.

    „Echte Münchner gibt es heute fast keine mehr. Sind doch alle Zuagroaste. Ich versuche den Münchner Dialekt nachzuahmen. Gelungen ist mir das jedoch nicht. „Wo soll ich schon herkommen? Aus dem Allgäu!, sage ich, als wäre es das Normalste der Welt.

    Jetzt schaut mich Markus ungläubig an. Zunächst scheint er sprachlos, aber er fasst sich und gesteht ein:

    „Das verblüfft mich. Ich kenne zwar die Gegend nicht sonderlich gut, aber als Dortmunder hätte ich Sie eher nach Norden versetzt. So kann man sich täuschen. Ihre Eltern stammen aber aus dem Norden?"

    „Nein. beide waschechte Allgäuer. Und wenn ich dort bin und mit den Leuten spreche verfalle ich ganz automatisch in den Dialekt. Aber machen Sie sich nichts daraus, die meisten zweifeln, wenn ich verrate woher ich komme."

    Markus bestellt sich noch ein Wasser und wir unterhalten uns über München und seine Bewohner. Obwohl er von Dortmund ist, fühlt er sich in München wohl und kann sich nicht vorstellen in einer anderen Stadt zu leben. Ich gebe ihm Recht. München ist zwar eine große Stadt, aber im Gegensatz zu anderen Großstädten scheint sich die Hektik noch nicht ausgebreitet zu haben.

    Einhellig stellen wir fest, dass wir zwar Zuagroaste sind, uns aber als Wahlmünchner gut integriert haben.

    Inzwischen ist es Mitternacht geworden. Zeit den Heimweg anzutreten.

    „Darf ich Sie nach Hause bringen", bietet mir Markus an, doch ich lehne ab:

    „Nein danke. Nett von Ihnen, aber ich wohne hier um die Ecke."

    „Das macht nichts. Ich bringe Sie trotzdem bis an die Tür, damit Ihnen nichts zustößt. Oder sind Sie mit dem Auto da?"

    Ich schüttle den Kopf:

    „Nein, das lohnt sich nicht. Es sind nur fünf Minuten. Bis ich das Auto aus der Garage hole und anschließend einen Parkplatz suche, noch dazu hier in Schwabing, bin ich zu Fuß schon längst am Ziel. Außerdem so gerne fahre ich nicht Auto und mit dem Einparken klappt es auch nicht immer."

    Er lacht. „Dazu sage ich lieber nichts. Dann mache ich den kleinen Spaziergang mit Ihnen und versichere mich, dass Ihnen auf dem Nachhauseweg nichts zustößt."

    Ha, ha, dass ich nicht lache, schmunzle ich in mich hinein. Zu der Anspielung sage ich nur: „Warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können."

    „Ja, dieses viel zitierte Buch", seufzt er nur.

    Zu mir selbst sage ich nun: ‚Ich fühle mich überall sicherer als in den Händen eines Zahnarztes.‘

    Aber ich gebe mich geschlagen und lasse ich begleiten. Schließlich gehe ich nachts nicht gerne alleine durch die Straßen, wenn ich ganz ehrlich bin.

    Die paar Schritte bis vor meine Haustür legen wir schweigend zurück. Jeder in seine Gedanken vertieft.

    Im Augenblick gehe ich davon aus, dass der Umtrunk im Neuen Hut ein Höflichkeitsakt war, nachdem wir zufällig nebeneinander im Kino saßen. Natürlich hoffe ich, dass er so wenig von mir will, wie ich von ihm. Denn er gehört nicht zu der Art Männerbekanntschaft, die ich mir wünsche.

    Ich habe keinesfalls vor, ihn jetzt zu einem Kaffee und vielleicht noch mehr einzuladen, Da könnte jeder kommen! Und dann auch noch ausgerechnet ein Zahnarzt. Ich würde meine Alpträume nie mehr loswerden!

    So kommen wir vor meinem Haus an.

    „Hier wohne ich. Nochmals vielen Dank fürs Nachhause bringen, Schokolade und Wasser."

    Im „Neuen Hut" hat er darauf bestanden zu bezahlen. Schließlich habe er die Idee gehabt. Ich musste mich geschlagen gegeben. Eine Wiederholung dieses Tête-à-tête wird es nicht geben.

