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Haken schlagen: Ostfriesland-Krimi
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eBook244 Seiten3 Stunden

Haken schlagen: Ostfriesland-Krimi

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Über dieses E-Book

Die Stimmung von Hauptkommissar Jonte Janßen ist so trübe wie ein ostfriesischer Wintertag. Der brutale Mord an einer jungen Frau in Esens liegt schon einige Zeit zurück, doch der Fall lässt ihn nicht los. Vom Vorgesetzten als „dead case“ eingestuft, drehen sich seine Gedanken unaufhörlich darum – bis ein Geschäftsmann auf Durchreise erschlagen in der Tiefgarage seines Hotels aufgefunden wird und Jonte Janßen samt Team schleunigst Ermittlungserfolge vorweisen sollen. Weder die Polizeiinspektion noch die Stadt Aurich können sich weitere schlechte Publicity leisten. Als die wenigen Verdächtigen beginnen, Haken zu schlagen, nimmt sich Jonte Janßen vor, endlich aufzuräumen …

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783961521678
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    Buchvorschau

    Haken schlagen - Lothar Englert

    1.

    Scheißmontagmorgen

    Er geht den Weg wie einer, der sich auskennt. Achtet nicht auf Stufen, nimmt Ecken und Türen blind wie jemand, der nicht läuft, sondern gezogen wird. Der Eingang zum Büro, der Schreibtisch, die Akten. Papierloses Büro? Lachhaft. Auf dem Regal an der Wand steht der verbotene Kaffeekocher, den man hier ebenso findet wie in jedem anderen Zimmer. Die Fenster sind geschlossen, aber es ist trotzdem kühl. Die Luft riecht abgestanden, muffig. Scheißmontagmorgen. Borussia Dortmund hat verloren, der frühe ostfriesische Herbst zeigt sich von seiner hässlichen Seite, nass und kalt, und auf dem Arbeitsplan steht der übliche Mist. Die tägliche Drecksarbeit. Betrug, eine Körperverletzung, zwei Beleidigungen, eine unappetitliche Sache, die sehr nach Erpressung riecht, zwei Diebstähle vom Ende letzter Woche. Wieder einmal ist ein lieber Opa auf den Enkeltrick hereingefallen, im Carolinenhof sind dänische Touristen beklaut worden, am Zentralen Busbahnhof haben sich Besoffene geprügelt.

    An solchen Tagen fragt sich Hauptkommissar Jonte Janßen, Leiter im FK 1 der Polizeiinspektion Aurich, warum zum Teufel er Polizist geworden ist. Schollenbrecher wäre besser gewesen. Auch Geldeintreiber in einem Inkassobüro. Du könntest jetzt bei den Autoschraubern in Emden gemütlich in die Woche rutschen oder bei den Windleuten in Aurich ... aber nein, es musste ja der „bunte Rock" sein, die Salbung durch ein öffentliches Amt. Also Polizeischule von der Pike auf. Danach hättest du sagen können, Moment, Leute, es ist gut. Streifendienst. Aber nein, der verdammte Ehrgeiz. Kriminalausbildung. Gehobene Laufbahn. Nun beklag dich nicht, du wolltest es so haben.

    Jonte blickt sich finster im Büro um und denkt: Hier könnte auch mal einer aufräumen. Der Stapel mit Akten und Vorgängen türmt sich unordentlich, man könnte glauben, die hat jemand wirklich lieblos zusammengeworfen. Und mitten auf dem Schreibtisch der Fall Dorfmann. Den hat er selbst dorthin gelegt, am Freitagabend, als er die Nase gestrichen voll hatte und nach Hause gegangen ist. Der Fall Dorfmann ist einer der toten Fälle, ein cold case, so leblos wie ein trockener Baumstumpf, das hat ihm jedenfalls der Alte gesagt.

    „Bleiben Sie mir vom Hals mit dem Kram, hat Kriminaloberrat Hesselbarth geknurrt, „sehen Sie lieber zu, dass Sie den laufenden Mist regeln.

