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Tells Rache: Ein freier Fall für Grossenbacher
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Tells Rache: Ein freier Fall für Grossenbacher
eBook363 Seiten4 Stunden

Tells Rache: Ein freier Fall für Grossenbacher

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Über dieses E-Book

In Zürich hängt ein Mann an einem Seil über einer stark befahrenen Kreuzung. Kurz darauf wird er von einem Lkw mitgerissen. Wachtmeister Paul Grossenbacher nimmt zunächst nur widerwillig die Ermittlungen auf. Bei dem Toten handelt es sich um einen anerkannten Arzt, der vor seinem Ableben gefoltert wurde. Wer hat ein Interesse daran, den Toten derart zur Schau zu stellen? War der Arzt am Ende doch nicht so sauber wie sein Image? Grossenbacher steht viel Arbeit bevor.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum5. Juli 2017
ISBN9783839255360
Tells Rache: Ein freier Fall für Grossenbacher

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    Buchvorschau

    Tells Rache - Res Perrot

    Zum Buch

    Rache kommt teuer Wachtmeister Paul Grossenbacher von der Kriminalpolizei des Kantons Zürich wird früh morgens an einen Tatort gerufen. Was er auf einer Straßenkreuzung vorfindet, hätte seiner Meinung nach auch die Verkehrspolizei erledigen können. Ein Mann wurde von einem LKW mitgerissen. Doch der Fahrer des Wagens sagt aus, dass der Mann an einem Seil befestigt über der Kreuzung hing. Genauere Untersuchungen ergeben, dass das Opfer vor seinem Tod gefoltert wurde. Grossenbacher hat sofort das organisierte Verbrechen im Verdacht. Denn wer sollte sich sonst die Mühe machen, den Mann derart öffentlich auszustellen? Es muss eine Warnung sein. Nachdem sich herausstellt, dass der Tote Arzt war, lässt Grossenbacher dessen Praxis durchsuchen. Aber ein Motiv für den Mord findet er dort nicht. Haben die Täter etwa den Falschen gerichtet? Eine geschwätzige Zahnarzthelferin bringt Grossenbacher schließlich auf eine Spur.

    Res Perrot, 1960 als Berner in Zürich geboren. Aufgewachsen im Bernbiet, lebt er heute wieder im Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Schule für Gestaltung in Bern arbeitete er als Grafiker, Art Director und Creative Director in verschiedenen Werbeagenturen, bis er sich selbstständig machte. Als Musiker tourte er mit diversen Formationen und war an einigen Schallplattenproduktionen als Bassist oder Produzent beteiligt. Seit ein paar Jahren widmet er sich dem Schreiben und mit Hammer, Meißel und Leidenschaft der Bildhauerei. Das vorliegende Buch ist der fünfte Grossenbacher-Krimi.

    Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

    Tells Grab (2016)

    Tells Söhne (2014)

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2017

    Lektorat: Sven Lang

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Res Perrot

    ISBN 978-3-8392-5536-0

    Widmung

    Für Ueli, den Namensgeber

    Zitat

    »Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen …«

    Aus dem Werk ›De rerum natura‹ (Über die Natur der Dinge) des römischen Dichters und Philosophen Lukrez, 55 v. Chr.

    Prolog

    Er konnte es fühlen. Der Mann stand genau über ihm. Er spürte die physische Nähe und roch förmlich seinen Adrenalinausstoß. Er selbst lag bäuchlings auf feuchter Erde und war gefesselt. Seine Arme waren in den Ellenbogen auf dem Rücken zusammengebunden. Er spürte einen festen Druck im Nacken und sein Gesicht wurde seitwärts in den weichen Waldboden gedrückt. Dürre Fichtennadeln bohrten sich in seine Wangen. Er konnte sie nicht sehen, nur spüren. Etwas verklebte seine Augen.

