Gestrandet in Weimar
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Über dieses E-Book
Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch. Erleben Sie Weimar und Menschen wie du und ich mit ihrem Alltag, ihren Schicksalen und ihrem natürlichen Lebenslauf von der Schule bis zum Ende.
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Buchvorschau
Gestrandet in Weimar - Doris Vogt-Köhler
Zum Inhalt
Stellen Sie sich vor, wieder Schüler zu sein, in einem Klassenraum zu sitzen und auf dem Schulhof herumzutollen. Da bleiben Rangeleien nicht aus. Wecken Sie diese Erinnerungen und tauchen Sie ein in die Schulatmosphäre eines in die Ecke gestellten weiblichen Lehrertorsos. Erinnern Sie sich an die eigene Bauecke mit den vielgestaltigen Bauklötzen und natürlich an die Deutschstunden, in denen Grammatik wie das Partizip II gepaukt wurde. „Gestrandet ist so ein Mittelwort, das geprägt wird durch Vorsilbe und Endung. Dazwischen liegt das Hauptwort „Strand
. Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch, aber ein kostbarer erlebniswerter Strand bleibt das Städtchen Weimar.
Spazieren Sie entspannt mit Blicken rechts und links auf die Menschen entlang dieses Strandes und entdecken am Horizont das große Meer des Menschseins.
1 Schule
Lehrerin Elvira Jung
Nebel. Erste Ampel Grünphase. Zweite Ampel Steinbrücke Oberweimar. Eine edelförmige Festung mit überwältigender Eleganz erhöht über jegliche Wassergefahr. Die kleine Ilm überfliegen. Bei Grün darüber fahren, und alles ist abgestreift, alle quälenden Gedanken versenkt in der Ilm. Glücklich. Erledigt. Alles hinter der Brücke gelassen. Ampel Belvederer Allee. Der Vordermann pennt. Beide Autos hätten es geschafft, vor dem Bus der Linie 1 links in die Berkaer Straße abzubiegen. Gnädig lässt man die Fahrzeuge stadtauswärts vorbeirollen. Trotzig mit zusammengebissenen Zähnen Halt vor der Ampel Breitscheidstraße. Fleckenlos leuchtet das Rot durch den Nebelschleier. Blutiger Heiland. Nein, so etwas darf Elvira nicht denken. Das Rot als Signal mit Blut zu assoziieren, das ist pervers. Einigermaßen erholt von dem Schrecken ihrer Gedanken die Ampel Poseckscher Garten. Alle meine Kochtöpfe rechts und links mit Rührlöffeln in der rechten Hand und Glimmstängeln im Mund. Egal, welche kreativen Handbewegungen sie Elvira zeigen, sie wartet auf die Grünphase. Ampel Trierer Ring. Grün. Ein Freudenblitz der Parkplatz in der Shakespearestraße. Endlich wieder in ihrer Schule.
Was war das? War sie im falschen Film? Seit drei Jahren kannte sie die Gesichter ihrer Schüler. Jedem Schüler hatte sie ihren ganz persönlichen Namen gegeben. Genauer gesagt, eine Datei mit Namen in ihrem Kopf angelegt, in der sie die wichtigsten Dinge abspeicherte. Der Name einer Gesichtsdatei stimulierte sie am Morgen fröhlich oder auch wachsam zu sein. Gregor Weinbaum hieß bei ihr Kalaschnikow oder AK-47, wenn sie sich Aufzeichnungen machen musste. Es gab kaum eine Schlägerei auf dem Schulhof, an der er nicht beteiligt war. Wie ein Sturmgewehr richtete er seine gekrümmten Fäuste auf alles, was sich seiner Meinung nach falsch bewegte. Präziser ausgedrückt war Kalaschnikow der Schatten von Facebook. Als sie Kevin Höfel zum ersten Mal sah, fiel ihr sofort der Name Facebook ein. Sein Gesicht war einfach zu großflächig dominierend. Auch seine Borstenhaare konnten es nicht niederdrücken. In seinen Mundwinkeln sammelte sich ständig eine klebrige Speichelmasse, die sich bei gelegentlichen, unverhofften sprachlichen Anforderungen durch Lehrer oder andere Schüler, enorm aufschäumen konnte. Wenn er sprach zogen sich Schleimfäden von der borkigen Zunge ganz untypisch und nicht der Erdanziehungskraft folgend seitlich zu den Wangen. Plötzlich verschwanden diese filigranen zwiebelmusterartigen Gebilde in den Hautzellen. Besonders bei einem Vortrag, den er zu halten hatte, versuchte Elvira Jung dem Phänomen auf die Schliche zu kommen oder Muster dieser Schleimfäden zu erkennen und wie sie in den porösen Zellen verschwinden konnten. Oft wurde ihre Aufmerksamkeit von den Beobachtungen dermaßen in Anspruch genommen, dass sie gar nicht mehr wusste, worüber Facebook referierte, geschweige den Inhalt des Gesagten kannte. Sie fragte dann erst einmal die Schüler, wie sie den Vortrag einschätzen und benoten würden.
