Herr der Flüsse
Von Mike Meto Mettke
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Über dieses E-Book
Herr der Flüsse erzählt atmosphärisch dicht und in schnellem Perspektivwechsel das Erleben der Protagonisten und kommt als Gesellschaftsroman im Gewand eines Krimi-Noir daher.
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Buchvorschau
Herr der Flüsse - Mike Meto Mettke
Gunther von Zaschwitz,
22. September 2019, 08.45 Uhr
Es ist Sonntagmorgen und der Wetterbericht für Brandenburg verspricht noch einmal Höchsttemperaturen von 25°C.
Er hat es kurz vorher auf seiner Wetter-App gecheckt, nachdem er ein paar Mails überflogen hat. Die Börsen sind geschlossen. Freizeit für ein paar Stunden.
Das Handtuch um den Bauch geschwungen, steht er nun am Steg seines Anwesens und genießt die Sonne in seinem Rücken und die Lichtreflexe vor ihm auf dem Fluss. Rita hat ihm ein Rührei-Frühstück versprochen, weil die Köchin heute nicht im Haus ist. Er hat vergessen, warum.
Er schaut stromauf und stromab, keine Paddler auf dem Fluss, der ein Nebenarm der Spree ist. Genauer betrachtet, ein zehn Kilometer langer Bypass zum Oder-Spree-Kanal. Genug Abstand zum touristischen Publikumsverkehr, auch weil hier bald keine Motorboote mehr erlaubt sind. Geplantes Naturschutzgebiet. Für ihn und sein Grundstück ein Wertzuwachs als Hort der Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Anwohner im nahen Dorf sehen das anders.
Er streckt sich, legt das Handtuch über den Campingstuhl auf der hölzernen Plattform und geht bis an das Ende des Stegs, um an der Leiter ins Wasser zu steigen.
Der plötzliche Stich eines großen Insekts in seinem Nacken lässt ihn herumfahren. Hornisse, Bremse …
Er schlägt sich fluchend ins Genick. Streift das Insekt ab und will nachschauen, was es ist. Aber es muss in eine Spalte zwischen den Planken gefallen sein. Er reibt sich den Hals.
Dann wartet er ein Weilchen, um den Schreck abklingen zu lassen, der ihm die Vorfreude auf das Erfrischungsbad verdorben hat.
Über ihm beginnen die Kronen der Erlen zu kreisen …
Die Oberschenkel werden weich.
Er versucht noch, sich an der Leiter festzuhalten und stürzt dann ins Wasser. Spürt die augenblickliche Kühle, die ihn umgibt. Und dann auch das nicht mehr.
Jonas Kohlhaus,
22. September 2019, zur selben Zeit
Er hat nicht mehr als anderthalb Stunden warten müssen.
Kein Vergleich zur wochenlangen Vorbereitung.
Und zu warten, lernt jeder Soldat. Einer mit seiner Ausbildung sowieso.
Auch wenn das Wasser immer noch recht warm ist, mit dem Neopren-Anzug nebst Haube bleibt es komfortabel.
Wasserfeste Tarnschminke macht sein Gesicht unauffällig.
Die Kurzflossen an seinen Füßen sinken im Uferschlamm nicht ein. Das Blasrohr, ein Professional 4 Foot Big Bore .625 Magnum Blowgun, ist auf der Astgabel eines überhängenden Strauches ruhiggestellt, hinter dem er sich verbirgt.
Als sich die Zielperson etwas vorbeugt und den bloßen Nacken freigibt, bläst er ins Rohr.
Der Injektionspfeil entlädt die Hellabrunner Mischung in den Hals des Opfers. Xylazin und Ketamin. Für die Tierbetäubung entwickelt.
Jetzt muss er abwarten, ob die Dosis reicht.
Er sieht, wie die Zielperson vom Steg ins Wasser fällt.
Steckt das Blasrohr schnell in den Köcher und gleitet zu dem leblosen Körper im Wasser.
Jonas dreht den dickbäuchigen Mann auf den Rücken, klemmt ihm einen aufgeblasenen Schwimmkragen um den Hals, schlingt eine Brustleine, deren Ende er sich an den Tauchgürtel klippt und zieht den Mann hinter den Strauch am Ufer.
Dort startet er den Yamaha-Tauchscooter, den er im Wurzelwerk deponiert hat. Leise surrt der Elektromotor.