    Es war kalt und es war Nacht, so glaubte er wenigstens. Er befand sich nicht mehr in einem Zelt, er spürte den kalten Nachtwind. Es roch modrig. Dann kroch Zigarettenrauch in seine Atemwege. Wie er diesen Geruch hasste. Er weckte schlechte Erinnerungen. Erinnerungen an die Kindheit. An seine Kindheit. Der Rauch kitzelte in der Nase. Er musste niesen.

    Er vernahm Schritte. Jetzt zwei Männerstimmen. Sie sprachen leise in einer fremden Sprache. Über ihm. Angestrengt versuchte er etwas mitzubekommen. Doch er verstand keine der slawischen Sprachen.

    So verharrte er bewegungslos, bis der Druck im Nacken nachließ. Kräftige Hände packten ihn an den Beinen und schleiften ihn über den Waldboden. Sein Kinn schlug an Steinen und Wurzeln auf. Dann wurde er wieder fallen gelassen. Einer der Männer hockte sich auf ihn. Dessen Knie bohrte sich in seinen Rücken. Das Gewicht presste ihm die Luft aus den Lungen. Finger fuhren in sein Haar. Mit einem Ruck wurde sein Kopf zurückgezogen.

    Auch in dieser Position konnte er nichts sehen. Seine Augen waren weiterhin verklebt. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er sie geöffnet hatte, denn die Lider klebten an irgendwas. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Krächzen hervor. Er hustete und schnappte nach Luft.

    Er versuchte es noch einmal, denn er hatte das Gefühl, dass er etwas zu seiner Rettung vorbringen sollte, musste. Wieder drang nur ein unverständliches Röcheln aus seiner überspannten Kehle.

    Er glaubte zu spüren, wie das Unheil näherkam. Es umschlich und beäugte ihn, gerade so, als ob es etwas von ihm wollte. Es war unabdingbar.

    Durch das Zurückreißen des Kopfes hatte sich das Klebeband etwas von der Wange gelöst, sodass er durch den entstandenen Schlitz ein Paar Stiefel erkennen konnte. Die groben Schuhe entfernten sich. Doch nur wenige Meter, wie er hörte, dann blieben sie stehen. Eine Hand durchquerte das Blickfeld. Für einen Augenblick schien im Ausschnitt alles eingefroren. Bis die Hand wieder auftauchte. Sie war jetzt zu einer Faust geballt, die einen großen Zeltnagel umspannte.

    Der Mann hat einen Hering aus dem Boden gerissen, dachte er. Wofür? Dann hörte er, wie das Eisen auf einen Stein geschlagen wurde. Wohl um die Erde aus der Kerbe zu klopfen. Er fragte sich, warum er sich auf solche Nebensächlichkeiten konzentrierte, statt nach einem Ausweg aus seiner misslichen Lage zu suchen.

    Schon lange hatte keiner mehr ein Wort gesprochen, nur die ersten Vögel in den Baumwipfeln hörte er. Der Griff in seinen Haaren lockerte sich. Hoffnung keimte auf. Hatte er sich getäuscht? Vielleicht war das die Strafaktion gewesen? – Doch eigentlich konnte er sich das nicht vorstellen.

    Die Stiefel kamen wieder zurück und blieben genau vor ihm stehen. Er sah Beine, die in verschmutzten Hosen steckten. Der Mann ging in die Hocke.

    Mit einem erneuten Ruck wurde sein Kopf in die Höhe gerissen und festgehalten. Er stöhnte und die Zunge schien in den Rachen zu rutschen. Er würgte, rang nach Luft und wusste, jetzt war es soweit.

    Hände fixierten seinen Kopf wie in einem Schraubstock.

    Ohne Vorwarnung rammte der Mann den Hering quer durch seine beiden Wangen und den aufgerissenen Mund. Gleichzeitig knirschte es grauenhaft in seiner Mundhöhle. Zwei Backenzähne wurden herausgebrochen. Blut spritzte aus den aufgerissenen Wunden. Er schrie. Er schrie und dabei schoss immer mehr Blut aus seinem Mund. Der Mann über ihm presste sein Gesicht wieder in die Erde, um seine Schreie zu dämpfen.