    Jonte sieht den Fall anders. Er steckt ihm im Kopf, er wird ihn nicht los. Es quält ihn, dass die Sau noch frei herumläuft. Immer wieder holt er den Ordner vom Regal, zwischendurch, wenn mal Luft ist, oft auch, wenn keine Luft ist.

    Er nimmt den Vorgang Dorfmann und schiebt ihn zur Seite, wie einer, der sich abgestoßen fühlt. Dann zieht er ihn wieder zu sich heran. Er will mit dem Alten darüber reden. Muss. Heute. An diesem Scheißmontagmorgen. Wieder einmal. Obwohl er die Antworten schon kennt. Ohne Kaffee geht das auf keinen Fall. Er füllt den Kocher. Von nebenan kommt das Gezwitscher der Mädels aus dem Sekretariat.

    Elfriede schiebt ihren weißblonden Kopf um die Ecke.

    „Keine Morgenandacht heute. Hesselbarth ist im Haus", sagt sie.

    Morgenandacht, das ist die Lagebesprechung der Fachkommissariate. Montags trifft sich gewöhnlich die große Runde mit dem Leiter der Polizeiinspektion. Heute also nichts von alledem, das ist die gute Nachricht. Hesselbarth ist schon da, das ist die weniger gute.

    „Im Altertum wurden Überbringer schlechter Nachrichten enthauptet!", knurrt Jonte. Sie grinst und schließt die Tür. Er zieht die Schultern hoch und spannt die Bauchmuskeln an wie einer, der einen Schlag in den Magen erwartet. Die Akte Dorfmann. Sie ekelt ihn an. Vorsichtig ausgedrückt. Sie stößt ihn ab und lässt ihn doch nicht los. Es ist die Tat, die dahintersteckt. Jonte öffnet den Ordner und beginnt zu lesen. Eigentlich unnötig, denn er kennt jedes Wort. Dieser Fall macht ihm das Leben sauer. Zu viele offene Fragen, zu viele lose Enden, Hindernisse und Rätsel, wohin man sich auch wendet, eine ewige Baustelle. Widerlich. Zum Kotzen. Aber dann, wenn er daran denkt, packt ihn die Wut. Und dann kommt die Gier, der Drang nach Erfolg. Erfolg? Nein. Genugtuung. Er will den Täter fassen und bestraft sehen. Auch des Opfers wegen.

    Er ist mit Schwung eingestiegen, als Leiter der Sonderkommission, die bald zu einer normalen Ermittlungsgruppe zusammengeschmolzen ist, die er ebenfalls geführt hat. Aber rasch wurde klar, es geht nicht vorwärts damit. Die Spurenakte ist so dünn wie das Punktekonto von Werder Bremen. Die Kollegen am Tatort haben schon merkwürdig geguckt, irgendwie mitleidig, als wollten sie sagen, ihr armen Schweine, dann macht mal schön. Viel Glück und Gott befohlen. Es dauerte auch nicht lange, und der Fall lief sich fest. Keine Spuren. Das war zu erwarten; der Tatort war flächig abgespritzt, zuerst mit einem Pulverlöscher, dann mit einem Schaumlöscher, das hatte bereits die Tatortgruppe festgestellt. Dabei hat der Täter offenbar sogar kaltblütig gewartet, das Pulver wirken lassen, ehe er den Schaum ausbrachte. Das Pulver hat alle Feuchte aufgesaugt und jedes bisschen Fett gebunden. Der Schaum hat das Pulver zu einem schmierigen Brei verklebt. Alles Verwertbare an Täterhinweisen ist verloren gegangen, so sieht es jedenfalls aus. Kein Haar, keine Hautschuppe, kein Blut außer dem des Opfers, keine Fingerabdrücke des Mörders, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat.