    „Das war gar nichts. Herzlichen Dank, dass Sie den Abend mit mir verbracht haben, Angelika. Vielleicht können wir uns ein anderes Mal gemütlich zusammensetzen", schlägt er vor

    „Ja, es war ein netter Abend. Können wir wieder mal machen", antworte ich. Das mit der Wiederholung meine ich nicht ernst, aber das brauche ich ihm ja nicht auf die Nase zu binden. Er wird es schon noch selbst herausfinden. Er ist zwar ein netter Mensch und auch recht sympathisch, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er Zahnarzt ist. Für mich ein absolutes No Go.

    „Wissen Sie was?, sagt er fröhlich, „ich gebe Ihnen meine private Telefonnummer, dann können Sie mich abends zu Hause anrufen. In der Praxis ist es nicht einfach, während der Behandlung von Patienten...

    „... besonders einem wie mich, unterbreche ich scherzend und, „zum Glück gibt es nicht viele wie mich, sonst wären die Zahnärzte alle reif für den Psychiater.

    „Na, so schlimm ist das nicht. Bei Ihnen passiert das alles nur hier drin. Mit der Hand fasst er sich an die Stirn. „Hier meine Visitenkarte mit meiner Privatnummer und –Adresse, E-Mail und Handynummer. Für Notfälle und auch sonst. Er lächelt mich freundlich an.

    „Gut, sage ich und stecke seine Karte unbesehen in die Manteltasche. Meine Karte bekommt er nicht. Ich habe im Augenblick auch gar keine dabei. „Danke schön. Ich melde mich ganz bestimmt. Warum muss man nur immer so heucheln? Ich will ihm nicht hier auf offener Straße in einer kalten Oktobernacht ins Gesicht sagen, dass ich gar nicht daran denke, ihn anzurufen. Also füge ich noch hinzu:

    „Dann gute Nacht und kommen Sie gut nach Hause."

    „Ja, gute Nacht." Damit dreht er sich um und geht den Weg zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen.

    Sollte er gehofft haben, dass ich ihn zu mir einlade, hat er sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen, als ich es nicht tat. Vielleicht hat er auch nichts von alledem erwartet und ich habe mich getäuscht und mir etwas eingebildet. Das soll vorkommen.

    Frierend gehe ich ins Haus und schließe meine Wohnungstür auf. Zuerst brauche ich einen Tee, ich bin bis auf die Knochen durchgefroren. Wie kann man bei dem kalten Wetter nur auf der Straße herumstehen?

    Die Visitenkarte krame ich zusammen mit einem gebrauchten Papiertaschentuch aus der Manteltasche. Das Taschentuch landet im Müll, die Visitenkarte immerhin auf dem überfüllten Schreibtisch.

    Montag, 2. November

    Am späteren Vormittag verlasse ich das Haus nur, weil mir der Kühlschrank leer entgegen gähnt. Zwar esse ich nicht viel, aber ab und zu habe ich doch gerne etwas zum Kauen zwischen den Zähnen. Ich gehe einkaufen. Eine Beschäftigung, die nicht zu meinen liebsten zählt. Bewaffnet mit Einkaufsliste und Einkaufwagen ziehe ich los.

    *

    Den Nachmittag verbringe ich zu Hause am Schreibtisch. Der biegt sich unter der Last. Bin ich zu faul oder nehme ich zu viele Aufträge an? Ich weiß es nicht. Über Arbeitsmangel kann ich nicht klagen. Jetzt fallen nicht nur Übersetzungen an, sondern ich bekomme inzwischen ziemlich viele Aufträge von einem Verlag Texte Korrektur zu lesen.

    Ich habe nichts Besonderes vor und beschließe, auch den Abend am Schreibtisch vor dem Computer zu verbringen.

    Es läutet. Erschreckt fahre ich zusammen. Meldet sich ein schlechtes Gewissen bei mir? Das Telefon! Wo ist das Telefon? Immerhin erkenne ich, dass es nicht das Festnetztelefon, sondern das Handy ist. Mist! Wo habe ich das Handy abgelegt? Ach, waren das noch Zeiten, als man der Schnur nachwandern konnte und irgendwann auf das lästige Gerät stieß!

