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Der EIndringling: Menschwerdung eines Psychopaten
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eBook315 Seiten4 Stunden

Der EIndringling: Menschwerdung eines Psychopaten

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Über dieses E-Book

Mittelfeind ist Lehrer an einem Wiener Gymnasium. Er leidet sichtbar an gekränktem Narzissmus mit psychopatischen Zügen. In seinem Wunsch, sich vor der äußeren Welt zu verkriechen, hat er ein Schlupfloch im Zeichensaal gefunden, aus der ihn ein weiblicher Eindringling eines Tages hinausholt. Zaghaft und voller Zweifel unternimmt er kleine Schritte, zwei vor, drei zurück und traut sich schlussendlich ins Leben hinaus, welches durch die Unterweisung seiner spirituellen Kundalini-Meisterin eine menschliche Note gewinnt. Im Moment, als er seinen Weg unterbricht, um in seine Vergangenheit zurückzukehren, bricht sein ganzes psychisches Dilemma aus ihm heraus, er flüchtet in eine Angst-Therapie und lernt simultan in Gesellschaft von Zigeunern im Park vor seinem Haustor, was die Offenheit des Herzens erreichen kann. Am Ende begegnet er zufällig wieder der Person, die alles ins Rollen brachte und bekennt sich zu sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Jan. 2021
ISBN9783752928563
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    Buchvorschau

    Der EIndringling - Natascha Rubia

    Impressum:

    ISBN:

    Verleger:

    Rechtinhaber: Mag. Natascha Rubia

    Copyright:

    Sprache: German

    Land:

    Ausgabe: Erste Ausgabe

    Natascha Rubia ist polnisch-jüdisch-französisch-spanischer Herkunft, war nach dem Studium von Wirtschaft, Jus, Russisch Dolmetsch und einem Wiener Post-Graduate in Wirtschaftsjournalismus fünfzehn Jahre Redakteurin bei deutschsprachigen Tageszeitungen, Magazinen, Radio und Fernsehen. Die investigative Journalistin hat seit 20 Jahren eine Firma für PR/Events und tritt auf weltweiten Bühnen auf. Nach unzähligen Artikeln, Dokus und zwei englischen Scripts für Kriegsfilme ist dies ihr erster Roman.

    1. Kapitel: Meine Schule

    Sie war in jedem Sinne ein Eindringling.

    Dabei war es meine Schule, seit 21 Jahren. Tag für Tag fuhr ich märthyrergleich mit dem Rad hierher, zum Eiszapfen gefroren im Winter, oder angenehm durchweht während der glühenden Asphalthitze des Wiener Sommers. Abgeschottet durch den Fahrtwind, der mich stets trennte von der Stadt und ihren Massen, die ich vermied, von denen ich mich um jeden Preis abzugrenzen suchte. Natürlich vorschriftsgemäß, wie es sich für einen ordentlichen Gymnasialprofessor gehörte, nicht auf offener Strasse, sondern am Radweg, mit Abblendleuchte in den Abendstunden. Bei jeder roten Ampel hielt ich an und stieg ab. Pflichtbewußt jedem Angriff, jeder möglichen Kritik von aussen ausweichend, in mich gekehrt, gleichsam nur mit dem Fahrrad verschmolzen. Eisen zu Eisen, Stahl zu Stahl. Verschwitzt von innen – nach außen verkühlt, erklomm ich auch an diesem Spätwintertag als Werklehrer um zehn vor acht, wie immer umsichtig geduckt, Allem um mich gewahr und jederzeit bereit, zu Metall zurückzuschmelzen, die alte Steinstiege des Barockgebäudes, das wie ein Spukschloss anmutete, in dem die Kinder wohl – mochte man glauben – Zaubersprüche und Druidenrezepte, nicht aber Vokabeln des Lateins lernten.