    Halb ohnmächtig brüllte er vor Schmerzen in den modrigen Waldboden.

    1. Kapitel

    »Gr.ss.nb.ch.r!«, tönt es verschlafen aus dem Tischlautsprecher.

    Genau um 10.51 Uhr klingelt das Telefon bei der Notrufzentrale. Vom Eingang des Anrufes bis zur Weiterleitung an die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Zürich vergehen genau sechs Minuten. Rückverfolgung des Anrufes zwecks Verifizierung plus weiterer administrativer Aufwand inbegriffen.

    DC Lüthi ist gerade dabei, einen Nicorette-Kaugummi aus dem Blister zu pulen, als er den Anruf entgegennimmt. Unbeteiligt hört er zu und steckt sich gleichzeitig den Zigarettenersatz in den Mund. Während er mit dem Hörer am Ohr dem Bericht folgt, wählt er auf einer zweiten Linie die Büronummer eines Kriminalbeamten, welcher seiner Meinung nach Kapazität frei hat, und wartet darauf, dass sich am anderen Ende etwas tut.

    Wachtmeister Paul Grossenbacher sitzt, seit er am Morgen in aller Herrgottsfrühe ins Büro gekommen ist, an seinem Pult und müht sich mit dem Verfassen von Berichten ab, welche er schon vor Wochen abliefern sollte. Er überlegt sich gerade, ob das Entsorgen derselben im Papierkorb nicht effizienter wäre, als ihn die erste Welle der heimtückischen Krankheit somnum interdiu überrollt. Und er weiß aus Erfahrung, mit der Tagesmüdigkeit ist nicht zu spaßen. Er schlüpft aus seinen Gummistiefeln und stellt sie ordentlich neben das Pult. Genüsslich lehnt er sich in den gepolsterten Sessel und schwingt die Füße auf den unfertigen Bericht. Ein gehörnter Ehemann, welcher beim Versuch, seiner Frau hinterherzuspionieren, von der Leiter gestürzt ist. Anschließend hat er gegenüber der Polizei behauptet, es sei ein Mordversuch, denn der Geliebte seiner Frau habe ihn mutwillig von der Leiter gestoßen. Grossenbacher wusste von Anfang an, dass die Sache zum Himmel stinkt, und überführte den Mann bereits beim ersten Gespräch der falschen Verdächtigung. Denn die brunftige Ehefrau war an einer Tupperware-Party bei einer Freundin und nicht beim mutmaßlichen Geliebten, was leicht zu beweisen ist. Grossenbacher kann den Mann als Voyeur und Spanner der Ermittlungsabteilung Allgemeine Kriminalität übergeben.

    Nach zehn Minuten gedankenfreiem Dahindösen merkt er, wie unbequem und schädlich seine Haltung auf dem Stuhl ist. Es zerrt und zwickt überall und er fragt sich, warum die Designer von staatlichen Office-Möbeln nicht auf das Wohlbefinden von hart arbeitenden Staatsangestellten Rücksicht nehmen. Es kann doch nicht sein, dass man sich bei der Büroarbeit verletzt oder gar körperliche Schäden davonträgt. Jeder hat schon von Bandscheibenvorfall und Konsorten gehört. Schrecklich, wenn man bedenkt, dass man sich im Dienste für die Allgemeinheit bleibende Schäden zuziehen kann. Büroinvalidität – eine drohende Gefahr für Staatsbeamte.

    Es gibt doch Schrankbetten und Kastenbetten, dachte Grossenbacher. Warum dann keine Korpusbetten? So wie man das Schrankbett herunter- oder ein Feldbett ausklappt, könnte man die Schubladen des Möbels so auseinanderziehen, dass eine ebene Liegefläche entsteht. Aus einem 70 Zentimeter tiefen Korpus mit drei mit weichen Polstern gefüllten Schubladen lässt sich so in zwei Griffen ein Liegebett von 2,10 Metern Länge herstellen. Gerade genug, um darauf bequem die Bürozeit zu verbringen. Und ein weiterer Vorteil dieses Designentwurfes sind die Rollen. Damit lässt sich die Notschlafstelle ohne großen Aufwand an ein ruhiges Plätzchen schieben.

