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Mel: Unter ständiger Beachtung
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eBook289 Seiten4 Stunden

Mel: Unter ständiger Beachtung

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Über dieses E-Book

Mel, der eigentlich Melchior heißt und Schreiner ist, zieht sich nach der schmerzhaften Trennung von der "gemeinen Anna" in ein abgeschiedenes Häuschen am See zurück. Er hat gerade angefangen, sich an die Einsamkeit zu gewöhnen, als plötzlich sonderbare Dinge geschehen. Was er nicht weiß und was ihm auch niemals in den Sinn gekommen wäre, ist, dass der Tod ihn beobachtet.
Der Tod kennt Mels Gedanken, noch ehe er sie denkt. Er weiß, was Mel im Schlaf träumt, aber er sieht auch, wie die Tiere ihn lieben, und er beobachtet den Sex mit diversen Frauen. Dennoch bleiben ihm Mels Gefühle ein Rätsel, während er von Mels Unbekümmertheit gegenüber seinen Attacken fasziniert ist.
Wenn Mel traumlos schläft, dann beobachtet der Tod andere Menschen aus dem Roman. So erfahren die Leserinnen und Leser viel mehr über die Personen, die Mel umgeben, als er selbst.
Wenn Mel etwas denkt oder tut, was den Tod an andere Personen erinnert, die er früher begleitet hat, dann er erzählt er den Leserinnen und Lesern diese alten Geschichten. Sie handeln von glücklichen Menschen, von schweren Schicksalsschlägen, aber auch von skurrilen Begebenheiten, die teilweise Hunderte von Jahren zurückliegen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Juli 2015
ISBN9783738034752
Mel: Unter ständiger Beachtung

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    Buchvorschau

    Mel - Hans Landthaler

    Kapitel 1 Am See

    Wenn ich meine Sichthöhe der seinen angleiche, ihm quasi über die Schulter sehe, habe ich das identische Blickfeld.

    Die äußere Fensterbank, über die hohen Kaktusdahlienbüsche. Die weite, feuchte Wiese zum See ist nicht zu sehen, so hoch ragt das blonde Schilf direkt hinter den Dahlien empor. Darüber blinkt der See in einem silbernen Streifen, abschließend zum Horizont das fast schwarze Grün des Eichenwaldes.

    Er sitzt unbeweglich, gerade im Rücken, an dem kleinen Holztisch vor dem Fenster.

    Der Himmel, weiß, dunstig, ab und an schafft es ein Sonnenstrahl aus der Milchigkeit. Dunkles Summen gibt er von sich, keine Melodie, eher ein Beruhigungsbrummen. Er hat die horizontalen Linien des Fensterbildes fest im Blick. Die beginnende Linie im Bilde, ergibt die äußere Kante des Ziegelfenstersims. Die Nächste ist die Blütenreihe der gelben, orangenen Dahlienblüten, es folgt das brünette–blonde Band der Schilfkolben, der spiegelnde Wasserstreifen des Sees, der Waldgürtel und endlich der stumpfweiße Horizont. Vor und zurück gleitet sein Blick, bleibt da oder dort hängen, beginnt wiederum von vorne. Sitzt er so versunken, flach im Atem, spürt er manchtags eine Katze um seine Beine streichen. Er denkt sich manchmal eine, aber wirklich will er keine Katze.

    Fast mechanisch greift er immer wieder in die hölzerne Schale auf dem Tisch, drückt in einer Faust zwei Walnüsse fest gegeneinander, bis eine bricht, oft bersten beide. Ein Brocken von dem harten, würzigen Käse, dazu ein Stückchen Nuss und dies zerkaut im Munde, spült er mit einem vorsichtigen Schluck des roten Weines in den Magen. Der helle, sonnenstrahl-gestreifte Raum duftet schwer nach diesen Nüssen, deren Kerne aussehen wie kleine Gehirne. Ein bauchiges Netz, gefüllt, kiloweise mit diesen Nüssen, hängt an einem Nagel im Rahmen der klobigen Eingangstüre.