    Mein rotes, wohl hundert Mal repariertes Puch Sprint Rad mit seinen alten, weissen Kautschuk-Reifen kettete ich unten mit einer langen, schwer rasselnden Eisenkette an den Abstellplatz. Der alte Drahtesel – mein zweites Ich – war jetzt gefesselt und alleine. Beide waren wir abgeschottet gegen jede Eindringlinge in unsere Welt. Doch während das Rad unbewegt der herankommenden Kindermeute harrte, glitt ich unter dem unsichtbaren Schutzmantel meines Eigendünkels geräuschlos wie ein Gespenst die Stufen unter gotischen Rundbögen hinauf. Das Haus war historisch, steinern und aromalos. Der einzige Scent war die Duftnote: Lord of Mischief von Gorilla – mein unverwechselbares Parfum. Ein Riese im Urwald – in dieses Geschöpf sollte ich mich verwandeln, sobald der Gong läutete, ich den Umhang abwarf und mich sechs Stunden lang vor bis zu 32 wohlstandsverwahrlosten Schulpflichtigen zum Affen machte.

    Behende sprintete ich die weite Stein-Treppe hinauf, mich umwendend, nach allen Seiten schielend, ob sich jemand verborgen hielt, welcher mich ablenken konnte. Die Stirn in Falten gelegt, den Hals mißtrauisch gereckt, prüfte ich mein Revier – nicht mit strengen Aufseheraugen, sondern sträflingshaft ängstlich, bedächtig, kontrollierend, jeder Ohrfeige ausweichend. Wie oft machten sie sich lustig, die Kinder? Die ungezogenen Bälger sekierten, lachten hinter des Lehrers Rücken, kicherten hinterhältig in die verdeckte Hand zu ihrem Nachbarn, böswillig, unbedacht. Ich rönthge die Gänge auf trojanische Pferde, nicht um zu maßregeln, sondern um rechtzeitig in Deckung zu gehen. Da sitzen fünf Kinder auf einmal – eine sichere Gefahrenquelle, bilden eine Handgranate, vor deren Wurf ich rechtzeitig hinter die Bresche meiner Unnahbarkeit fliehe. Zu spät:

    Herr Mittelfeind, wann gehen Sie mit uns an die Donau Kanu fahren?

    Ja, das haben Sie letzte Woche versprochen!

    ‘An die Donau fahre ich mit meinem Sohn oder alleine’, wollte ich antworten und riß mich im letzten Moment zusammen, um schweigend nach einer Sekunde Totenstarre einfach weiterzugehen. Die Obacht ist mein Joch. Das Schweigen meine Waffe. Bevor mich jemand als bunt bemalte, platte, metallene Schießbudenfigur im Wiener Würstelprater mißverstehen konnte, um mich den ständigen Angriffen der rot/weiss/gestreiften Bälle auszusetzen, nutzte ich den Vorwand der Morgengeschäftigkeit, um ungetadelt dem Wurf der Schüler auszuweichen.

    Die Gedanken hinter meiner gewölbten, hohen, kahlen Stirn kreisten um alle vergangenen und zukünftig möglichen Szenarien jugendlicher Böswilligkeiten. Da war Klaus, aus der 5b. Letztes Jahr ist er mitten im Unterricht vor die Schule entwischt, um mit einer Horde ausgewachsener Jugoslawen eine Prügelei anzuzetteln. Entgegen allen Regeln und gekrümmt vor Angst, beim Regelbruch entdeckt zu werden, überliess ich die Klasse sich selbst, um die Jugendlichen händisch voneinander zu trennen, die mir – ich war eher klein und drahtig – nicht nur körperlich, sondern in ihrem Jugendeifer auch vom Tempo her weit überlegen waren.

    Die alten Holzbänke in der Aula vor den Heizungen – Stellage für die rülpsenden Randalen – waren vor dem ersten Läuten noch fast leer. Bald würden sie kommen, mit ihren Papiertüten werfen, keifen und lästern. Ein Leben vor der Bank in Erwartung der Schiedsrichter. Eigentlich sollte der Lehrer der Verurteilende sein. Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt. Der Schüler fürchtet nicht den Lehrer, der Meister verbarrikadiert sich vor den Jüngsten: Hinter Regeln, Hilfsmaßnahmen, Urlaub und noch mehr Ferien. Wenigstens waren sich die Lehrkräfte hierin einig.