    Man sollte diese Neuerung spätestens beim Bezug des neuen PJZ einführen. Sozusagen für den Schlaf der Gerechten. Und Grossenbacher weiß auch schon einen Namen für seine Erfindung. Das Bürobett sollte in Anlehnung an seinen ursprünglichen Zweck und den Ort, wo es stehen wird, nicht ›Corpus Delicti‹, sondern ›Corpus da-leg-di‹ heißen.

    Grossenbacher weiß aber auch, dass seine Innovationskraft nicht gefragt ist, und nimmt sich darum vor, bei der kommenden Sitzung zur Umsetzung der nächsten Reorganisation einen Antrag für Bürobetten zu stellen. Doch seine Überlegungen werden unterbrochen, als Fehr seine Bürotür aufreißt. Seine Assistentin steckt den Kopf hinein: »Ah, du bist schon da. Ich habe Kaffee und Gipfeli mitgebracht. Möchtest du?«

    »Jap«, kommt die dankbare Antwort.

    Grossenbacher hat gerade sein Gebäck in den Kaffee getunkt und anschließend in seinen Mund geschoben, als sein Telefon klingelt.

    »Gr.ss.nb.ch.r!«, bröselt er in den Hörer und alles, was an sein Ohr dringt, sind ebenfalls Schmatzgeräusche. Doch er ist Detektiv genug, um sofort zu wissen, wer auf der anderen Seite am Apparat kaut. Darum ist Grossenbacher sofort auf der Hut, denn wenn Lüthi anruft, artet es für ihn meist in Arbeit aus. Er stopft sich schnell den Rest des Hörnchens in den Mund, denn man weiß ja nie, wann und wo man bei so viel Mühsal wieder etwas zwischen die Zähne kriegt. Ohne sich lange mit Nettigkeiten aufzuhalten – denn Zeit ist Geld und er muss noch einige Berichte abfassen – schluckt er und fragt gleichzeitig: »W.s w.llst d.?«

    »Wir haben einen Ladi. Zentralstrasse 19 in Dietikon, Filiale der Kantonalbank. Und, Paul, vergiss nicht, gleich die Spusi mitzunehmen, denn ich denke, wir kommen, wie meistens in solchen Fällen, sowieso zu spät. Aber vielleicht können die Techniker wenigstens Fingerabdrücke oder sonst einen Hinweis finden.«

    »Eh, halt, halt!« Grossenbacher greift zum Rest des Gebäcks. »Lüthi, du hast dich wohl verwählt. Für solche Fälle ist erstens die Stapo zuständig und zweitens nicht wir vom Leib und Leben, sondern die vom Sachdingsbums oder Strukturblabla.«

    »Paul, schon klar. Du musst mir die interne Organisation nicht erklären, wie du sicher weißt, war ich im Ausschuss für die Reorganisation.«

    »Man sieht, wo das hinführt. Der DC weiß nicht mehr, wer für was zuständig ist. Aber merk dir das. Für Ladis bist du definitiv falsch bei mir.«

    »Nein, man sagt mir, dass die Stapo um Hilfe gebeten hat. Normalerweise würde ich den Notruf auch bei der Ermittlungsabteilung Strukturkriminalität platzieren. Aber die sind zurzeit völlig am Anschlag. Darum habe ich mir gedacht, du könntest aushelfen. So kommst du wieder einmal an die frische Luft. Also, langer Rede kurzer Sinn: Du übernimmst den Fall! Keine Widerrede.« Lüthi legt auf, noch bevor Grossenbacher etwas sagen kann.