    Staubgetrocknete Regentropfen filtern das Licht durch die Glasscheibe des Fensters, sodass er nicht geblendet wird, wenn die Sonne einen Wolkenspalt findet, um das kleine Haus zu treffen. Ein Haus, in dessen Sichtweite ein See, war Bedingung, ebenso ein Nussbaum in der Nähe. Ein Walnussbaum hält Insekten fern, ein Haus am See ist kurzweilig, man ist allenthalben in sein Geschehen einbezogen, stört nicht in freiwilliger Einsamkeit und die Nähe eines Dorfes bedeutet eine gewisse Sicherheit im Rücken. Er hat sein Denken soweit reduziert, dass es ihn nicht anstrengt. Denkt: frische Nuss, würziger Käse, fruchtiger Wein, denkt: passt gut zusammen und manchmal denkt er eben an eine Katze. Dieses verminderte Denken war der zweite Schritt, der Erste, sich den Menschen zu entziehen, und dazu brauchte er dies Haus, um sich zu reformieren.

    Kein Fernsehen – ein Radio, kein Telefon – ein Handy, kein Auto – ein Fahrrad, keine Frau – verflossene Geliebte. Er negiert die Jahre, hat seinen Körper längst akzeptiert und er hat schon seit über einer Woche mit niemand mehr gesprochen, nur geredet, bei seinen letzten Einkäufen. Er raucht nicht, trinkt aber. Er ist kein Säufer, doch ein Trinker.

    Das Ausschlaggebende war der See, der seine Einsamkeit in Grenzen hält, nicht zur Einsamkeit wachsen lässt. Ein kleiner See, ehemaliger Baggersee, drei Fußballfelder zusammen genommen die Größe. Sein Haus ist das Einzige in der Nähe des Wassers. Nur die Kirchturmspitze kann er vom Dorf sehen und dies auch nur im laublosen Winter.

    Der See wird von unterirdischen Quellen gespeist, ist Vogelschutzgebiet, doch badet er darin, wenn ihm danach ist, angelt jedoch nicht, wie manchtags diese Männer gegenüber, sein Ufer ist tabu für Menschen. Die Enten und Schwäne haben nichts dagegen, wenn er zwischen ihnen schwimmt. Kleine Entenküken hat er schon einmal mitgenommen, ruhend auf seinem Rücken, schwamm eine Runde.

    Er mag die Tiere, dennoch isst er sie. Enten, Fische, nur keine Schwäne. Das tote Getier kauft er vom Bauernhof. Er kauft dort Getier, Eier, Milch, Butter, Käse und Brot, Gemüse, Grundnahrungsmittel, sogar den Wein. Nur Walnüsse kauft er nicht, die hat er selbst. Bei der Bäuerin kauft er, in ihrem Hofladen, der allerdings nur zweimal die Woche geöffnet hat. Sie mag ihn gut leiden, er ist etwas Besonderes in ihren Augen, lebt er doch allein im Seehaus. Er findet sie angenehm, freundlich, gemächlich; gesund sieht sie aus, rosa, ist allweil bereit zu lachen. Eines Tages fragte sie ihn, ob er ein Sonntagshuhn wolle – ein besonders großes, eines nicht für jeden Tag, meinte sie – er antwortete darauf, dass er für sein Rezept nur ein Montagshuhn gebrauchen könne. Nach einer kleinen Denkpause, in ihrem runden Kopf, schmunzelte sie ihm ein: „Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen zu und er stürzte aus dem Laden, weil sein Lachen nicht mehr zu halten war, weil er gedacht, „wenn ich die auf den Arm nehmen könnte, dann könnte ich auch ein Auto tragen. Sein Lachen amüsierte sie sehr, ihres ihn.

    Er hat sich zu viel Käse geschnitten, dafür zu wenig Brot, so nimmt er zu einem Würfel Käse jeweils nur ein Schnippchen Brot, was ihn stört, aber nicht animieren kann, aufzustehen, um mehr Brot zu holen. Noch immer hält er das Fensterbild im Blick, lässt sich tief aus seiner Kehle summen. Er hat herausgefunden, dass, wenn er mit offenem Munde brummt, er die Töne im Kehlkopf spürt, bei geschlossenem, direkt unter dem Brustbein und der Hals vibriert mehr, als wenn er die Töne direkt ins Freie entlässt.