    Der Druck der versnobbten Upper-Class-Eltern, die bei jeder Zurechtweisung und erst Recht bei jedem Fleck eines Schülers ihren Freundesfreund im Erziehungsministerium erpressten oder dem alten Vetter Stadtschulrat ihr Leid klagten, vereinte sich für diesen Kampf gut mit Wiener Beamtenbücklingen vor den bekannten, adeligen oder berühmten Namen dieser Stadt. Wieviele Philharmoniker und deren Dirigenten, welche nie enden wollende Anzahl blaublütiger Draufgänger oder osteuropäischer Emporkömmlinge in Diplomatenstatus schickten ihre Kinder zu uns? Sie hatten jedes menschenwürdige Respektverhältnis nihilisiert. So bemühten wir uns nur noch um den notwendigen Abstand zu den ehrgeizigen Ziehraben.

    Unsere Schule galt als das älteste Gymnasium Wiens, nackensteif vor Tradition. Deren Regent: Der Elternverein, dessen Brut zu allem Übel – einmal das Zepter in der Hand –auch noch deren freche Urenkel bei uns anmeldete. Das Erziehungs-Karussel mahlte gut und die traditionell enge Beziehung der Eltern tat das Ihrige zur Anstellung auch weniger gut situierter Abiturienten in die oberste Hierarchie Wiener Entscheidungsträger.

    Wenn ich mir die blondbezopften Zwillingsmädels Julia und Jasmin der Ankerbrot-Dynastie in Klasse 1b anschaute, wie sie gerade falsch grüßend mit ihren identen weissen Rüschenblusen und den kurzen, plissierten Röckchen kichernd um die Ecke im Zeichensaal verschwanden, dann erbrach ich den ganzen Hinterhalt der Wiener brötchenbackenden Sippschaft der letzten 28 Jahre. Des Adels Wohlwollen, längst verblüht und seiner Aufgabe als Sittenwächter der Nation entraubt, war ausgebleicht in Hochmut. Wie die alten, verrosteten Glieder meiner Fahrradkette drehte er sich um das Zahnrad der Lehrerschaft, hielt uns im festen Würgegriff nobelster Erziehungswünsche. Nach dem Motto: Was keiner Generation bisher gelungen war an masslosem Charakter ihrer Nachkommen auszubügeln, sollten wir gerade richten – dafür wurden wir bezahlt. Die Professoren wanden sich in ihrer eingespannten Pattstellung im ständigen Bemühen, mit immer neuen Unterrichts- und Nachmittagsfreifächern den wie Urwald-Gewächse aus dem modrigen Boden der gelehrten Ahnen spriessenden Eltern-Bedürfnisse nachzukommen, die doch nur dazu dienen sollten, der Unbelehrbarheit des kargen Herzens ein mentales Gegengewicht zu setzen. Heute mußte ich mich mit der Errichtung eines neuen Freifaches Architektur plagen – als hätten die verzogenen Bälger nicht an der Uni noch Zeit genug dazu. 50 Seiten würde ich als Exposé im Direktorenzimmer abliefern und um Genehmigung warten. Von dem positiven Erhalt des finalen Bescheides des Stadtschulrates hing ein guter Teil meines sowieso sehr mageren Gehaltes ab.

    Die Überstunden, die ich gratis oder umsonst mit der Druckschrift verbrachte, brauchte der Stadtschulrat ja nicht zu bezahlen. Die Lehrer haben eh soviel Freizeit. Das schaffen sie schon, höre ich meinen Vorgesetzen sich ereifern. Die Folge sind heute ein 60 Stunden Lehrer-Tag, der sich allein daraus ergibt, dass ich, um drei erwachsene Kinder mit meinem Gehalt zu ernähren, noch zusätzlich bis Abends Musikschüler privat unterrichte.