    Wahrscheinlich bin ich inzwischen zu vernagelt, blind, sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das hat er auch dem Alten gesagt. Der hat ihn angesehen wie ein Professor einen Sonderschüler und dann den Kopf geschüttelt. „Zu vernagelt und blind fällt mir allerdings das eine oder andere ein, Janßen, hat er spröde bemerkt und sich rüde weggedreht. „Nun lassen Sie mal die Hände davon. Es gibt eine alte Indianerweisheit; wenn dein Pferd tot ist, steig ab!

    Kriminaloberrat Hesselbarth. Ein Sprücheklopfer aus dem Emsland. Auch nicht gerade eine Erleichterung der Arbeit. „Ich reite nicht und bin auch kein Indianer", hat Jonte dem Alten nachgerufen, aber da war der schon durch die Tür.

    Jonte seufzt und blättert. Der Fall Dorfmann. Über gelöste Fälle schlägt Janßen, auch wenn sie hässlich waren, ein gnädiges Kreuz, eine Geste der Versöhnlichkeit: Du hast mich zwar angekotzt, aber nun, Schwamm drüber und endgültig aus meinen Augen. Hier ist es anders. Die Sache Dorfmann ist besonders abstoßend, besonders widerwärtig, besonders erschütternd. Das hat Jonte sofort empfunden, bei der ersten Begehung des Tatorts. Die Spurensicherung war noch bei der Arbeit.

    Er erinnert sich: Eine Frau wurde ermordet, aber das reichte dem Täter nicht. Sie wurde bestialisch geschlachtet, doch das schien ihm nicht zu genügen. Sie hing mit dem Mund in einem Garderobenhaken, bei dem der Holzstopfen eigens entfernt worden war. Der Haken war mit großer Brutalität durch den Gaumen in den Schädel hineingetrieben worden und trat am Tränenbein wieder aus. Der Täter war folglich nicht nur ein Sadist, er musste über erhebliche Kraft verfügt haben. Und er war ruhig zu Werk gegangen, hatte sich bei allem Zeit gelassen, ein bestialischer Zyniker. Die Tote war klein und zierlich. Trotzdem hatte der Haken ihr Gewicht nicht lange getragen. Als man sie fand, lag sie auf dem Boden, das Garderobenbrett bedeckte ihr Gesicht, sodass man diese grausame Verletzung nicht sofort sah. Der Anblick reichte trotzdem, der Fotograf vom Erkennungsdienst wurde augenblicklich grün im Gesicht. Und das sind harte Jungens, denen kannst du ins Bier spucken, sie trinken es, ohne zu zucken.

    Am Tatort der beschriebene schmierige Dreck, Blut und Schweiß des Opfers, das Opfer selbst, die üblichen Hinterlassenschaften einer bösen Tat. Aber keine Spuren des Täters, keine DNS-Nachweise. Dabei war der Mann weder von geisterhafter Körperlosigkeit gewesen, noch hatte ihn ein Vakuum umschlossen. Er hatte sich mit Sorgfalt bekleidet und war vorsichtig gewesen. Die weiteren Fakten waren gleichfalls dünn und halfen nicht weiter. Das Opfer, eine junge Frau aus Wangerland, unbescholten und ehrbar. Sie arbeitete in einem Supermarkt und lebte allein. Die Befragung ihrer Familie im Ruhrgebiet erbrachte kein brauchbares Indiz, keinen verwertbaren Hinweis. Die Nachbarn ebenso unergiebig. Niemand konnte sagen, wann sie mit welchem Ziel, begleitet oder allein, ihre kleine Wohnung zum letzten Mal verlassen hatte.