    Der Rauchsäule am Fischerufer gilt nun sein Interesse. Er holt den Feldstecher aus der Tischschublade, beugt sich vor, öffnet das Fenster, besieht sich den Fischer und seine Frau. Den Sommer über lebt dieser Mann an wechselnden Stellen des gegenüber liegenden Ufers um zu fischen. Die Frau kommt nur sporadisch, um mit dem Mann zu essen oder ihn mit seiner Beute zu fotografieren. Hat der Fischer einen gewichtigen Fisch gefangen, so in der Größe seines Oberkörpers, dann ruft er per Handy seine Frau, die ihn sodann knipst. Kniend im Schilfdickicht, den empörten Fisch vor seine Brust haltend, verwegen drein blickend, wird der Mann dann abgelichtet. Öfter sind schwere Kämpfe mit dem Fisch zu bestehen, bis er endlich in Position ist. Anschließend wird er wieder in den See entlassen. Löst der Fischer den Haken aus dem beleidigten Fischmaul, achtet er darauf, dass nicht schon ein Hakenloch vorhanden ist, denn er hat den einen oder den anderen Karpfen schon bis zu vier Mal gefangen. Nur, wenn es ein neuer Biss ist, wird fotografiert.

    Die Frau hat grellrotes, gefärbtes Kringelhaar, das sie aufgesteckt trägt und an den Federschopf einer Mandarinenente erinnert. Er kann sie ohne Glas erkennen, eine winzige rote Flamme, die das Ufer entlang tanzt, und wegen dieser Frau zeigt er den Mann nicht bei der Polizei an, weil dieser verbotenerweise campiert, Feuer macht und fischt. Er betrachtet sie gerne mit dem Fernglas, wenn sie nackend vor dem Zelt sitzt und ihren Hund bürstet. Der Mann hat einen weißen Bullterrier mit einem braunen Flecken auf dem Rücken, so dass es aussieht als hätte er einen kleinen Sattel aufgeschnallt. Sie ist das Frauchen eines pechschwarzen Kampfhundmischlings. Die Frau trägt spitze Brüstchen, hat Kinderbeine und keine Pussyhaare. Sie erregt ihn beim Betrachten, doch um dabei zu onanieren, ist sie ihm zu sympathisch. Der Fischer wird etwas jünger sein als die an die vierzig geschätzte Frau. Er gestaltet sich ähnlich einem südamerikanischen Indio. Kahlköpfig, schlitzäugig, schlank, muskulös, zäh, kupferfarben, mit bedächtigen, doch flinken Bewegungen. Man kann ihn weder nackt, noch in dem militärischen Tarnanzug, den er meist trägt, im Ufergebüsch erkennen, nur der weiße Hund verrät ihn.

    Diese Fischers sind ohne Arbeit und sie essen keinen Fisch. Er brät sich Fleisch, legt Kartoffeln ins Feuer und Gemüse auf den Rost für sie. Sie sitzt in ihrem Stühlchen, ein Heft auf ihren Knien, schreibt darin herum, hält ab und an inne, um nachdenklich über den See zu blicken, direkt zu ihm, der sich daraufhin instinktiv vom Fenster duckt, obwohl sie ihn von drüben gar nicht erkennen kann. Er stellt sich gerne vor, dass sie Schriftstellerin ist, doch wahrscheinlich betreibt sie ein Tagebuch.

    Manchmal begebe ich mich mitten unter diese Menschen und nicht mal die Hunde können mich fühlen. Wie auch.

    Für Leute, die von Arbeitslosengeld und von Sozialhilfe leben, leben sie ganz gut. Sie fährt ein kleines Auto, er ein großes, seine Anglerausrüstung ist vom Feinsten, und sie trägt andauernd neues Schuhwerk mit hohen Absätzen, sogar an ihren roten Gummistiefelchen.

    Sie sprechen nicht viel miteinander und wenn, dann streiten sie über Geld oder die Hunde. Er sieht von Nahem lange nicht so indianisch aus und sie nicht so jugendlich, wie sie ihm durch sein Glas erscheinen. Er hat sich Rotwein nachgeschenkt und stellt sich vor, was drüben gesprochen wird. Tja. Nie beobachtet er lange, eine Minute, höchstens zwei Minuten. Wenn er sich dieses Duo betrachtet, denkt er nicht, dass er allein ist. Schon lange denkt er nicht mehr in dieser Art. Aber zuvor dachte er sofort an Einsamkeit, wenn er irgendetwas Zweisames sah. Zwei Menschen, zwei Tiere, zwei Bäume, die dicht beieinander standen, Paare, die Hand in Hand gingen und all so was. Heute denkt er sich nichts mehr dabei, er besieht es sich nur.