    Grossenbacher zögert. Denn diese Art von Befehlsausgabe erinnerte ihn an eine dunkle, längst vergangene Zeit. Damals hatte ihn der DC, wie jetzt eben, als Aushilfe für die Stapo beinahe ins eigene Grab geschickt. Nun, wenn das so ist, denkt sich der Wachtmeister von der Kriminalpolizei des Kantons Zürich, habe ich jetzt zu tun, und Arbeit macht bekanntlich müde. Aus Erfahrung weiß er auch, dass man nie gut fährt, wenn man zu schnell oder gar übermüdet losrennt. Denn am Ende schaut mehr heraus, wenn man die Dinge gleich von Anfang an in aller Ruhe angeht. Ebenso aus Erfahrung weiß er, dass ein Ladi nicht verwesen und folglich auch nicht stinken kann. Ganz im Gegensatz zu einem agT. Also kann er den Besuch getrost auf den Nachmittag verschieben und inzwischen sein Ohr liebevoll an den Bürosessel lehnen. Mit geschlossenen Augen überlegt sich Grossenbacher tatsächlich für ein paar Sekunden, ob er nicht einfach seine Assistentin Fehr schicken soll, denn was ist ein Ladi schon für einen Polizisten wie ihn. Nichts! Jedenfalls keine Aufgabe, höchstens Wasser in die Limmat getragen. – Allerdings weiß er, dass er seit einiger Zeit unter Beobachtung steht. Besonders, seit er damals den herumschnüffelnden McKinsey-Mann eigenhändig vor die Tür setzte, als er ihn beim Durchsuchen seines Büros überraschte. Auftrag des Regierungsrates hin oder her, aber was das Herumspionieren mit der Effizienzsteigerung des Polizeiapparates zu tun haben sollte, konnte ihm im Nachhinein niemand erklären. Was wiederum dazu führte, dass seine Tätlichkeit nur in Anführungs- und Schlusszeichen mit einem Verweis endete. Andere Kapo-Mitglieder kamen nicht so glimpflich davon. Der McKinsey-Berater leistete ganze Arbeit. Er kehrte den Laden so lange von unten nach oben, bis nichts mehr an seinem Platz war. Der Polizeiapparat samt Führung wurde so gründlich beraten, dass zum Schluss und weil wohl niemand mehr den Durchblick hatte, sogar der Chef der Kripo ausgewechselt wurde. Der neue Chef ist jetzt eine Chefin und heißt Jette Lærke Moser.

    Dass er immer noch unter Beobachtung steht, kümmert ihn herzlich wenig, denn ein Rauswurf würde seiner strapazierten Seele vielleicht sogar guttun. Also? Grossenbacher hebt trotzdem vorsichtig seinen Kopf von der Kunstlederpolsterung, wuchtet seine 100 Kilo aus dem Stuhl und macht sich auf den Weg in die Agglo.

    2. Kapitel

    Der Mann, der sich über das Geländer der Zürcher Quaibrücke lehnt, sieht nicht aus, als würde er wirklich springen – obwohl es vielleicht für alle besser wäre, wenn er’s täte. Jedenfalls denken dies einige Menschen, die ihn besser kennen oder lieber nicht kennen würden. Ab und zu, wie gerade jetzt, denkt er sogar selbst, dass es vielleicht das Beste sei, wenn er all dem ein Ende machen würde.

    Ununterbrochen schleicht hinter dem jungen Mann der Verkehr über die frisch sanierte Brücke, die sich mit sanfter Wölbung über die Grenzlinie zwischen See und Limmat spannt. Und plötzlich macht der junge Mann, aus der Distanz würde man ihn höchstens auf 24, vielleicht 26 Jahre schätzen, eine unbeherrschte Vorwärtsbewegung. Sein Oberkörper schnellt vor und für einen kurzen Augenblick scheint es, als schwebe er über dem Abgrund. Doch er fällt nicht. Er will auch nicht fallen. Er ist noch nicht so weit. Seine Hände klammern sich mit eisernem Griff ans Brückengeländer. Ein Zittern geht durch seinen Körper, das sich auf die Brüstung überträgt, sodass die Sprossen wie eine Harfe zu singen beginnen.