    Der Tatort, ein für den Winter abgestelltes Wohnmobil in einer Scheune bei Esens, warf unzählige Fragen auf. Der Besitzer der Scheune war ein Bauer vom Stadtrand, nun Rentner, der auf seinem alten Hof lebte. Er war bei seiner ersten Vernehmung derart entsetzt, dass er sich nicht zusammenhängend äußern konnte. Es war sein Wohnmobil. Er fand auch die Frau. Wie sie dort hinkam, konnte er nicht erklären. Zeugen gab es keine, alle Ermittlungen liefen ins Leere. Die Tür des Wohnmobils sauber geöffnet, keine Spuren eines Kampfes am Tatort. Natürlich deutete zunächst alles auf den ehemaligen Bauern als Täter, auch auf seine Frau, weil man von beiden DNS-Spuren fand, nicht bei der Leiche und in ihrer Nähe, aber im Schlaftrakt und überall sonst. Zudem war das Schloss des Mobils nicht aufgebrochen worden. Der Landwirt versicherte glaubhaft, dass der Wagen verschlossen gewesen war. Er verwies zudem auf die Tatsache, dass er seine Flächen verpachtet hatte. Der Pächter nutzte auch den Schlepper und Gerät des alten Fuhrparks. Dann waren da die Leute, die ihre Fahrzeuge im Winter für kleines Geld in der Scheune abstellten. „Hier laufen manchmal auch Fremde rum, sagte er. „Ich kann nicht jedes Gebäude auf dem Hof ständig im Auge behalten.

    Es ist zu einfach, dachte Jonte damals sofort, der Bauer, Dorfmann, so heißt er, ganz klar, wer sonst? Oder die Frau. Sie ist robust, vielleicht hat sie auch die nötige Kraft. Trotzdem: zu einfach.

    Und dann stellte sich heraus, es war tatsächlich zu einfach. Denn Dorfmann hatte ein Alibi, und das war wasserdicht. Zur ermittelten Todeszeit der Frau, also zur Tatzeit, war Dorfmann mit seiner Frau in Berlin gewesen, dafür gab es eine Menge Beweise. Reiseunterlagen, Rechnung des Hotels, Zeugen natürlich. Seine Frau und Freunde, die das Paar begleitet hatten. Das Hotel bestätigte den Aufenthalt der Dorfmanns. War er die ganze Zeit anwesend gewesen? Darauf gab das Hotel nur widerwillig Auskunft. Was heißt, die ganze Zeit? Glauben Sie, wir schnüffeln unseren Gästen hinterher?

    „Hören Sie mal, sagte Janßen, „wir spielen hier nicht im Sandkasten. Ich ermittele in einem Mordfall.

    „Und?, fragte der Concierge. „Was ändert das?

    Die Berliner Kollegen ermittelten nochmals vor Ort. Das Ehepaar war zur fraglichen Zeit im Hotel Eremitage einquartiert gewesen. Mehr war nicht zu erfahren.

    Dorfmann kam also höchstens als Drahtzieher in Frage, als Auftraggeber, doch dafür gab es kein Motiv. Nicht den geringsten Hinweis. So viel hatten die Ermittlungen ergeben; zwischen Dorfmann und der jungen Frau gab es keine Verbindung. Auch keine indirekte. Es war ihm nichts nachzuweisen. Die Akte hatte ihren Namen trotzdem behalten, Fall Dorfmann steht auf dem Deckel, den Jonte jetzt fallen lässt wie die Klappe einer Jauchegrube.

    Natürlich hatten sie auch den Pachtbauern und seine Familie überprüft. Junge Leute in ihren frühen Dreißigern, die schon einen mittleren Hof bewirtschaftet und sich mit Dorfmanns Äckern profitabel erweitert hatten. Nichts. Kein Hinweis, nicht der kleinste Ansatzpunkt für eine Verbindung zu dem Mord. Dann waren sie die Reihe bekannter „Kunden" durchgegangen. Es war klar, eine solch viehische Tat hatte es in Ostfriesland noch nie gegeben, aber wer kam denn als Täter in Frage? Wem konnte man eine solche Schweinerei zutrauen? Auch diese Ermittlung lief ins Leere. Wer überhaupt ansatzweise für fähig gehalten wurde, war tot oder saß ein. Es gab auch keine Fälle in den Akten, die ähnlich abgelaufen waren.