    Die ganze Zeit über bemerkte er nicht, dass Blut aus seiner Hand tropfte. Eine spitze Nussschale bohrte sich in seine Haut. Erst jetzt, als er das Glas zum Munde führt, sieht er die Tropfen und er denkt, das Blut habe eine schönere Farbe als der Wein. Er drückt ein Fetzchen der Papierserviette auf die Wunde. Diese Art von Wohlsein steigt in ihm auf, von der er sagt, es ist, als wäre Gehirn in Sahne eingelegt. Die Augen geschlossen, kaut er an dem Schluck Rotwein, Brombeere, Marzipan, versäumt darum die Rückkehr der Schwäne. Ein Schwanenpaar mit vier Jungen, die erst vor ein paar Tagen fliegen gelernt. Er beobachtet sie seit ihrer Kükenzeit, sitzt dabei auf dem Stoffklappstuhl im Schilf, auf dem Steg, den er sich aus Holzpaletten bis ans Wasser gebaut hat, obwohl Naturschutzgebiet. Bei sich ist er nicht so pingelig wie bei den Fischern. Die Schwäne haben sich inzwischen an ihn gewöhnt, die Jungen sind sogar so zutraulich geworden, dass sie zu seinen Füßen ruhen, während die Eltern sich im See treiben lassen. Es befällt ihn Schmunzelei, wenn er denkt, dass seine imaginäre Katze ihn auf Schritt und Tritt folgt und wie die Schwanenvögel wohl reagieren würden, wenn sie der Katze ansichtig würden.

    Er genießt das Vertrauen dieser Tiere, belohnt mit Rosinenstückchen vom Vortage, die er sich von der Bäuerin dafür geben lässt. Ein eigenartiges Bild, sitzt er mit den Schwänen am Ufer, in sich versunken, unförmig in dem langen Parka, den klobigen Gummistiefeln, ab und an sich eine Rosine in den Mund steckt, den Teig den Jungen zu bröckelt, den Eltern auch mal einen Brocken zukommen lässt. Einsam sieht er aus, rührend würde er selbst dazu sagen, wenn er sich so sehen könnte, denn Einsamkeit ist für ihn nicht mehr existent. Er hat sie sich abtrainiert, fühlt sich nur ganz selten allein, denkt nur manchmal an die Katze, fantasiert nur wenig, will nicht mehr unkontrolliert von seinem Gehirn beschäftigt werden. Beschäftigung bedeutet für ihn, nichts Ernsthaftes tun, nichts mit Hingabe, nichts mit Können. Nur etwas tun, um etwas zu tun, kommt für ihn nicht in Frage. Unsinnig, dann besser bewusst nichts tun. Nur die Luft aus- und einatmen, die Augen geschlossen oder geöffnet, innerlich eine Melodie im Magen kreisen lassen. Wenn er so in sich ruht, wirkt sein Körper weich, seine Gesichtszüge wie die eines alten Kindes. Ein kleines Lächeln, in sanft gewölbten Lippen, zärtliche Faltenfädchen um die Augen. Er denkt, dass es gut wäre, so zu sterben. Zack – Aus.

    Sein Oberkörper würde nach vorne fallen … in die Nussschalen. Also schiebt er die Holzschale an den Rand des Tisches, ebenso das Weinglas. So würde man ihn finden, mit friedlicher Miene und sie würden sagen: „Gut ist er gestorben und ein schöner Tod!" Nur die gemeine Anna, denkt er, hätte bestimmt einen dummen Spruch parat. Die gemeinste Frau in seinem Leben, dennoch denkt er ihr, öfter am Tage.

