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Die Brücke: Wehret den Anfängen
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eBook402 Seiten5 Stunden

Die Brücke: Wehret den Anfängen

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Über dieses E-Book

Meine Geschichten sammelten sich über viele Jahre meines Lebens und werden nun ausgeschüttet, sie ergießen sich über alle Lebensbereiche meines privaten wie Berufslebens, mit Freunden und Kollegen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum15. Jan. 2015
ISBN9783738669763
Die Brücke: Wehret den Anfängen
Autor

Heinrich Oppermann

Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Oppermann, geboren 1934 in Kaposszekcsö, Baranya, (Branau) Ungarn, umgesiedelt 1948 in die Ostzone Deutschlands. Grundschule und Molkereilehre in Bautzen (1949-1952), Hochschulreife an der ABF in Leipzig (1952-1955), Studium der Chemie an der TH-Dresden (1955-1960), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Festkörperphysik und Werkstoffforschung Dresden der ADW der DDR (1960-1984), Professor und Direktor für Anorganische Chemie an der TU-Dresden bis 2000. Über 270 wissenschaftliche Publikationen, zahlreiche Patente und eine große Zahl von Diplomanden, Doktoranden, Professoren, Frauen und Männer in führenden Positionen, sind mit seinem wissenschaftlichen Leben und Werk verbunden. Aufsehen erregte er mit seinem Kosmosexperiment „Gasphasentransport“ im Zusammenhang mit dem Weltraumflug von Sigmund Jähn, dem ersten Deutschen im All. Heinrich Oppermann schrieb und schreibt Geschichten, Erzählungen und Gedichte, wovon einige in der „Neuen Zeitung“ dem Ungarndeutschen Wochenblatt in Budapest und „Unsere Post“, im Schwabenverlag Ostfildern, der Heimatzeitung der Deutschen aus Ungarn , erschienen sind.

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    Buchvorschau

    Die Brücke - Heinrich Oppermann

    2014

    Vom Newski bis Abai

    Ostwelten

    Kaffee vom Newski

    Meine erste dienstliche Auslandsreise führte über Moskau nach Leningrad (Sankt Petersburg). Es war Anfang der sechziger Jahre und der Kaffee bei uns in der DDR rar. In der Sowjetunion war der Kaffe zu dieser Zeit nicht so gefragt, fast unbekannt und billig. Es lag daher nahe, neben Spielsachen für die Kinder, vom eingesparten Dienstreisegeld etwas Kaffe mit nach Hause zu bringen.

    In dem großen Kolonialwarenladen der guten alten Zeit am Newski Prospekt, der in großer Aufmachung alle Arten Lebensmittel, Obst und Genussmittel anbot, stellte ich mich in die erste Reihe. Bei einer jungen und hübschen blonden Verkäuferin verlangte ich drei Kilo Kaffee. Sie schrieb, mich von unten anlächelnd, auf einen kleinen Zettel 4,50 Rubel und wies mich zur Kasse. Nach der kurzen Kassenschlange, das Gedränge am Newski war damals noch nicht so touristisch dicht wie heute, zahlte ich bei einer fülligen Dame und erhielt einen Bon. Damit schlängelte ich mich zu meiner blonden Sympathisantin zurück. Sie nahm den Bon lächelnd entgegen und faltete aus grau-braunem Packpapier einen großen Kegel, zog unter dem Ladentisch eine Kiste hervor, größenvergleichbar mit Großmutters großer Wäschetruhe, und schaufelte mit einer Holzmulde, aromatisch duftende, mulattenbraun glänzende Kaffeebohnen in den Papiersack. Beim Austarieren lächelte ihr linkes, leicht eingekniffenes Auge schelmisch und ihr herzgewölbter Mund murmelte ein Fragezeichen an mein Ohr. Damals glaubte ich, es waren meine geringen Sprachkenntnisse, heute weiß ich, dass ich von ihrem Feuerstrahl so gefesselt und gehemmt war, dass ich ihr, sprachlos überrumpelt, dennoch ein gutartikuliertes: „da, da" über die Ladentafel schickte. Mit einem Ruck wanderten drei mal zigtausend wohlgeformte Kaffeebohnen in ein mühlenartiges Ungetüm und mit einem Knopfdruck zu Pulver zermalmt wieder in die blässliche Tüte. Mein Gesicht muss sich zu einer männlich starren Blässe moduliert haben, als meine Schöne mir das Paket mit einem spitzbübisch neckischen Mund überreichte, der

    Privet doma" (Gruß zu Hause)

    in meine rot anlaufenden Ohren hauchte. Ihre wärmestrahlenden Augen durchbohrten mich bis zur Tür und ließen mich hellrot glühend fliehen.