Dann geht es stromauf.
Nach zwei Kilometern biegt er links in ein schmales Fließ ein. Stoppt nach knapp hundert Metern den Tauchscooter und laviert die menschliche Fracht vor einen großen und verlassenen Biberbau.
Dort stupst er den noch immer Bewusstlosen kurz unter die Wasserlinie und dann in den Eingang der Höhle.
Er muss die heftigen Schmerzen in seiner Wirbelsäule mit zusammengebissenen Zähnen unterdrücken, als er den schwergewichtigen Mann ins Innere des Biberbaus zerrt.
In Eckernförde haben sie die Bergung von Verwundeten trainiert, aber da war er auch im Vollbesitz seiner Kräfte. Jetzt ist er nur noch im Wasser einigermaßen schmerzfrei.
Jonas horcht kurz an der Nase seines Opfers, fühlt den Puls.
Der Mann lebt.
Jonas schaltet eine kleine LED-Lampe ein.
Auch wenn der Biberbau im Grunde nur noch eine äußere Tarnhülle darstellt, dessen Inneres er erweitert, abgestützt und ausgekleidet hat, erinnert er ihn an die Idee eines Wigwams, wie aus den Abenteuerbüchern seiner Kindheit, die ihm die Frau, die seine Ersatzmutter werden sollte, damals in der Bibliothek zugänglich machte. Aber er verbietet sich, jetzt daran zu denken. Er muss kühl bleiben. Ruhig und gefasst. Wie der Fluss, der jenseits des Biberbaus vorüberfließt.
Rita von Zaschwitz,
22. September 2019, 09.55 Uhr
Das Frühstück, das sie ihm bereitet hat, weil Zuzanna heute zur Beerdigung ihrer Großmutter in Slubice ist, steht längst kaltgeworden auf dem Tresen der Wohnküche. Das kurze Flussbad dauert nun schon über eine Stunde. Wahrscheinlich sitzt Gunther aber am Ufer und führt unaufschiebbare Telefonate.
Rita spürt den gärenden Verdruss aufkommen, den sie an den gemeinsamen Wochenenden zu unterdrücken sucht, weil sie für ihre Kinder eine harmonische Familienatmosphäre wünscht. Es ist doch nicht zu viel verlangt, wenigstens am Sonntag die Aufmerksamkeit der Familie zuzuwenden.
Er arbeite nur für sie, pflegt ihr Mann bei entsprechenden Vorwürfen zu antworten. Er schaffe schließlich den Wohlstand, in dem sie leben.
Als hinge Glück nur vom Wohlstand ab.
Sie öffnet den Kühlschrank und gießt sich aus der Flasche Chablis ein erstes Glas voll.
Dann ruft sie nach Leon, ihrem Sohn, der oben in seinem Zimmer garantiert an der Playstation zockt.
Ihr Blick fällt auf die Freizeitkleidung, die ihr Mann achtlos neben der großen Terrassentür fallengelassen hat.
Hinter der Terrasse rollt sich der kurzgeschorene Rasen bis zur frühherbstlichen Feuerwand der Essigbäume ab, die mit den darüber aufragenden Erlen die Sicht auf die Plattform und den Steg versperren.
Sie hebt Gunthers Sachen auf, um sie auf einen der Küchenhocker zu legen, als sein Smartphone scheppernd auf die Fliesen fällt.
Neugierig wischt sie das Z für Zaschwitz, um es zu entsperren.
Sechs Anrufe in Abwesenheit.
Sie ruft noch einmal, lauter, nach Leon. Dann scrollt sie sich durch die WhatsApp-Historie ihres Mannes.
„Was gibt’s denn?", hört sie Leon hinter sich.
„Hol … Gunther! Der ist unten am Wasser." Beinahe hätte sie Hole deinen Vater gesagt, aber dann gäbe es wieder eine Grundsatzdiskussion.
„Kannst du das nicht machen?"
Rita dreht sich um und sieht ihren Sohn auf halber Treppe. Leons langes, ungekämmtes Haar wirkt wie eine Flagge des Trotzes. Ein pubertierender Vierzehnjähriger. An sich normal. Aber sie hat jetzt keinen Nerv dafür. Mit Sophie ist alles leichter. Sie ist Gunthers geliebter Sonnenschein und ihrer beider Tochter, und sie ist erst sieben.
„Tu einfach, was ich dir sage."