    Guten Morgen, Herr Mittelfeind, ah, ja, der Architekturkurs, den Sie uns versprochen haben, begrüßte mich die Direktions-Sekretärin apfelkauend und tat in ihrem Lob so, als wäre das Zusatzpensum allein meinem Ehrgeiz entwachsen.

    Genau, meldete ich kurz. Nur die Wahrheit hätte einen längeren Kommentar verdient.

    Kollegin Reiterer hat auch heute abgegeben. Was bieten Sie jetzt an?

    Architektur der 50er Jahre am Beispiel Tschechische Repubik, meldete ich mich zum Wettbewerb.

    Was Hübscheres ist Ihnen nicht eingefallen als die Plattenbauten da drüben? Wollen Sie mit den Schülern etwa nach Brno fahren?

    Besser als gar kein Ausflug. Beim Wort `Ausflug` ging es mir gleich eine Spur besser. Eine entferntere Klassenreise wird man mir eh nicht genehmigen, als die zwei Stunden Zugfahrt, zogen sich meine Mundwinkel gleich wieder in die Gegenrichtung.

    Was hat denn die Kollegin Reiterer vor? erkundigte ich mich neugierig.

    Naja, so was Tolles hat die auch nicht ausgespuckt: `Modeplakate in der Andy Warhol Zeit`.

    Schon wieder! In der Kunst wär ich froh, wenn es überhaupt keine Geschichte gäb`.

    Die Sekretärin lachte affektiert.

    Dann könnten wir endlich selbst eine neue Strömung kreieren.

    Das machen die Kids schon selbst mit ihrer Graffiti.

    Solange sie nicht mein Auto beschmieren.

    Leider deckt sich Street-Art aber nicht mit den Vorgaben von wegen ‘Theoretische Untermauerung in der Bildnerischen Erziehung’ nach dem neuen Lehrplan, Herr Mittelfeind, musterte mich die Sekretärin augenrollend.

    Was für eine Kunsterziehung soll das sein, wenn nur über Sinn oder Unsinn der Malerei in irgendeiner längst vergangenen Epoche gequatscht wird? Da ziehe ich den spontanen Griff zum Pinsel vor!

    Vielleicht ist der Minister eifersüchtig: Die Kinder sollen auch Papier wälzen, sich mit hundert Ideen von Parteihohlköpfen beschäftigen und köpferauchend aus dem Unterrricht kommen, anstatt quietschfidel auf Pappe und Papier ein skurriles Gebäude zu entwerfen.

    Die Sekretärin verdrehte wieder lustig die Augen, haute meinen Akt auf einen Stapel zum Amtsschimmel und verschwand nach einen Ruf aus dem Hinterzimmer durch die Nebentüre zum Herrn Direktor.

    Beim Hinausgehen besah ich mich im Spiegel ihrer Garderobe. Meine Kleider hatte ich den Kindern zur Sicherheit angepasst. Damit entkam ich wenigstens ihrem modischen Minenfeld. Immer einfärbige, aber farbenfrohe Jeans, dazu passende Baumwoll-Jacken mit Kapuze, sogenannte Hoodies. Die Schnüre für die Kapuze hingen lose auf meine zusammengedrückte Brust – eigentlich eine Modesünde der pubertierenden Bubenschar. Das waren ihre Vorgaben. Was mir blieb, war meine Schuhsammlung: Rund 40 paar Schuhe, ausgefallene, unnachahmbare Geckentreter, die nur mir allein gehörten. Niemandem gelang es, sie zu kopieren und keiner sah sie unter meinem schlangenumwundenen, unsicher-vermeidendem Gang. Meine einzigartige Fußbekleidung war mein kritikfreies Geheimnis, eine distingierte Marke, um nicht unterzugehen in der Masse und nicht einzurosten in meinem Schweigen. Heute habe ich die roten Slipper an. Sie tragen mich leicht, fast ohne Sohlen, in dünnem Schweinsleder die schwere Treppe zwischen gotischem Geländer von der Direktion wieder hinunter in mein Werk-Atelier. Der hohe Doppel-Raum, in der Mitte durch eine winzige Tür verbunden, aber mit zwei riesigen Eingangsflügeln, stand noch leer und so sah ich gedankenversunken aus dem Fenster in den Beethoven-Park.