    Aus meinem Hotelzimmer duftete der Kaffee über alle Etagen. Ich wickelte ihn in mehrere Prawdalagen, umhüllte die Geruchsquelle mit allen meinen Wäsche- und Kleidungsstücken, um den Duftsprudel zu dämmen. Bis zum Abflug blieb mein Koffer duftneutral, oder die Aufregung und der Flugplatzgrundduftpegel in Leningrad waren so groß, dass ich ihn nicht wahr nahm. In Berlin am Flugplatz duftete mein Kaffee aber schon weit vom Band. Die Sättigung der Prawda und meiner Kleidungsstücke im Koffer hatte offenbar stattgefunden und der Flug einige Duftlöcher und Duftkanäle aero-dynamisch freigeflogen, so dass der Zollvorraum wie eine von Elefanten zertrampelte und geröstete Kaffeeplantage gerochen haben muss. Als ich den Koffer zur Zollschlange trug, schob die brünette Zöllnerin ihre Stupsnasennüstern in die Kaffeeplantagenwolke und schnippste:

    „Hier hat einer einen Zentner Kaffee mit."

    Und sie stellte ihren Geruchsdetektor auf Kurz-, Mittel- und Langwelle und horchte in die Schlange:

    „Haben sie Kaffee?"

    Und einer nach dem anderen zog an ihrem radarstrahlenden Blick mit den vibrierenden hochgeklappten Nüstern vorbei:

    „Nein."

    Nun kam ich an die Reihe. Ein Blick in den Pass, der durchdringende Radar und die Frage. Und welche Ähnlichkeit hatte der Mund mit dem meiner Schönen am Newski und doch diese Augenstrahlen so völlig durchbohrend? Ihre Strahlen waren aber offensichtlich niederfrequenter, energieärmer, denn Ohren und Nacken behielten die normale Färbung. Mein autogenes Training war damals in Hochform, und mein Mund formte in gleichmäßigem Rhythmus:

    „Nein."

    Dabei schaute ich ihr ruhig, aber tief in die Augen. Zwei kleine Brennflecke, mehr nach ultrarot, und ihr zum Lächeln hin verzogener Mund signalisierten mir, wir lagen auf gleicher Welle. Schon hinter der Tür, hörte ich ihre abknisternden Nüstern und wie meine Brünette, sich wieder in der Dienstgewalt, laut rief:

    „Der Kaffee ist weg."

    Entlang der Inja

    Früh um fünf holten Anatoli und Igor mich ab, sie kamen mit drei riesigen Rucksäcken, begutachteten meine Schuhe, die Hosen, das Wams und die Mütze, warfen mir eine Pelerine und einen Rucksack über und waren mit mir zufrieden. Am Eingang zum Park, in Richtung Bahnhof, trafen wir auf Viktor. Er saß ruhig neben dem vierten Rucksack und schlief. Es begann zu schneien.

    Wir fuhren von Akademgorodok nach Novosibirsk hinein und bestiegen die Elektrische Schnellbahn, die entlang der Inja fast parallel zur Transsib nach Togutschin, in Richtung Taiga fährt. Wir wählten den ersten Zug, weil jeden Sonnabend ein unaufhaltsamer Menschenstrom hinaus in die Wälder und Gärten entlang der Bahn getragen wird, im Sommer und Winter, der aber erst richtig nach sieben Uhr einsetzt. Die Elektrische war auch nur mäßig gefüllt und leerte sich nach dreißig, vierzig Kilometern zusehends. Links und rechts der Bahn stiegen spärliche Rauchfontänen aus einigen Gärten. Auf den Waldwiesen lag ein dünner weißer Schneeteppich. Unsere Unterhaltung war stockend. Viktor und Igor schliefen. Anatoli erklärte mir die Gegend, die hinter den Gärten aus Birkenwäldern bestand und an einigen Stellen einen Durchblick auf den Fluss freigab. Wir stiegen bald aus und zogen entlang eines morastigen Weges in Richtung Fluss. Der schwarze Lehm ließ uns bis zu den Knöcheln einsinken, der Rucksack drückte. Die Entfernung bis zum Fluss könnte an dieser Stelle in Luftlinie 4 bis 5 km betragen haben. Der Weg zog sich im weiten Bogen um eine kleine, jedoch weitgestreute Siedlung. Viktor war der Spähtrupp und hatte bereits ein kleines Lagerfeuer entfacht, als wir am Ufer der Inja ankamen. Der Fluss war an dieser Stelle keinen Steinwurf breit, nabeltief und wälzte sich eilig hin zum Ob. In Stromrichtung, im milchigen Nebel, zog eine Frau, das Netz voller Fische an Land und eilte davon. Weiter hinten, am Rande des Waldes zwei Holzhütten in malerischen Farben. Die Sonne kam hervor und vernaschte die ersten Krumen Schnee des Herbstes. Wir packten aus. Den Rucksäcken von Viktor und Anatoli entquollen je ein Schlauchboot, aus Igors und meinem kamen die Zelte und die Marschverpflegung. Die Schlauchboote wurden gerüstet und zu Wasser gelassen. Viktor vollführte steile Manöver und kippte ins Wasser. Die Abfahrt verzögerte sich und wir frühstückten am Lande. Zur Erwärmung wurde Tee mit Wodka gereicht. Wir langten kräftig zu und leerten zwei Flaschen. Dieses steile Tempo war selbst Anatoli überraschend und er erkundete, wie viel Proviant wir mit hätten. Meine Flasche wurde als eiserne Reserve betrachtet. Dann paddelten wir los. Vornweg Viktor und Igor. Dann Anatoli mit mir. Die Rucksäcke boten herrliche Sitzmöglichkeiten. Die Strömung war schnell, wir hatten nur wenig zu paddeln, mehr zu steuern. Es begann eine herrliche Fahrt. Die Sonne schien und wärmte von außen.