Leon kommt nach zehn Minuten zurück.
„Der iss nirgends", knurrt er und schleicht an ihr vorbei.
Rita läuft zum Ufer, um sich selbst ein Bild zu machen.
Sie sieht Gunthers Badelatschen auf der Plattform und das Handtuch über der Lehne des Campingstuhls.
Dann geht sie bis zum Ende des Stegs. Schaut nach links, schaut nach rechts, wo der weite Blick erst von den Biegungen des Flusses begrenzt wird.
Sie weiß sofort, dass ihr Mann nicht so weit geschwommen ist.
Sie weiß auch, dass er nicht barfuß in den Wald gegangen ist.
Gunther, dessen empfindliche Fußsohlen nicht einmal einen Kiesstrand beim Urlaub an der Adria vertragen haben.
Über ihr klopft ein Specht. Hämmert, wie verrückt. Es hört sich an, als wolle er sie zur Eile antreiben.
Sie ruft Gunthers Namen. Zunächst zaghaft. Dann nachdrücklicher. Schließlich schreit sie so laut, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Sie hört ihren Groll, die gesteigerte Wut, die sich entladen. Am Ende tränenlose Verzweiflung.
Ihr fröstelt plötzlich. Es will ihr nichts einfallen, was die Situation erklären könnte.
Dann rennt sie schnell zum Haus zurück.
Gunther von Zaschwitz,
22. September 2019, 10.15 Uhr
Als er die Augen aufschlägt, blickt er in pures Gold.
Zugleich spürt er den einschießenden Kopfschmerz und Übelkeit, was ihn die Augen wieder zukneifen lässt.
Er bewegt vorsichtig Hände und Zehen, bekommt langsam sein Körpergefühl zurück, merkt, wie kalt ihm ist und dass er nackt auf dem Boden liegt. Hinter seiner Stirn pulsieren die Schmerzwellen. Das Herz beginnt zu rasen, stottert, nimmt wieder Fahrt auf.
Ich habe einen Herzinfarkt, ist sein erster Gedanke.
Oder einen Schlaganfall. Noch einmal bewegt er Arme und Beine. Die gehorchen. Besser so. Einen Angriff aufs Herz kann er eher verkraften als einen aufs Hirn.
Er öffnet erneut die Augen, und der Goldhimmel ist immer noch da. Wölbt sich jetzt allerdings klein wie die Kuppel eines Iglus und wirkt knittrig, als hätte man es mit Goldfolie zu tapezieren versucht.
Leider kann er sich beim besten Willen nicht erinnern, was ihn in diese Lage gebracht hat.
Er bemerkt die Bewegung eines Schattens im Augenwinkel und dreht den Kopf. Was er sieht, befördert keine Erinnerung.
Eine Art Yogi im Schneidersitz und Taucheranzug, der ihn mit Kriegsbemalung im Gesicht reglos beobachtet. Wenn es nicht so absurd wäre und ihm so schlecht, könnte er lachen. Und wenn er zu den Lebenden zurückkehrte, davon berichten, dass der Himmel dringend einen besseren Innendekorateur brauche und Gott ein beschissener Yogi mit unangemessen amphibischen Neigungen ohne sichtbares Mitgefühl sei.
Er ist also nicht in einem Krankenhaus.
Aber wo ist er dann?
Der Yogi gibt seine Stellung auf und wirft ihm ein paar Sachen auf den Bauch.
„Zieh das an!"
Weil ihm furchtbar kalt ist, stellt er keine Fragen.
Er richtet sich auf, aber ihm ist schwindlig.
Der Yogi hilft ihm beim Überstreifen des Trainingsanzuges.
Dann reicht er ihm eine Mineralwasserflasche.
Gunther trinkt. Schaut dabei in das ausdruckslose Gesicht seines Gegenübers, dessen geschminktes Gesicht nichts verrät.
Der Yogi nimmt ihm die Flasche ab und schraubt den Verschluss zu.
„Wo bin ich hier? Und … warum?" Wenn er jetzt doch nur den Ansatz einer Erinnerung fände.
„Wo du bist, ist unwichtig. Das Warum, ist die richtige Frage. Ich werde dir Zeit geben, darüber nachzudenken."