    Die Schule war ein repräsentativer dunkler Backstein-, mit reichlich hellem Stuck verzierter Bau aus der Jahrhundertwende. Neugotischer Stil. Die breite, ausfallende Empfangsstiege mündete in drei spitzbogige Eingangstore. Darüber prankten je sieben orientalische, nach oben eng zulaufende bunte ornamentale Bleiglasfenster mit Butzen – für den Lichteinfall in den dunkel in Eschenholz gehaltenen, mit mittelalterlichen Holzengelfiguren dekoriertem Fest- und Prüfungssaal im obersten Stock. Unter dem Dach waren auf der Aussenseite pro Fenster jeweils drei der monarchischen Kronländer-Wappen angebracht. Trotz seiner 21 an Zucht und Ordnung gemahnenden Kronregenten erinnerte das düstere Gebäude, anstatt an eine stattliche Lehranstalt, eher an das Spuk-Schloss von Hogwarts. Seine dunkelroten, fast braunen Dachziegel rahmten unter wasserspeienden Höllen-Figuren den Efeu bewachsenen schattig-dumpfen Innenhof ein. Als wäre es der Arkadenhof einer Kathedrale im südlichen Jerez – einziger offener Leibesübungsplatz, der leider der andalusischen Sonne völlig entbehrte und die Sportfreude der Kinder wie im Hades hier stets im Schatten gleich einem schwarzumrahmten Trauerflor erstickte. Die hohen Zinnen zwangen den Betrachter zur Besinnung an das alte Österreich, in dem noch Moral und Anstand herrschte. Zu traditionell diplomatischem Benehmen gemahnte zentral der dreifach bekrönte doppelköpfige Adler mit dem habsburg-lothringschen Abzeichen inmitten der Embleme der Königreiche Istriens, Kroatiens, Dalmatiens und der übrigen Österreich-Ungarischen Donaumonarchien. Auch heute noch, genau wie damals, ging unter dem Schutz der alten Dynastien alles seinen geregelten Lauf und ich bezweifle, dass es jemals in diesen alten Gemäuern, ebensowenig wie im alten Kaiserrreich, eine Revolte, einen Schüleraufstand oder einen Widerspruch gegen die Ordnung gegeben hatte – schon gar nicht zu erwarten von den linkisch gehorchenden, anstatt laut lärmenden Vorstadtbengeln: Gelehrte Aristokratenkinder, deren Eltern – über alle Maßen berufstätig – ihnen in gebührendem Abstand das Schaubild erstrebenswerter professioneller Emsigkeit vermittelten. Auch damals verebbte jeder Widerstand, als sich die jüdischen Schüler jedes Klassenraumes brav und ohne Gegenwehr in die zwei äussersten Sitzreihen zusammenpferchten, um gemäß dem Erlass vom 13.Juni 1938 in die „Zentralstelle für jüdische Zwangsauswanderung – so nannte man die Räumlichkeiten der Talmud-Torah-Schule in der Malzgasse 16 – über den schmalen Donaukanal überführt zu werden, welcher auch heute noch die jüdische „Leopoldstadt sauber von der Wiener Welt trennt. Alle diese Schulkinder verendeten schließlich kläglich in den Gaskammern.