    Wie jeden Tag ist das Rondell ums Bellevue seeaufwärts komplett verstopft, und in der Gegenrichtung sieht es auch nicht viel besser aus – das alttägliche Chaos an Zürichs schönstem Verkehrsknoten mit Aussicht. Und die Zeit scheint im besten Fall stehen zu bleiben oder noch schlimmer, man hat sogar das Gefühl, sich rückwärts zu bewegen. Ein Tram der Linie 8 scheucht mit seiner schrillen Glocke eine japanische Touristengruppe, welche sich mit den Doppeltürmen des Großmünsters im Hintergrund fotografieren lassen will, von der Trasse. Aufgeschreckt vom Geräusch stieben die fernöstlichen Besucher wie aufgescheuchte Hühner über die Gleise und gackern freundlich lächelnd allerlei Unverständliches. Doch plötzlich bleiben sie stehen, denn auf einmal wissen sie nicht mehr, ob sie sich vor der mittelalterlichen Stadtkulisse oder vor dem Tram ablichten lassen sollen. Zürich scheint für die Touristen wie ein Gang auf dem Estrich in Großmutters Haus. Alles wirkt ganz schön alt und arg verstaubt.

    Eine Windböe wirbelt Staub vom Kiesweg hinter dem Utoquai-Bad in die Luft, eine Plastiktüte in den See und die gegelte Frisur des jungen Mannes, der sich immer noch ans Geländer klammert, durcheinander. Es ist ein windiger, aber erstaunlich warmer Frühjahrstag. Zürich glänzt wie schon lange nicht mehr. Die föhnklaren Glarner Alpen stechen scharf aus dem Himmel hervor, als wären sie nur 550 Meter weit entfernt. Die Strahlen der Mittagssonne brechen sich auf dem bewegten See. Er funkelt und glitzert mit den Auslagen an der nahen Bahnhofstrasse um die Wette.

    Für einen erfolgreichen Selbstmord ist die Brücke mit einer Höhe von knapp fünf Metern ungeeignet. Die Wassertemperatur beträgt laut Wetterseite des Tages-Anzeigers von heute immerhin 11,2° Celsius. Also zu wenig zum Baden, aber zu viel zum Sterben.

    Der klein gewachsene, sportliche junge Mann mit dem spitzen, dreieckigen Gesicht ist sich sicher, dass er nicht genau weiß, warum er sich gerade jetzt entschlossen hat, mit allem aufzuhören. Er hat einfach genug. Und er weiß ganz genau, dass, wenn er den Absprung jetzt nicht schafft, er ihn nie schaffen wird. Er würde sprichwörtlich vom Regen in die Traufe kommen. Ein Teufelskreis. Und er ist sich bewusst, dass er so oder so abstürzen wird!

    Der schwarz gekleidete Mann lehnt sich so über die Balustrade, als würde er sein Spiegelbild auf dem See um Hilfe bitten wollen. Ein scharf geschnittenes, kantiges Gesicht grinst aus dem grauen Wasser zurück. Aber nur für einen kurzen Augenblick, dann gleiten zwei Schwäne vorbei und sein Gesicht verzerrt sich in den Bugwellen zu einer unkenntlichen Fratze.