    Jonte Janßen hockt noch da, als das Veilchen zur Tür hereinkommt. Kommissarin Banafsheh Schariatmadari. Ihre Eltern sind während der Revolution aus dem Land geflohen, das damals noch Persien hieß. Die Tochter ist in Aurich geboren. Banafsheh ist das persische Wort für Veilchen, und so nennt Jonte sie. Manchmal im Stillen auch Erfreulicher Anblick, denn das Veilchen ist von rassiger Schönheit.

    Sie wirft einen schrägen Blick auf die Akte. „Igitt!, sagt sie. „Der Fall Dorfmann. Sie setzt sich zu ihm an den Schreibtisch und nimmt sich seine Kaffeetasse. „Ich könnte mir einen besseren Wochenbeginn vorstellen."

    „Wer nicht?, brummt Jonte und nimmt ihr die Kaffeetasse wieder weg, aber das Veilchen hat schon einen großen Schluck daraus gezogen. „Noch mal igitt. Viel zu wenig Zucker, sagt sie.

    „Wer fremden Kaffee trinkt, sollte nicht meckern. Und macht sich strafbar", ist alles, was ihm dazu einfällt.

    „Mundraub!, kontert das Veilchen lässig. „Bagatelldelikt. Wird nicht verfolgt.

    Der erfreuliche Anblick macht sich selbst einen Kaffee, sie sitzen und reden über den Fall, dürr, fast träge klingt das, sogar lustlos, die Worte und Sätze dehnen sich. Aber das täuscht. Jonte weiß, er will den Täter haben, und Banafsheh denkt genauso. Die Kommissarin war von Beginn an im Team, auch ihr steckt die Sache im Hals wie eine Fischgräte. Aber es ist klar, der Alte denkt anders darüber. Kriminaloberrat Hesselbarth ist pflichtbewusst, er will den Mord grundsätzlich aufgeklärt haben. Doch nicht um jeden Preis. Nicht wenn die Arbeit daran dazu führt, dass der Rest liegen bleibt. Der Rest, das sind die Einbrüche und Diebstähle, die Beleidigungen und Körperverletzungen, der ganze Mist, der sonst noch anfällt. Der Alte will Durchsatz, sein Zentraler Kriminaldienst soll florieren wie ein gut geführter Supermarkt. Damit will Hesselbarth sich empfehlen, er schielt auf höhere Aufgaben.

    „Sisyphus, murmelt das Veilchen, „oder auch gordischer Knoten, und Jonte hebt ratlos die Schultern. Er erinnert sich, wie es war, als der Fall hereinkam. Nämlich wie immer. Die laufende Arbeit in ganzen Sachgebieten stand augenblicklich still. Der gesamte Zentrale Kriminaldienst ließ alles stehen und liegen und stürzte sich auf dieses eine Problem. Personal würde zusammengekratzt, die übrige Inspektion arbeitete wie nötig zu. Sonderkommission. Eine feine Zeit für Diebstähle. Für Betrügereien und kleine Gaunergeschäfte. Die Polizei dreht im Fleischwolf, und das Gesindel schwebt auf Wolke sieben. Darum kann sich jetzt nämlich niemand mehr kümmern. Keine Ermittlungen in solchen Fällen, kein Studium von Akten, keine Vernehmungen. Alles bleibt liegen. So ist es zumindest in den ersten Tagen, ehe die Ermittlungsgruppe übernimmt, ein kleineres Team, vier oder fünf Leute. Aber es lohnt sich, wenn man schließlich sagen kann, so verhält sich die Sache, der hat’s getan und wird verknackt. Hier nicht. Hier konnte man das nicht sagen. Man wusste keinen, der es getan hatte, keiner wurde verknackt. Die Sau läuft noch immer frei herum und freut sich ihres Lebens. Speiübel kann einem werden, wenn man daran denkt.