    Auf diese Schnur kann ich jetzt nicht bauen. Das Klingeln macht mich immer nervöser. Hoffentlich entdecke ich das Handy bevor die Mailbox antwortet Da! Endlich finde ich das Teil zwischen meinem Papierkram. Druck auf den grünen Hörer und:

    „Ja, bitte!" Ich melde mich nie mit dem Namen, weil es immer wieder Irre gibt, die am Telefon ihre Beleidigungen ob meines türkisch klingenden Familiennamens loswerden wollen. Oder anzüglich werden, weil ich eine Frau bin.

    „Spreche ich mit Frau Osmani?"

    „Am Apparat."

    „Guten Abend, hier Kersky."

    Mein Herz kommt beinahe zum Stillstand. Was will er denn von mir? Und außerdem, woher hat er meine Telefonnummer? Ich hatte sie ihm doch gar nicht gegeben. Aber so genau kann ich mich im Augenblick nicht erinnern. Was soll’s?

    Die Visitenkarte! Zerstreut beginne ich auf dem Schreibtisch danach zu stöbern.

    „Guten Abend, Markus. Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es Ihnen?" Ich will nicht lügen, deshalb behaupte ich nicht, dass ich vorhatte ihn anzurufen, aber die Nummer verlegt hatte. Es ist wohl besser kein leeres Gerede vom Stapel zu lassen.

    „Danke gut, antwortet er auf meine Frage. „Wie geht es Ihnen? Ich störe doch hoffentlich nicht?

    Es ist kurz nach neun. Eine kleine Pause kann nicht schaden, deshalb erwidere ich:

    „Nein, Sie stören nicht, im Gegenteil, das ist eine angenehme Abwechslung." Ist es das wirklich? Weshalb sage ich den Quatsch?

    „Eigentlich wollte ich Sie fragen ob Sie nicht mal Lust hätten mit ins Theater, Konzert oder einfach zum Essen zu gehen. Da Sie mich bisher nicht angerufen hatten, wurde mir die Wartezeit zu lange. Ihre Telefonnummer habe ich in der Praxis herausgesucht. Es bereitet Ihnen doch keine Unannehmlichkeiten?"

    Wie war das noch mit dem Berufsethos? Ärzte sollten ihre Patientinnen nicht anbaggern? Aber wahrscheinlich rechnet er nicht mehr damit, dass ich weiterhin seine Patientin sein will. Schließlich muss er mitbekommen haben, dass ich einen häufigen Wechsel bei Zahnärzten vorweisen kann.

    Schließlich sage ich: „Oh, nein, wirklich nicht. Ich war in meine Arbeit vertieft und habe gar nicht bemerkt wie die Zeit vergeht. Eine Pause tut mir gut."

    „Sie arbeiten noch um diese Zeit? Sagen Sie, dann haben Sie noch gar nicht gegessen. Soll ich Sie in einer halben Stunde abholen und wir essen etwas Kleines?"

    Das ist so spontan und klingt so ehrlich. Ich bringe nicht den Mut auf, nein zu sagen. Er ist immerhin ein netter Mensch. Zahnarzt zwar, aber trotzdem nett. Wir verabreden uns für zehn Uhr abends. Er wird läuten, wenn er angekommen ist.

    Das übliche Problem, das sich mir in einem solchen Augenblick stellt, ist: Was ziehe ich an? Ein Mann würde sagen: typisch Frau. Ich entscheide mich für eine rote Jeans, den schwarzen Rolli und schwarze Schuhe. Verfroren, wie ich seit jeher bin, kann ich mich selten warm genug anziehen. Haare bürsten und fertig bin ich. Zum Glück hatte ich meine Haare heute Nachmittag gewaschen. Gerade fülle ich die nötigen Utensilien in die kleine Handtasche, als es klingelt. Über das Haustelefon erfahre ich, dass Markus unten steht.

    „Ich komme sofort." Schnell Mantel überziehen, noch einen Blick in den Spiegel, Handtasche und raus. Halt! Wo sind die Schlüssel? Glücklicherweise hatte ich sie heute Morgen nach dem Einkaufen an den für sie vorgesehenen Haken gehängt. Nichts wie raus! Ich hasse es, Leute warten zu lassen. Darin bin ich typisch Deutsch.