    Wegen des hohen jüdischen Anteils in unserer Schule – die meisten Eltern waren auch heute noch Musiker, Schriftsteller oder Rabbis – drei klassisch jüdisch besetzte Gilde – betraf dies zur Hitler-Zeit 45% der Schüleranzahl. Auch den Lehrerkollegen blieb es unter seiner Regentschaft nicht erspart, in den koscheren Teil der Stadt jenseits des Schwedenplatzes über die Reichsbrücke zu wandern. Jedes Jahr im Frühjahr gedachte daher unsere Schule in verlogener Trauerfeier mit Lamento einen Abend lang dieses Ereignisses. Jetzt sah ich auf die schwarze Fahne herab. Auch heute abend würden sich wieder Zeitzeugen finden, die vom Zuschauerraum den Gang der langwierigen, repetitiven Bühnenpräsentationen unterbrechen, um unter weinenden Ausbrüchen an ihren persönlichen Schilderungen der Überführung zu ersticken. Ein emotionales Schauspiel mit Aderlaß.

    Im ersten Stock war mein Reich, die Werksäle vis à vis des alten gotischen Innenbrunnens im lichtdurchfluteten Erker. Der Wasserspeier war trockengelegt und leblos. Dennoch liebte ich hinüberzusehen, wie das bunte Licht in hübscher Einrahmung durch die Bleiglasfenster auf den Brunnengötzen fiel. Von meinem Aussen-Fenster aus hatte ich freien Blick über den Vorgarten des Gebäudes. Unter unseren Zinnen standen die zwei Tischtennis-Plätze vor den hohen alten Platanen auf dem immergrünen Rasen des Beethovenplatzes. Dort thronte in der Mitte die sitzende Statue desselben Komponisten. Täglich war sie zum Rücken hin mit auf der Wiese sich neckenden, kämpfenden und tollenden Kindern, an der betonierten und getreppten Straßenseite von chinesischen Blitzlichtjongleuren in Regenjacken umgeben. Als ob er auch nach seinem Ableben niemals Ruhe finden durfte, er, der Misanthrop, der er zeitlebens war, menschenhassend, entfliehend, bei jeder Gelegenheit in die Einsamkeit zurückgezogen und selbst Gleichgesinnte bis zur Taubheit nur in grösserer Distanz tolerierend.

    Zur Strafe für seine Einsiedelei hatte man ihn dazu verdammt, hier in Bronze gegossen mit seinen begleitenden Figuren – dem gefesselten Prometheus, der hübschen Victoria sowie neun Putten als Allegorien für die Anzahl Beethovens Sinfonien – seinen lebensverweigernden Gesichtszügen zum Trotz regelrecht überflutet zu werden mit Schreien, Camera-Blitzlichtern, Ballgewittern und Horden von kichernden Mädchen, die sich im Sommer in kurzen Kleidern an seine Rückseite schmiegten und seine immermüden Ohren in ihrem tosendem Lachen erstickten. Beethoven selbst wäre entflohen. Wir Lehrer durften das nicht. Wenigstens er vermochte die passende Grimasse zum Spektakel zu zeigen. Er war ein Ekel. Ein ehrliches Sinnbild der moralischen Haltung unserer Hauptstadt. Wiener hassten Kinder – nachdem sie sie in Amoral und elterlicher Übersorge in diabolische Abbilder verzogen – und kannten kein pardon, was die Freizügigkeit der Zurschaustellung ihrer Reaktion auf deren Lebensfreude betraf.

    Jetzt stand ich im Zeichensaal und wartete, den Blick von hoch oben auf das Monument unseres grössten Komponisten gerichtet. In der Hand hielt ich meine Instrumente, die nach jeder Unterrichtsstunde wieder sorgfältig zurückverstaut gehörten, in meine vielen Fächer, Schränke und Regale zur Gangseite, alle mit Türen und Schlössern verriegelt, uneinsichtig, verbohrt und verklemmt. Das versperren und das spärliche Freigeben der Gegenstände war mein Regentstab, mit dem ich mich an den garstigsten Kindern rächte. Julia, Jasmin und die anderen Zehnjährigen der Klasse 1b sprinteten schon in den Saal auf mich zu und wollten heute sägen. Aufgabe war, kleine hölzerne Boote zu bauen, die wir später mit einem Motor bestücken und ins Donau-Wasser lassen wollten. Sie bedrängten mich, den Schrank freizugeben zum Entern.