    Noch einmal wandert sein Blick über den See. Ist es Traurigkeit in seinen Augen oder nur einfache Enttäuschung? Weit draußen, vorn beim Zürichhorn, flitzen zwei Segelschiffe mit arger Krängung durch das Zürcher Seebecken. Die Gischt spritzt und wird vom Wind weit übers Wasser getragen. Gedankenverloren drückt er mit Daumen und Mittelfinger die beiden Narben. Die Haut unter seinen Fingern fühlt sich uneben und knubbelig an. Die Ränder der Wundmale sind nicht sauber verheilt. Je länger er darüber massiert, desto mehr Bilder drängen an die Oberfläche. Die Erinnerungen schärfen sich und damit kehrt die Angst zurück. Er erlebt die Ereignisse nochmals so real, als wäre alles erst gestern geschehen. Dabei sind seither zwei Jahre vergangen. Trotzdem ist alles wieder präsent. Zwei kräftige Männer stehen vor seiner Wohnung. Männer, die er nicht kannte. Männer, die er noch nie zuvor sah.

    Im selben Augenblick, als er diese Männer in seiner Tür erblickte, wusste er, woher sie kamen. Ihm war sofort klar, wer sie beauftragt hatte, warum man sie losgeschickt hatte und was sie von ihm wollten.

    Da konnte nur die Organisation dahinterstecken.

    Bis anhin hatte er innerhalb der Organisation nur mit seinesgleichen, Mitgliedern der unteren Chargen, Kontakt. Höchstens noch mit ein paar Fahrern. Trotzdem wusste er sofort – er hatte zuvor das Zuschlagen von Wagentüren unten auf der Straße gehört, hatte sich aber nichts weiter dabei gedacht –, dass sie zu niemand anderem als zu ihm wollten. Wie um seine Überlegung zu bestätigen, bauten sich die zwei Muskelberge vor ihm auf.

    Er staunte darüber, dass sein Gehirn nicht verzweifelt nach einem Ausweg suchte, sondern nüchtern festhielt, dass es sich bei den beiden Besuchern um Osteuropäer, vielleicht Rumänen oder Bulgaren handeln musste. Genauso nüchtern stellte er fest, dass es für eine Flucht wohl zu spät war.

    Ein unheimliches, beinahe perfides Lächeln umspielt seine Lippen, als er sich aufrichtet und seine stahlblauen Augen auf die immer noch schneebedeckten Spitzen der Glarner Alpen richtet. Vrenelisgärtli überstrahlt im Sonnenlicht die Nachbargipfel und der Tödi ist zum Greifen nah. Er überlebte es. Den Besuch. Aus einer unerklärlichen Assoziation heraus fragt er sich, ob es wohl ein Leben nach dem Tödi gibt? Ein alter Witz, den er irgendwo aufschnappte. Er ahnt nicht, dass er die Frage schneller beantworten kann, als ihm selber lieb sein wird.

    Er versteht auch nicht, warum ihm in seiner schwierigen Situation solch einfältige Gedanken durch den Kopf schießen. Trotzdem ist er sicher, dass er diesmal alles so eingerichtet hat, dass sie ihn nicht noch einmal am Absprung hindern können. Minutiös und mit größter Sorgfalt hat er in den vergangenen Wochen alle erdenklichen Spuren, die auf ihn zurückführen konnten, verwischt und zur Sicherheit sogar ein Paar falsche Fährten gelegt. Er ist mit seiner Arbeit zufrieden und kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Plan nicht funktionieren wird. Ein durchaus befriedigendes Gefühl und ein Anflug von Freiheit.

    Das Telefon in seiner Tasche piept. Eine SMS: »Lust? 10 Min.«

    »Gute Idee, warum eigentlich nicht«, brummt der junge Mann in den Wind und stößt sich vom Geländer ab. Die Worte fliegen ungehört übers Wasser. Er dreht sich vom Wind weg und versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. Der Rauch verliert sich zwischen den stauenden Autos auf der Quaibrücke. Er raucht, obwohl er es hasste. Der Stress, denkt er. Sowie er sich in Bewegung setzt, beschließt er, auch damit wieder aufzuhören. Genau wie die andere Sache am morgigen Freitag. Es wird das letzte Mal sein. Also eine Art Abschiedsgeschenk.