Da es Facebook an eigenen Gedanken und Erfahrungen mangelte und er nur die der anderen Facebookschreiber weitergeben konnte, versuchte er diesen Mangel mit blasiger zum Teil schmutziger, stinkender Fantasie auszugleichen. Die Folge waren Streitigkeiten, die er mit Vorliebe durch Körperkontakt austrug, aber nur, wenn er Kalaschnikow in Reichweite vermutete. Sie erinnerte sich noch gut an eine Schlägerei im vergangenen Schuljahr, weil das Resultat ihrer Herangehensweise sich als positiv erwies. Erfolgserlebnisse dieser Art streicheln das Gemüt eines Lehrers ganz besonders. Was war geschehen:
Große Pause. Es klopfte energisch an der Lehrerzimmertür. Jemand öffnete. Wie ein spulender Kreisel rollten die Augen des frisch ausgebildeten Schülerstreitschlichters, der noch unter der Fernwirkung seiner Schulung stand, über die Lehrerköpfe. Endlich hatte er Frau Jung entdeckt, und sie solle ganz schnell mal vor die Tür kommen. Gleich legte der Streitschlichter los:
„Ihre Schüler da haben zum wiederholten Mal eine Schlägerei auf dem Schulhof angezettelt." Dabei zeigte er auf die in sich hinein feixenden Jungen Kalaschnikow und Facebook an der gegenüberliegenden Wand. Der Streitschlichter wurde vermutlich von hochqualifizierten Lehrern, also von Pädagogen, die in Leitzentralen sitzen und damit weit von der täglichen Realität entfernt, geschult. Die von den Schülern abgeschirmten Kollegen konnten sich solche faustischen Sachen ausdenken in der festen Überzeugung, ein Allheilmittel gegen die oft brutalen Schlägereien erfunden zu haben. Die Schlägereien interessierten sie selbst weniger, wenn da nicht die unzensierten Pressemitteilungen und statistischen Erfassungen gewesen wären. Diese alphabetisch abheftenden Statistiker hatten den Streitschlichter in so eine Schieflage gebracht. Sie hatten ihm suggeriert, es läge an der schlampigen Hofaufsicht, an den gleichgültigen Lehrern oder aber an der Verantwortungslosigkeit des Klassenlehrers, wenn Schlägereien auf dem Schulgelände ausgetragen würden. Also Schlägereien bitte immer vor dem Schulgelände. Die Erfindung der Schülerstreitschlichter war in den Augen von Elvira Jung Kindesmissbrauch in höchster Potenz. Die Kinder sollten es richten, sollten verschlissen werden, weil die Verantwortlichen ohnmächtig waren, ein gesundes Selbstwertgefühl der Schüler mittels gut ausgebildeten, belastbaren Lehrkräften und diesbezüglich abgestimmten Lehrplänen zu entwickeln. Das betraf nur die Schule. Das Wirrsal darumherum musste gelenkt werden. Die Familie, in die sich die Kinder nicht mehr zwängen lassen wollten. Die googelnden Medien machten einige Schüler völlig wehrlos, fesselten sie und breiteten sich aus in Raum und Zeit.
Irgendwie wollte Frau Jung ihre Erkenntnisse auch dem Streitschlichter verdeutlichen. Deshalb antwortete sie in gereizter Stimmung:
„Na und? Du bist doch der Streitschlichter. Das stand groß und breit mit deinem Foto in der Zeitung. Was erwartest du von mir?"
Jetzt war der Streitschlichter verblüfft. Er erholte sich erstaunlich schnell.
„Aber Sie sind doch die Klassenleiterin."
„Also du gehst davon aus, dass ich meinen Schülern den Auftrag zu der angeblichen Schlägerei erteilt habe."
Der Streitschlichter knirschte mit den Zähnen. In seinen Gehirnwindungen schien sich ein Kampf abzuspielen bezüglich der Begriffe: Lehrerinnen, Klassenlehrerinnen, Besserwisser, Arschlöcher. Es siegte wohl der letzte Begriff bezüglich seiner Mimik und Gestik. Was ihn sichtlich ärgerte, war das kleine Wort angeblich. Der Tatbestand der Schlägerei wurde von dieser Lehrerin angezweifelt. Typisches Verhalten, aber für Lehrer ungewöhnlich. Die Lehrerin war höchstwahrscheinlich verärgert, dass kein Schüler ihrer Klasse wie der Höfel oder der Weinbaum als Streitschlichter auserwählt wurden. Die Schüler an der Wand hüstelten, und das war kein gutes Zeichen. Also setzte Frau Jung ihre Lehrermiene auf und handelte.