    Wer aber sollte ihn finden? Er würde niemandem fehlen, ein ungeheurer Zufall, wenn gerade einer seiner seltenen Besuche erschien. Gut, dass er keine Katze hat, die würde elendlich verhungern oder würde sie ihn anfressen. Er lacht, während er sich ausmalt, wenn ihn die gemeine Anna auffände, empfangen von einer gigantischen, fetten Katze, die ihm die Beine abgefressen hat. Er vertreibt diese Gedanken, stellt sich stattdessen vor, wie es wäre, auf dem See zu sterben. Mitten auf dem See, in einem Boot bei Nacht – Vollmond könnte es sein. Er würde spüren, wie sein Herz langsamer und langsamer schlägt, liegend auf dem Rücken, in die Sternennacht blickend. Vielleicht brächte er es sogar noch fertig, eine Melodie in seinem Körper zu empfinden. Ob er sich ein Boot zulegen sollte? Aber es ist verboten auf dem See zu rudern. Aber nachts, nachts … Ach was, kein Boot, keine Katze, alles nur Ballast.

    Ich kann es nicht deuten, würde es aber gerne wissen, was es auf sich hat mit dem See, bei ihm. Natürlich weiß ich seine Gedanken, aber seine Gefühle nicht. Formt er seine Gefühle nicht in Worte, so sind sie mir verschlossen. Wenn er nicht mehr bewusst denkt, dann gelingt es mir, mich von ihm zu lösen, begebe mich hinaus in die Mitte des Sees und versuche zu begreifen, was er wohl fühlt. Es ist gut so, dass er mich nicht fühlen kann, nicht sehen, doch manchtags frage ich mich, ob er etwas ahnt, starrt er so lange in sich hinein.

    Ich kenne Mel seit der Sekunde, als er in seiner Mutter aufgenommen wurde. Noch im Kriege, am Heiligen Dreikönigstag, deswegen Mel, von Melchior. Er war so winzig, dass er bei der Geburt zwischen den mächtigen Schenkeln fast nicht zu finden war. Sein erstes Atmen, das Öffnen der Augen, den ersten Laut aus seiner Kehle, ich empfing seinen ersten Gedanken. Obwohl mir seine Gedanken alle Zeit zugänglich waren, sind, werde ich aus Mel nicht schlau. Er ist unberechenbar, nichts ist vorhersehbar bei ihm, plötzlich, spontan, überraschend, fast unmenschlich. Er wundert sich nie über sich selbst, er akzeptiert seine Fehler, er ist sich seiner bewusst. Weiß, dass kein Mensch vor und nach ihm, identisch mit seiner Person, körperlich noch geistig. Aus diesem Bewusstsein stammt sein starkes Selbstwertgefühl. Mel denkt und das erheitert und erschreckt ihn zugleich, dass, wenn er gestorben ist, etwas unwiederbringlich vorbei ist. Dennoch hat er keinen Ehrgeiz, etwas von sich zu hinterlassen, was an ihn erinnern würde. Er ist ausgezeichnet zufrieden, dass er sein Leben bekommen hat, lebte und lebt es mit all seiner Energie, bewusst seiner Einmaligkeit. Nun überfällt ihn gleich sein Schläfchen.

    Er ruht im Sitzen, die Augen so weit geschlossen, dass er durch die flatternden Wimpern gerade noch Licht sieht, wiegt sich leicht hin, her, atmet tief, langsam durch die Nase. Er hat sich dieses Sitzschlummern angewöhnt, denn legte er sich nieder, verfiele er in Kürze in Alpträumigkeit, erwachte dumpf, zerschlagen. So im Sitzen erholt er sich und nach einer halben Stunde löst er sich aus der konzentrierten Ruhe.

    Mel fiel es ausnehmend schwer, in der Anfangszeit seines Alleinlebens ruhig und ausdauernd zu schlafen. Es plagten ihn existentielle Ängste, Schauderträume, das Bett erschien ihm so groß wie der See, und er lag unbehaglich in kaltem Schweiß. Mit Anna – als diese noch nicht gemein – verbrachte er die Nächte, in sich ruhend, im selbstverständlichen Schlaf. Ihre Anwesenheit beruhigte, doch sobald sie sich an ihn schmiegte, erwachte er, erwachte bei der leisesten Berührung, rückte von ihr ab, lauschte dann so lange ihrem gehauchten Atem, bis er in den gleichen Rhythmus und wieder in Schlaf verfiel. Auf Sex mit der gemeinen Anna hätte er verzichten können, aber nicht auf die gemeinsame Nachtruhe. Das, was ihn im Besonderen mit ihr verband, die Sicherheit spendende Zweisamkeit der Nacht.