    Mal ein Sturmangriff der Boote mal im friedlichen Konvoi, sangen und lärmten wir den Fluss hinunter, der mit uns mal reißender, mal flacher dahinrollte. Keine menschliche Seele in Hör- und Sichtweite. Entlang des Flussbettes Weiden- und Birkengestrüpp in goldenen Herbstfarben. Nach zwei Stunden etwa erreichten wir eine Brücke. In der Nähe ein Angler, der Auskunft gab, dass über der Brücke im Dorf ein Magazin sei. Wodka gebe es auch, fügte er schmunzelnd hinzu. Wir legten an und zogen über die Brücke. Die Häuser reihten sich entlang der asphaltierten Straße bis an den Waldrand, als wären sie so errichtet worden, wie die Birken fielen. Inmitten der Reihen, in moderneren Formen aus Stein, das Dorfmagazin, mit Waren des täglichen Bedarfs. Wir holten ein jeder eine Flasche.

    Dann trieben unsere Boote weiter flußab. Wir bräunten bei einigen Graden über Null in der Mittagssonne. In einer Flussbiegung, auf einer Art Halbinsel, machten wir Rast, zogen die Boote ein und stellten unsere Zelte auf. Igor entfachte das Biwakfeuer, ich sammelte Reisig. Anatoli zeigte mir, wie man hier ganze Birkenstämme aus dem Wald zieht und zum Lagerfeuer türmt. Viele umgebrochene Stämme türmten wir auf und schürten so das Lagerfeuer. Während Igor sich an der Feuerstelle zu schaffen macht, gehen Viktor und Anatoli angeln, es soll eine Fischsuppe bereitet werden. Aus den Rucksäcken kommen Kochtöpfe, Kartoffeln, Büchsen und allerlei Hausrat hervor, das alles von Anatoli vorsorglich verpackt worden war. Igor kocht in drei Geschirren. In einem Kartoffeln, dem zweiten Tee, im dritten einen Fleischsud. Er ist kein Koch, schon gar kein Feldkoch. Ich springe ihm bei und schon überlässt er mir das Terrain. Jetzt widmet er sich nur noch den Flammen und geht schließlich lange nach Holz. Nach dem Ordnen der Töpfe improvisiere ich einen Kesselgulasch in die Taiga, der die Bären schnuppern machte. Fische gingen nicht ein. Zum Abendmahl aber angeln Viktor und Anatoli noch einen Zwiebel-Tomatensalat, neben anderen leckeren Bissen aus den Büchsen und das Taigadinner beginnt. Ein köstliches Mahl. Vier Männer im Kreis auf Birkenstämmen, das Laub als Tafeltuch, der Tee aus befreiten Büchsen, Wodka aus Emailletöpfen. Die Toste sind hier draußen kürzer als in der Stadt, die Schlucke dafür länger. Langes Debattieren über die raue Natur, undurchdrungen vom Menschen, die sich selbst heilt und reinigt. Wie der Menschenstrom immer weiter hinaus sich schiebt, hin zur Taiga. Die Wilderer über Hand nehmen und eine Schonung der Wälder sei angebracht. Und ich frage, wann wohl die ersten Datschen in diese Einsamkeit und Ruhe hineinwachsen werden. Unser kultiviertes Biwak ist ja schon der Anfang.

    Männer-Abend-Stimmung am Rande der Taiga. Lieder, getragen, gezogen, erst leise angestimmt, dringen immer lauter in die Nacht und vier Männer tanzen und stampfen im Bärenschritt um das Lagerfeuer, für Wild und Menschen weit hörbar. Bis die Nacht sich in der Weite verliert.