    Müller kommt herein, wie üblich ohne anzuklopfen. Der Leiter FK 2 grüßt nicht, nickt nur knapp. Auch wie üblich. Müller hat eine Schwäche für alles, das mit Fahndung zu tun hat. Er vollstreckt gerne Haftbefehle und findet zuverlässig alle Leute, die ihre Strafmandate nicht bezahlen wollen. Überall. Dann geht er mit ihnen zur Bank und sieht zu, wie sie überweisen. Dabei grinst er gerne dreckig. Warum nicht gleich so? Der Kollege Oberkommissar ist aber aus dem Gleichgewicht, weil derzeit unbeweibt. Seine letzte Beziehung hat er erst unlängst in den Tabak geschossen, so nennt er es.

    „Warum?", hat Jonte gefragt.

    „Warum schon, Mann. Nach jeder Nacht dasselbe Theater. Guten Morgen, mein Schatz. Wie hast du geschlafen? Hast du gut geschlafen? Was? Hast du gut? Ich habe wunderbar geschlafen. Ganz wunderbar habe ich geschlafen. Was hast du geträumt? Wie? Hast du geträumt? Ich habe nicht geträumt. Rein gar nichts habe ich geträumt, denk dir nur. Und so fort. Endlos. Ständig. Jeden Morgen dieselbe Litanei. Das kann ich nicht ab. Keine Sau hält das aus, so früh am Tag, du auch nicht, Janßen."

    Müller pliert jetzt scheel auf den Aktendeckel, grinst freudlos. „Oha, sagt er trocken, „das Ende des Lateins. Noch so eine Metapher. Er sieht sich suchend um, stiefelt nach nebenan, kommt mit seiner Tasse zurück, bedient sich großzügig aus der Kanne.

    Jeden Morgen dieselbe Litanei, denkt Jonte und grinst. Ist aber nur Mundraub, so hat es das Veilchen genannt.

    Müller sieht ihn an. „Hesselbarth?"

    Janßen nickt.

    Dann geht die Tür wieder auf, ein weißblonder Schopf schiebt sich um die Ecke. Elfriede. „Jetzt", sagt sie.

    Müller verlässt fluchtartig den Raum. „Schaff mir bloß nichts an!, mault er noch. „Hab auch ohne den Scheiß genug zu tun.

    Jonte nickt Banafsheh zu und nimmt sich die Akte Dorfmann.

    Kriminaloberrat Hesselbarth ist Mitte vierzig und unzufrieden. Das hat sich in der Polizeiinspektion herumgesprochen. Sein Rang, so findet er, entspricht weder seinem Dienstalter noch seinem Können, und seinen Fähigkeiten gemäß verwendet wird er auch nicht. Das muss anders werden. Er hat noch viel mit sich vor. Sein Fortkommen in der Polizei wurde vielfach durch unfähige Untergebene behindert. So wie hier, in dem Fall Dorfmann. Er wirft einen schrägen Blick auf den Vorgang.

    „Kommen Sie bloß nicht wieder damit!, sagt Hesselbarth spröde. Dann beugt er sich vor. „Ich mache Ihnen mal eine Rechnung auf, Herr Janßen. Wir hatten eine Sonderkommission. Vierundvierzig Mann stark. Fünf Tage. Danach eine Ermittlungsgruppe. Fünf Mann. Drei Wochen. Ergebnisse: null. In dieser Zeit blieb der ganze Kleinscheiß liegen. Den Bauch schieben wir heute noch vor uns her. Es reicht!

    Sie haben sich beide hingesetzt, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Die Kommissarin hat bei jeder „Mann"-Erwähnung eine Schnute gezogen, zu Recht, denn sie war im Team und nicht als einzige Frau.

    „Ich will noch mal hinfahren", sagt Jonte lahm.

    „Nein, sagt Hesselbarth. Seine Augen werden schmal. Jetzt nerv mich nicht mit diesem Mist, scheinen sie zu sagen. „Ich weiß, was Sie auf dem Schreibtisch haben.

    Mehr als du, denkt Jonte.

    „Sie sind doch schon tausendmal ...!"

    „Dann eben zum tausendundersten Mal!", sagt Jonte bockig.

    Der Kriminaloberrat setzt sich zurecht. Sein Schreibtisch ist blank, nichts ist

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