„Oh Mann, das können wir doch jetzt gleich …"
„Nein!, fährt ihm der Yogi dazwischen. „Es ist völlig klar, was du dir in diesem Moment erhoffst. Aber das bringt dich nicht weiter. Du hast eine Chance, die ich dir verspreche, und in meiner Welt gelten Versprechen noch. Du riskierst diese Chance, wenn du darauf hoffst, mich zu täuschen. Du erhältst dir diese Chance, wenn du nicht wie ein typisches Opfer handelst. Du hoffst nicht auf Hilfe von außen. Du spekulierst nicht mit meinen Fehlern. Nein, du denkst über die Einsicht einer ungesühnten Schuld nach. Ernsthaft. So kannst du überleben. Und nur darum geht es für dich: Überleben.
„Aber … Woher soll ich … Ist das irgendeine religiöse Scheiße? Oder was Politisches? Oder … bist du einer von den Öko-Spinnern? Weltrettern? Mann …"
„Nein. Nimm es persönlich."
Der Yogi legt ihm Handschellen an. Hinter dem Rücken.
Und dann wickelt er ihn in eine Plastikfolie, rollt ihn zu einer bewegungslosen Mumie. Versiegelt ihn mit Gaffa Tape.
Zum Schluss verklebt er ihm den Mund.
„Frage dich einfach: Was habe ich getan, wofür ich sühnen sollte? Ich werde morgen wiederkommen."
Gunther bemerkt noch stumm, wie der Yogi eine Schwimmbrille vors Gesicht schiebt, Flossen anzieht und die LED-Lampe ausschaltet. Dann plätschert Wasser und eine von ihm noch nie so erlebte schwarze Stille kehrt ein.
Leon,
22. September 2019, 16.03 Uhr
Seine Mutter hat die Bullen gerufen. Zwei Beamte in Uniform haben sich ziemlich relaxt seine aufgeregte Mutter angehört.
Und Sophie hat geweint. Sophie ist lieb, aber sie weiß auch schon genau, wann man weinen sollte.
Danach kam auf dem Gelände jedoch Betrieb auf. Gunther ist nicht irgendwer. Jetzt wird nach ihm gesucht.
Er steht auf dem Flachdach des Hauses, auf das er – verbotenerweise – über die Leiter im Lichtschacht geklettert ist und lässt die Mavic DJI Mini 2 in den Himmel steigen.
Gunther hat ihm die Drohne zu Weihnachten geschenkt. Natürlich, um sich bei ihm einzuschleimen. Aber das Ding ist trotzdem ziemlich krass.
Leon schaut auf sein Smartphone und steuert die Drohne, die nur so viel wie ein Apfel wiegt und in eine Handfläche passt.
Vier kleine Propeller lassen sie über die Wipfel der Bäume am Ufer steigen, und er sieht jetzt das Schlauchboot und die Taucher, die nach Gunther suchen.
Er lässt die Mavic zehn Meter über dem Fluss auf einer fixen Position schweben. Das Wasser ist zu dieser Jahreszeit glasklar. Man kann an den flacheren Stellen bis auf den Grund sehen. Erkennt sogar die vielen Muschelschalen. Im Sommer ist das anders. Da überzieht Entengrütze die Ufer und das Wasser ist trüb.
Die Taucher suchen vor allem stromab.
Er hat mitbekommen, dass man einen Unfall vermutet. Herzkasper oder so. Gunther ist für ihn ein alter dicker Mann, der viel Geld hat und mit seiner Mutter zusammen ist. Gunther kann nett sein und den Kumpel raushängen lassen. Und er ist nicht geizig. Aber man spürt immer die Absicht.
Jetzt sieht Leon, wie ein Hundeführer seine Töle an Gunthers Handtuch riechen lässt. Was so wirkt, als würde er dessen Schnauze abtrocknen, bevor er lange Leine gibt. Er hört das Bellen.
Er folgt dem Hund mit der Drohne.
Der Hund rennt durchs Unterholz, kommt aber schnell zurück und umkreist die Uferplattform. Das wiederholt sich ein paarmal.
Manchmal sitzen sie zusammen am Ufer, in Familie, wenn Gunther mal Zeit hat. Mit Kerzen in einer Laterne von IKEA.
In der Dämmerung kann es dann vorkommen, dass ein Biber sehr nah vorbeischwimmt. Das ist schön, aber Gunther will das danach immer irgendwie auswerten. Spricht über die Natur, als hätte er Ahnung davon. Dabei weiß er rein gar nichts.
Armin redet anders. Der ist aus