    Er wartet unten neben der Haustür als ich hinausstürze. Sofort tritt er auf mich zu und drückt mir die Hand. Wie kann man bei dieser Kälte nur so warme Hände haben? Das verstehe ich nicht. Und dann der Händedruck! Das ist mir in der Praxis gar nicht aufgefallen. Auf jeden Fall spürt man, dass man jemandem die Hand gegeben hat. Nicht, dass er einem die Hand zerquetscht. Nein gerade so, dass man den Druck gut spürt.

    „Nochmals guten Abend. Freut mich, dass Sie nicht nein gesagt haben. Sollen wir mit dem Auto fahren oder zu Fuß gehen?" fragt er mich.

    „Ganz wie Sie wollen. Wenn Sie einen guten Parkplatz gefunden haben, ist es vielleicht besser zu Fuß zu gehen." Ich habe eine Parkplatzmanie. Jedes Mal, wenn ich irgendwo hinfahren muss überlege ich vorab wie wohl die Chancen stehen, dass ich einen Parkplatz bekomme in den ich einparken kann.

    Er schaut mich mitleidig an und meint: „Ihnen ist offensichtlich kalt. Wir nehmen das Auto. Dann können wir immer noch überlegen wohin es gehen soll."

    Schon stehen wir bei seinem Wagen, einem Golf. Höflich wie er ist, hält er mir die Beifahrertüre auf. Schon lange her, dass ich so verwöhnt worden bin. Wann war das überhaupt? Er geht vorne um das Auto, öffnet seine Türe und setzt sich neben mich.

    Gut sieht er aus. Aber das ist nichts Neues. Wäre ich nicht so nervös gewesen, es hätte mir schon in der Praxis auffallen können. Etwa vierzig, aber das habe ich schon erwähnt. Ungefähr zehn Zentimeter größer als ich und ich bin eins achtundsechzig groß. Schlank. Dicke Männer haben mich noch nie gereizt. Die aschblonden Haare stehen in einem Bürstenschnitt auf dem Kopf. Wie macht er es nur, dass er noch kein graues Haar hat? Wunderschöne, blaue Augen, die hinter einer Nickelbrille versteckt sind. Diese schönen Augen konnte ich auch schon während der Behandlung eingehend betrachten. Das Gesicht ist leicht rundlich. Am Abend im „Neuen Hut" konnte ich öfters ein verschmitztes Lächeln darauf erkennen.

    „Und was nun?, reißt er mich aus meinen Gedanken. „Worauf hätten Sie Lust? Was würden Sie gerne essen?

    „Das sind zu viele Fragen auf einmal. Meine Entscheidungsfreudigkeit ist um diese Zeit sehr eingeschränkt. Sicher ist, ich persönlich werde nur ein bisschen essen. Ein kleiner Salat oder so. Ich richte mich ganz nach Ihnen."

    Worauf er antwortet: „Salat. Nicht schlecht! Wir sitzen schon im Auto. Auf zum Lenbachplatz!"

    „Sie sitzen am Steuer."

    Er startet. Wir fahren zum Lenbachplatz. Auf der Fahrt habe ich nochmals Gelegenheit festzustellen, dass Markus durchaus gut und sympathisch aussieht. Was mir schon beim letzten Mal auffiel, sind seine ausgesprochen schönen Hände. Durchaus kräftig, aber die Finger lang und knochig. Sein Gesichtsausdruck hat auch jetzt das verschmitzte, lausbubenhafte Lächeln. Also alles in allem wirklich kein Mensch, der einen Angst einjagen sollte. So wie sein Verhalten bisher war, ist es auch heute. Während des Anrufs, hat er offen und ehrlich geklungen. Genauso sieht er auch aus. Man möchte Vertrauen zu ihm zu haben. Ich bin wieder in Gedanken vertieft. Das Schweigen, das herrscht, fällt mir nicht auf. Als er spricht, schrecke ich beinahe zusammen.

    „Ich habe Ihnen hoffentlich wirklich keine Unannehmlichkeiten gemacht als ich anrief?", höre ich ihn sagen. „Erst als es schon läutete, kam mir die Idee, Sie wollten vielleicht gar nicht, dass ich anrufe. Sie hatten mir Ihre

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