    „Ihr brecht die Sägeblätter", ordinierte ich.

    Ich wäre schließlich gezwungen gewesen, für jeden Trottel, der eine bricht, eine neue zu besorgen. Keine Lust.

    „Dann wenigstens die Handsägen!"

    „Aber nur eine für zwei."

    Mein Schlüssel viel ins Schloß und mein Geiz öffnete das Regal. Die Buben liefen schnell zum Schrank und rissen sich um die abgenutzten, kargen Geräte.

    Noch waren die Bälger süss, aber ich wußte, wie schnell sich das Blatt wenden konnte.

    In den kurzen fünf Minuten Pause zwischen der Doppelstunde kamen David und Moritz zu mir.

    „Herr Lehrer, wann schauen wir zum Bootsbau nach Strebersdorf?"

    Ach ja, ich hatte ihnen diesen Ausflug vor zwei Wochen schon versprochen. Nun zog sich bei mir alles zusammen. Forderungen wich ich am Liebsten aus. Und mein zielsicherster Rohrstock – Schläge waren schon seit meiner Schulzeit untersagt – war das Schweigen.

    Ich verschloß mich eisern ihrem Drängen und verweigerte passiv aggressiv jede Antwort.

    Unbewusst übernahm ich die Rolle der empfindlichen Störung: Ich schwieg, wenn alle redeten und stand, wenn alle saßen. Das lernte ihnen Respekt, Achtung vor meiner Privatperson. Denn privat war ich auch in der Schule. Nie, in all den 21 Jahren nahm ich einen Lehrer mit in der Freistunde auf einen Café, ausnahmslos lud ich niemanden zu mir nach Hause ein – nicht einmal mit einem Kommilitonen der Kunst ging ich zum Mittagessen. Lieber panschte ich mir ein Müsli an meinem kleinen Arbeitsplatz, meiner Nische im Lehrerzimmer. Genausogut hätte ich am Klo essen können. Ich blieb mit mir alleine, orchestrierte und ordinierte eisern mein kleines Reich.

    Viel lieber wäre ich ja Musiklehrer gewesen. Denn wenn ich zeichnete, wollte ich Komponieren und beim Posaune-Spiel malen. Der Musiklehrer, Herr Pichler, nur sechs Jahre jünger als ich, aber mit dem Geist eines Kleinkindes, glich Beethoven in den Höhen der obersten Etage seines Barockensembles. Bei Proben des Chores oder des Orchesters durfte er mit wildem Haar im Prunksaal dirigieren. Ich hasste seine fliehenden Dirigenten-Bewegungen. Ständig sah man ihn mit erhobenen Armen, in alle Richtungen flehend, als würde er gleich einem unserer hölzernen Barock-Engel schweben, nicht gehen. Und dazu die hohe Eunuchen-Stimme! Das Stift Vorrau war seine Schule gewesen. Hinter den dicken Mauern des Klosters verbrachte er unter den Ordensbrüdern seine ganze Kindheit.

    Was immer sie ihm dort angetan hatten, ich zog es vor, es nicht zu wissen. Lieber verriet ich meine Missbilligung durch ein ironisches, abfälliges Lächeln. Ich machte mich lustig, nicht laut, wie es nicht meine Art war, sondern verhohlen leise, aber sichtbar und spürbar hinter einer Maske von freundlichem Entgegenkommen. Der Musiklehrer, Hans hiess er – „Hansi" nannte ich ihn trotz seiner Bitten nie, wie ich überhaupt davon Abstand nahm, ihn zu dutzen – ignorierte meine Haltung. Nicht, dass er nicht mit all seinen Sinnen spürte, was ich über ihn dachte. In seiner Musikerseele waren seine Fühler gleich seinen Armen stets weit ausgefahren. Alles vermerkte er zutiefst – nichts, keine meiner Stimmungen oder Mißbilligungen entgingen seiner Muse. Nein, aber er zog es vor, mich künstlich zu übergehen, als wäre er in der Himmelssphäre seiner höheren, meiner Kunst überlegenen Tonkunst unangreifbar. In seiner redseeligen Art und weil er jeden Musiker in Wien schon gelehrt und also gekannt hatte, glaubte er sich ein unantastbares Genie.