Erst einmal von den gewalthaberischen Aktivitäten ablenken. Im Klassenraum mussten Kalaschnikow und Facebook auf einem Zettel die Frage beantworten: Wie soll meine zukünftige Frau aussehen? Kalaschnikow schrieb: Ich werde mir erst gar keine anschaffen, weil sie einem nur das Geld aus der Tasche ziehen. Facebook brauchte etwas länger für seine schriftstellerischen Ergüsse: Sie soll grüne Haare haben und einen Geierkopfhals, darauf eine Matschbirne mit Mausohren, Schlitzaugen und möglichst Oberlippenbart. Sie sollte mindestens 300 Kilo wiegen. Jetzt konnten die beiden Schüler über ihre schriftlichen Äußerungen, die Elvira Jung wie eine Nachrichtenverleserin vortrug, erst einmal richtig lachen, ehe sie mit dem Erziehungsziel anfing:
„Ich will euch sagen, dass ihr nie eine Frau mit eurem tierähnlichen Balzgehabe bekommen werdet. Höchstens so eine mit grünen Haaren, Oberlippenbart und 300 Kilo. Da müsst ihr rennen, das Klo putzen, den Müll hinunterbringen und die Urängste der Männer überwinden, nicht mehr herauszukommen."
Die Zweideutigkeit der letzten Worte gefiel den Jungen. Sie schmunzelten. Also fuhr Frau Jung fort:
„ Welches Mädchen nimmt einen Schläger? Die wissen doch, wenn kein anderer zur Verfügung steht, werde ich geschlagen. Auch wenn sie noch so verliebt wären, die Mädchen wägen schon genau ab. Sie nehmen lieber den Zweitplatzierten."
Irgendwie hatte Frau Jung damals ins Schwarze getroffen. Der Streitschlichter holte sie nicht mehr. Es konnte aber auch daran liegen, dass der Streitschlichter nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Von der Heppe (Ziege) auf den Mohnkuchen, nannte man in Weimar solche Herangehensweisen. Nie direkt auf den Tatbestand eingehen. Ablenken. Aggressionen abbauen. Lösung des Problems in einer entspannten Atmosphäre. So hätte man die Streitschlichter schulen müssen und nicht mit Androhungen: Jetzt kommt ihr mit zu eurer Klassenlehrerin. Kalaschnikow und Facebook würden das auch nicht ein zweites Mal mitmachen. Sicher waren sie damals überrumpelt worden, und wahrscheinlich hatten sie sich den Streitschlichter vorgenommen. Diese militärisch kurzgeschorenen ahnungslosen Streitschlichter hätten zuerst Grundkurse im Boxen oder Kick-Boxen, in Judo oder Selbstverteidigung absolvieren müssen, um selbst beherzt und lustig reagieren zu können, die körperliche Gewalt der Schüler umzulenken auf die sportliche Ausbildung der Muskulatur und die Erschließung einer gewaltfreien Gedankenwelt. Als Vorbild eben. Außerdem müssten sie mit einem modernen Handy ausgestattet sein, um den Tathergang den Kontrahenten und den Lehrern vorzuführen. Möglichst mit geteiltem Bildschirm. Auf der einen Seite die Schlägerei, auf der anderen Seite ein Boxkampf mit einem der Klitschkobrüder. Das hätte Wirkung gezeigt, aber nicht so ein kreischendes Äffchen, das von den Aufsichtlehrern ausgenutzt wurde. Kalaschnikow und Facebook würden von einer sportlichen Betätigung, die ihnen Freude bereitete, ein Leben lang profitieren. Allein der Vergleich mit anderen, die Vorführung ihrer Unzulänglichkeiten, ihrer Beherrschbarkeit und Dummheit würden einen Hohlraum in der angeschlagenen Gefühlswelt füllen. Aber das kostete Geld. Schüler in ertappten gewalttätigen Situationen reagierten meist schleudertrotzig. Sie schleuderten trotzig mit negativ besetzten Ausdrücken und mit den unkontrollierten Bewegungen ihres Körpers nur so um sich herum. Ihr Ziel konnten alle sein, auch Lehrer. Wieder ein neues Problem.