    Mel erwachte stets vor der gemeinen Anna, dösend überdachte er seine Träume, bewegte sich nicht, sonst glaubte sie, er wolle sich aus dem Bett stehlen, verklammert sich sogleich an ihm, um ihre Morgenlust zu stillen. Dies geschah schnell, emotionslos. „Sie masturbiert mit meinem Penis", dachte er bei sich. Blieb er aber liegen bis sie erwachte, war sie schmusig wie ein Kätzchen und er genoss seinen Orgasmus in ihrer Scheide. So schwierig wie es am Tage mit ihr war, so leicht und zufrieden verbrachte er die Nächte mit der gemeinen Anna.

    Allmählich lernt er, sich aus den Träumen zurückzuziehen, auszusteigen, sie zu beenden. Heute lächelt er im Schlaf, wenn die gemeine Anna auftaucht und beim ersten Wort, stößt er sie aus seinem Kopf. Stattdessen lässt er die Bäuerin sich darin ausbreiten, träumt sie schön - war sie ihm doch zu korpulent - gestattete ihr Anzüglichkeiten und liebt sich selbst, mit ihrem Bild.

    Als Mel im Schlafe, sah ich sie, bei einem Besuch im Bad und sie war wirklich zu dick für ihn, misst Mel Frauen doch noch immer an der kindlichen Körperlichkeit der gemeinen Anna. Als er die gemeine Anna das erste Mal zu sehen bekam, beeindruckte ihn besonders ihre schulmädchenhafte Magerkeit. Sie maß keine eins sechzig und ihre zierliche Zerbrechlichkeit erinnerte ihn ein wenig an diese Frau mit Glasknochenkrankheit, die er bei Freunden kennen gelernt hatte. Ein Menschenpüppchen.

    Eben bei diesen Freunden wurde ihm die gemeine Anna vorgestellt. Er hatte sich später einmal ausgedacht, ob sie nicht so gemein wäre, hätte sie ebenfalls diese Glasknochenkrankheit, und er könnte sie in dem kleinen Räderstühlchen herumschieben und Anna wäre dankbar für seine Liebe. Oft hatte Mel dies gedacht, wenn die gemeine Anna wieder einmal einen ihrer furiosen Anfälle gehabt hatte. Wäre ihre Person so durchsichtig wie ihre Haut gewesen, Mel hätte alle Finger von ihr gelassen.

    Zu regnen hat es begonnen, Mel sein Nickerchen beendet, sucht die Seelinie nach den jungen Schwänen ab, doch selbst mit dem Fernglas sind die noch grauen Vögel in dem bleiernen See nicht auszumachen. Sein Mund ausgetrocknet vom roten Wein, er spürt sein Gaumenzäpfchen hart wie ein Kern im Rachen, dennoch kann er sich nicht aufraffen Wasser zu holen. Den Kopf in die Hand gestützt, sodass sein Kinn Falten schlägt, die Lippen wulstig werden, seufzt vor sich hin. Auf seinem Bett würde er gerne liegen, denkt er, zugedeckt mit der leichten, weichen Decke, dem Getrommel des Regens zuhören, der auf das blecherne Vordach über dem Eingang schlägt. Aber Mel weiß, wenn er jetzt aufsteht, verliert er diese meditative Lethargie, die so wohltuend ist. Musik wäre gut, doch um an das Radio zu gelangen, müsste er sich auch bewegen. Also inszeniert er ein Lippenblasorchester, mit großer Instrumentierung. In seiner seichten Ermattung gibt er erstaunliche Bläsereien von sich.

    Kapitel 2 Miriam

    Ein reales Instrument kann Mel nicht spielen. Improvisiert er auf seiner Mundharmonika, dann hat er getrunken. Mel betrinkt sich nie so sehr, dass er in diese weinerliche Melancholie gerät. Er vertrinkt sich ab und zu, ist dann bedudelt, beschwipst, mag sich dann besonders, schreibt ein Gedicht oder spielt eben Blues, ziemlich atonal, dennoch mag er es. Gitarre erlernen, um in der Band seiner Mitschüler zu spielen, wollte Mel in seiner Jugend. Sein Kopf wollte, doch seine Hände nicht, also ließ er es. Er verschaffte der Band Auftritte, wurde zum Manager ernannt. Aber als Manager bekam er keine von diesen Groupies und erst recht nicht, weil er keine langen Haare hatte. Das hatte ihm seine Mutter untersagt und ihr konnte er nicht widersprechen, liebte er sie von ganzem Herzen. Sie, spielte Klavier, nannte Mel ihr Männlein und er schlief bis in die Pubertät bei ihr im Ehebett.