    Jedoch war der schwatzende Gesell, empfindlich wie er war, weil er immer gehört, um die Uhr bemerkt werden wollte, glatt das Gegenteil von Undurchdringlichkeit. Ungebeten legte er jedem Gegenüber plump sein ganzes Ich, sein ganzes Sein plötzlich und unbedacht aufs Tablett – formlos auf die Waagschale meiner Beurteilungsfähigkeit. In dieser Bloßstellung war er seismographisch empfindlich, wie ein Hund, der sich auf den Rücken legte, damit man ihm den Bauch krault. Es lag auf der Hand, dass ich ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Unterleib biß.

    Ich traf ihn auch heute. „Gelegt" nennt man das in Wien. Meine schneidende Kälte entsetzte ihn. Er war ständig durch mein Verhalten verletzt. Einmal getreten, zog er jaulend davon. Seine Mühen um Redseeligkeit, die er nie scheute, zur Schau zu tragen, schützten ihn nicht. Sein Prahlen und seine ständige Wohltäterei an die Jugend, sein Fördern und Preisen der Talentierten waren ihm kein Panzer für die Pein meiner unliebenswürdigen Gegenwart. Er zögerte nie – im Gegensatz zu mir – einen Schüler hervorzuheben und zu loben für sein Talent. Auch er selbst sang ohne Unterlass und mir zum Verdruß bei jeder Gelegenheit, in der Volksoper, im Dom, im Stift und in der Schule. Wenn er nicht sang, redete oder telefonierte er. Konträr zu meinem Schweigen war er so ein Plauderant, dass er sich wegen einer chronischen Nebenhöhlenentzündung ständig Operationen unterziehen mußte, die dadurch entstand, dass seine Stimme ob Übernutzung den engen Kanal der Nasalhöhlen nicht mehr durchdrang. Was er mit zwei bis drei Operationen pro Jahr und ständigem Jammern quittierte. All dieser Plackerei zum Trotz: Überall unter den hohen Bögen des Schulhauses vernahm auch mein Narzis das Echo seiner hohen Kastratenstimme. Wenn das ausblieb, dann verfolgten mich seine schrillen Wutausbrüche oder zumindest die Worte seines sanften Lobes. Für mich, der ich kein Freund der Lobpreisungen und ein Feind jeder hellen, schrillen Ekstase war, war es eine Qual, ihm dabei zuzuhören.

    Hansi war jedoch trotz aller Verantwortung, trotz aller Doppelgleisigkeit und Überbeschäftigung zu meiner Mitleidenschaft immer freundlich, stets einfühlsam, seine Lippen benetzt mit einem netten Gruß, so wie jetzt, als ich in der großen Pause vorhatte, ins Lehrerzimmer zu gehen.

    „Begrüße Dich, Christof! Alles in Ordnung?" säuselte er.

    Ich nickte nur stumm und besah ihn und seine wedelnden Arme mit einem Anflug von Verachtung. Er schielte leicht verletzt zur Seite.

    „Am Freitag haben sie mich wieder operiert. In Graz. Bei meinem Herrn Doktor. Du weißt schon. Der ist so professionell und er meint es so gut mit mir...jetzt geht es mir wieder besser. Das war aber nun das letzte Mal," genoß er verzückt die Aufmerksamkeit auf seine kleinen Wehwehchen.

    Ich nickte ihm zu und wußte, es war nie das letzte Mal für einen Hypochonder wie ihn. Dabei richtete ich meine Augen verächtlich auf seine abgerissene kaminrote Cordhose. Immer dieselben Beinkleider – schlapp und ausgetragen hingen sie um das einzige Paar seiner verbeulten Schuhe, deren Farbe man nicht mehr erkennen konnte. Das

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