Eine Schlägerei war meistens ein undurchsichtiges Gestrüpp. Die Aufgabe des Lehrers bestand darin, Einsichten bei den Schülern von sich heraus zu entwickeln. Den Kern einer Schlägerei musste man aufknacken. Erstaunlicherweise gab es oft gar keinen nur angeheizte Winde, die kleine Flammen unheimlich aufwirbelten, die dann weiter schwelten, bis ein neuer Wind aufkam. Der Wind blies meistens von Zigarettenkippe zu Zigarettenkippe und wurde angefacht, wenn keine mehr in Reichweite war. Bei den Schülern von Frau Jung handelte es sich um ganz etwas anderes. Gefühle drückten und brannten in ihnen. Gefühle, die die Sinne aufwühlten. Sie versuchten, sich bei der Auserwählten umherzudrücken, sich festungsartig zu profilieren. Das Objekt der Begierde war bei Lehrerin Elvira Jung als Lady Gaga abgespeichert. Ihr in den Schulakten vermerkter Name, der auch ins Klassenbuch übertragen wurde, lautete Samanda Aurelli, wo immer man den Namen aus Rumänien kommend abgeschrieben hatte. Vielleicht stammte der Name von der Autobahn, abgeguckt von einem vorbeifahrenden Zirkuswagen. Sämtliche Papiere wären ihren Eltern gestohlen worden. Samanda war die älteste Tochter der Familie Aurelli, und sie hatte mittlerweile sechs Geschwister, alle in Deutschland geboren, dazubekommen. Samanda war ein Wunderwerk der göttlichen Schöpfung. Wie auf einer feinstrichligen Skala konnte man jeden Tag die Farbnuancen ihres Makeups abgestimmt mit den Haargebilden und den geschminkten Oberlidern der Augen in den Farbkreis eines Johann Wolfgang von Goethe einordnen. Ihr Haar lockte sich ähnlich wie die Wolle von Merinoschafen, aber mehr buntgrotesk in kleine Inselchen. Manchmal erinnerte es, besonders bei den tiefblau eingefärbten Spitzen, Elvira Jung an ihre Teller mit dem Zwiebelmuster. Strahlend schön Samandas voller Mund. Ein Sonnensegel, aus dem helle klare Töne herausströmten. Allerdings war am Ende eines Schultages oft ihre Datei leer. Lehrerin Elvira Jung war sich der Unzulänglichkeit ihres Datenspeichers bewusst. Bei einer Datei, die die Fähigkeit hatte, Plus und Minus gesetzgebunden gegen zurechnen, blieb am Ende nichts mehr einzuordnen für die Gutachten und Beurteilungen. Zu Beginn sammelte Samanda alias Lady Gaga mit ihrer Aufmachung, ihrer rührenden Begrüßung der Schüler und der Lehrer viele Pluspunkte. Aber wenn sie dann in der Unterrichtsstunde dreimal an den Lehrertisch kam und ganz leise zischte:
„Isch versteh das nisch", war Elvira Jung genervt. Aber nur einmal hatte sie sich dazu hinreißen lassen zu antworten:
„Morgen lässt du deine Bewaffnung Zuhause."
„Isch keine Bewaffnung haben", war die Antwort.
Elvira Jung hatte vergeblich versucht, ihr klarzumachen, dass sie damit ihren Kosmetikspiegel meinte, den Samanda mehrmals als Prüfinstrument ihrer Gesichtsmalerei während der Unterrichtsstunde hervorkramte. Ihr Vater explodierte wie eine Silvesterrakete aus China. Diskriminierung, Verleumdung, Hetze. Lehrerin Elvira Jung hängte nach dem Auftritt von Herrn Aurelli einen großen Spiegel über das Waschbecken im Klassenraum. Wenn Samanda vorkam und sagte: Isch versteh das nisch,
machte Elvira Jung nur eine leichte Kopfbewegung zum Spiegel. Samanda trat beleidigt den Rückzug an. Ihre Aufmerksamkeit verbesserte sich merklich.
Wie mit einem Sarkophagdeckel zugeklappt wurden plötzlich die Erinnerungen an Kalaschnikow, Facebook und Lady Gaga als Lehrerin Elvira Jung über die drei endlos erscheinenden Gänge und vier Treppen vor ihrem Klassenraum stand. Es lag etwas in der Luft. Es roch irgendwie komisch. Lehrerin Elvira Jung tauchte wieder ein in die Gegenwart. Diese Schulatmosphäre glich mehr der Aura eines Beerdigungsinstitutes oder einer Biogasanlage. Hier standen holzgeschnitzten Figuren gleichend die Schüler ihrer Klasse. Hatten diese