    Die Mutter sagte, er hätte keinen Vater und Mel akzeptierte dies, denn er wollte ohnehin keinen.

    Andere Jungs beneideten ihn, denn ihm befahl kein Vater. Seine Mutter bat ihn. Mel bitte keine langen Haare… Mel, bitte esse noch ein bisschen … Mel, bitte halte dich gerade, Mel, wie oft muss ich dich noch bitten. Ihm gefiel seine Mutter sehr gut. Sie war groß, schlank, trug den roten Pferdeschwanz bis ins hohe Alter. Eine feine gerade Nase, einen gutmütigen vollen Mund, dunkelbraune sanfte Augen, hohe Brüste, langgliedrige schmale Hände und überall Sommersprossen. Wenn sie am Wochenende solange im Bett blieben, dann bereitete es Mel großes Vergnügen diese Pünktchen zu zählen. Sie lag auf dem Bauch, er neben ihr und fing auf ihren Schultern an, zählte sich hinab über den Po zu ihren Waden, dort hörten die Sprossen abrupt auf. Seiner Mutter bereitete diese diffizile Punktmassage ebenso freudiges Vergnügen. Beim nächsten Mal überprüfte Mel, ob ein neuer Spross dazu gekommen. Sie lagen eng zusammen, erzählt er sich und die Mutter biss Mel, wenn er ein Fürzchen auf ihren Bauch prallen ließ. Ihre gespielte, schamhafte Empörung amüsierte Mel und sie glucksten, lachten zusammen und jeder liebte den anderen am meisten im Leben. Nach einem ebensolchen, liebevollen Gerangel lagen sie friedlich neben einander unter dem Leintuch, mit dem sie sich des Sommers bedeckten und plötzlich spannte sich über Mels Schoß ein kleines Zelt auf. Während die Mutter lächelnd seine erste Erektion enthüllte, war es ihm zuerst ein wenig peinlich, aber als er sah wie stolz die Mutter sein Männlein betrachtete, war er es auch. Die Lehrerin in ihr nützte diese Gelegenheit, um ihn aufzuklären. Dieser Tag wurde nun jedes Jahr als Männleintag gefeiert, bis Mel das Haus verließ.

    Nur das Ehebett erinnerte an den Vater, nachdem er niemals fragte. Als Mel geboren, jagte die Mutter den Mann aus dem Haus. Er hatte mit ihr das Haus gebaut, er hatte mit ihr Mel gezeugt und das war alles, was sie wollte. Sie hatte diesen Handwerker nie geliebt, der Satie nicht von Brahms unterscheiden konnte.

    Mel musste das gemeinsame Bett verlassen, nachdem sie ihn beim Onanieren ertappt hatte. Die eine Hälfte des Bettes wurde ins Arbeitszimmer gestellt, das nun gleichzeitig sein Zimmer war. Die Trennung fiel Mel relativ leicht, zum einen weil er leidenschaftlich masturbierte, zum anderen konnte er weiterhin die Morgen der Wochenenden im Bett seiner Mutter zubringen, um plaudernd den Schlaf ausklingen zu lassen.

    Mel war so glücklich, die ersten beiden Schuljahre von seiner Mutter unterrichtet zu werden. Es war zeitweise sein größter Wunsch, ebenfalls zu lehren. Aber auch nicht mit größter Anstrengung schaffte er das Abitur, was seine Mutter sehr enttäuschte, und als er seine Lehre als Tischler begann, entfernten sie sich voneinander. Er bestand die Aufnahmeprüfung einer Wohngemeinschaft, bekam dort die Mundharmonika geschenkt von seiner ersten Geliebten. Sie verbrachten eine Woche im Bett, dann hatten sie sich satt. War Mel bedudelt, bespielt er die Mundharmonika, denkt dabei nie an seine

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