    3. Kapitel

    Das Telefon auf Aline Bosshards Bürotisch klingelt ungeduldig. Ihr Arbeitsplatz ist nicht besetzt und niemand in der offenen Bürolandschaft macht Anstalten, den Hörer abzunehmen. Als sich endlich die Tischnachbarin hinüberlehnt, um den Anruf entgegenzunehmen, verstummt der Apparat, als hätte er Angst vor der fremden Hand. Es herrscht wieder arbeitsame Ruhe. Nur das arrhythmische Geklapper, das entsteht, wenn gleichzeitig mehr als vier Hände Computertastaturen bearbeiten, füllt den Raum. Irgendwo läutet ein Mobiltelefon und eine unterdrückte Stimme nuschelt etwas Unverständliches. Eine andere Person verlässt den Raum. Nach fünf Minuten kehrt die gleiche Person zurück und zieht den Geruch von Rauch hinter sich her. Raucherpause.

    Das Telefon auf Aline Bosshards Bürotisch klingelt abermals. Diesmal ist die Tischnachbarin schnell genug.

    »Galli, am Anschluss Bosshard.«

    Sie hört kurz zu und unterbricht den Anrufer: »Nein, entschuldigen Sie, sie ist zurzeit leider nicht an ihrem Platz.« Sie wird unterbrochen, erklärt dann vehementer: »Nein, sie ist in einer internen Sitzung. Kann ich …«

    Der Anrufer spricht laut und schnell.

    »Nein, es tut mir leid. Aber ich kann Sie nicht verbinden und ebenso wenig kann ich Frau Bosshard in der Sitzung stören. Doch ich kann ihr eine Notiz machen, dass Sie angerufen haben oder dass sie Sie zurückrufen soll. Wie ist Ihr Name und um was geht’s?«

    Die Stimme wird noch lauter. Köpfe erscheinen hinter den Trennwänden.

    »… auch gut. Wie Sie wollen. Dann muss die Reparatur halt warten und Frau Bosshard geht später auf den See, da kann ich auch nichts gegen machen. Auf Wiederhören.« Die Bürokollegin schiebt den Hörer in die Halterung und macht dazu eine eindeutig ausfällige Handbewegung.

    Eine halbe Stunde später erscheint Aline Bosshard an ihrem Arbeitsplatz. Müde lässt sie sich auf den bequemen Bürostuhl fallen. Ein leiser Seufzer löst sich. Geschlagen blickt sie sich um. Sie muss sich sammeln, die Orientierung wiederfinden. Es scheint, als habe sie eine harte Besprechung hinter sich. Tief atmet sie ein paarmal durch, hebt den Blick und schiebt den Stapel Unterlagen von ihren Knien hinüber aufs Pult. Doch kaum hat sie sich wieder etwas gefasst, biegt ein junger dynamischer HSG-Absolvent mit stromlinienförmig zurückgeklebtem Haar und brutal angelegten Ohren um die Ecke. Ein Hai auf der Jagd. Ihr Chef. Die Hosenbeine flattern und in seinen Augen blitzt es wie auf dem roten Teppich in Cannes. Es ist Wut gepaart mit der bodenlosen Arroganz eines zutiefst beleidigten Akademikers. Eine äußerst explosive Mischung. Aline kann es nicht so schnell erkennen, wie sich das Gewitter über ihr entlädt.

    »Himmelherrgott noch mal! Wie kannst du nur so naiv sein?«, wettert der Glattpolierte. »Bis jetzt habe ich geglaubt, dass du deine Leistung in den Dienst unserer Firma stellst, aber was du dir da drin herausgenommen hast! Unerhört! Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher! Sag mir nur eines: Auf welcher Seite stehst du eigentlich?« Das Gesicht des Chefs gleicht einem italienischen Sportwagen. Flache, fliehende Stirn, windschlüpfrige Ohrenmontage und ein Hinterkopf wie ein Spoiler. Alles in Ferrari-Rot.

    »Oh, ich … ich …«, stottert Aline Bosshard und errötet ebenfalls, aber nicht aus Wut. Sie hat feuchte Hände.

    »Ich

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