    Skiausflug

    Um 10 Uhr wollten wir starten. Geli Andrejewitsch besorgte noch ein Paar Schuhe, Größe 43. Die Ski waren von der Sportivnaja Basa entliehen worden und standen mir nun für die gesamte Zeit meines Aufenthaltes in Akademgorodok zur Verfügung. Geli kam halb elf. Natascha rief uns hinterher, dass zum Essen Tatjana und Serjoscha eingeladen seien, die zwischen 2 und 3 kämen.

    Gleich hinter der Häuserzeile beginnt der Wald und wir wählten die Spur „Sportivnaja". Geli Andrejewitsch legte ein scharfes Tempo vor. Es ging vorbei an den Gärten, mit den kleinen Lauben, die am Sonnabend alle Rauchfahnen ausstießen und belegt waren. Es war mein erster Skiausflug in diesem Jahr, Anfang Oktober, und meine Kondition sehr schwach. Je weiter wir von Akademgorodok wegkamen, umso schmaler wurde die Spur und mein Atem ging schwer. Schweißtropfen standen auf der Stirn. Geli versuchte mich zu ziehen und ließ nur so viel Abstand, dass ich ihn gerade um die nächste Biegung verschwinden sah. Nach 2 Stunden die erste Rast. Wir lehnten an dem Geländer einer Viehkoppel. Ein Bauer zog mit Pferdegespann ins Gehölz, in der Ferne tauchte ein Traktor auf. Ausflügler verirren sich von der Spur um die Stadt kaum hierher. Es begann zu schneien.

    Geli Andrejewitsch drängte weiter. Nach einer halben Stunde durch dichten Birkenwald stieg die Spur über eine Anhöhe. Oben war die Spur verweht, ein Vorankommen im dichten Schneetreiben erschwert. Geli schlug vor, im nächsten Tal links in Richtung Stadt zurückzugleiten. Sein Tempo war gemäßigter, er zog in Hörweite ins Tal, aus der Talsohle stieg Rauch. Die kaum zu ahnende Spur führte zu einer kleinen Hütte, vor der vier Paar Ski lehnten. Die Stadt war weit, unser sportlicher Drang angenagt, wir klopften an. Ein starker Nebel drang durch die Tür. Innen lagen vier nackte Leiber auf Reisig und staunten uns an. Eine Banja. Nach kurzen Erklärungen luden die Männer uns ein, Platz zu nehmen. Beide sind wir Sauna gewöhnt und nahmen die Einladung an. Die Wärme stieg von den Steinen, das Reisig war von Schweiß getränkt. Die Männer reichten uns selbstgebrautes „Bier" und schoben uns Brotkanten zu. Die Hütte barst vor Wärme und Männerlachen. Jan, Walja, Wjatscheslav und Sascha machten jedes Wochenende einen Ritt zu dieser Banja und waren kerngesund.

    Nach Stunden traten wir den Rückzug an. Geli Andrejewitsch zog den Hang hinan, gab aber bereits nach einer halben Stunde die Führung ab. Es schneite immer noch. Der Wind war schwächer geworden, oder unsere Haut empfand ihn nicht mehr so eisig. In Hörweite stampfte Geli hinter mir her. Mein Befinden war jetzt ausgezeichnet, keine Atemnot, kein Schweißausbruch, keine Müdigkeit. In gleichmäßigem Takt schob ich Brett vor Brett und hinterließ mit den Stöcken, wie ein Bär, meine rhythmischen Tapsen. Hinter einer Wegbiegung wartete ich auf Geli. Wir schoben uns in Richtung Stadt. Geli zeigte erste Schwächen. Mein Vorsprung wurde immer größer, die Wartepausen länger. Den Hang im Goldenen Tal, kurz vor der Stadt, konnte er nur mit mehreren Pausen erklimmen. Sein Gesicht war gequält, sein Atem kurz, so zog und schleppte ich ihn bis vors Haus und war letztendlich selber völlig erschöpft und schweißgebadet.

    Die Nacht war inzwischen hereingebrochen. Natascha empfing uns mehr staunend als freudig und schalt uns, ihre Kochkunst missachtet zu haben. Tatjana und Serjoscha seien bereits vor 2 Stunden traurig gegangen und sie glaube, dass wir ihnen den schönen Tag verdorben hätten. Uns war alles gleich. Wir fielen aus dem Korridor ins Bad und verschmähten auch später Nataschas Suppe und Plow und saßen völlig ermattet am Tisch. Die Hausfrau ging weinend hinaus, brachte Wodka und Bier und taute uns allmählich wieder auf. Ab dem dritten Glas musste ich angeben, wie viel wir noch trinken und versprechen, die nächste Tour selber zu bestimmen, ihr Andrjuschka kenne seine Grenzen nicht.

    Spät in der Nacht geleiteten sie mich in mein Hotel und wir zogen weite Spuren durch den sibirischen Schnee.

    Eisangeln vor Taiwan

    Die Zeit der Eisangler war dieses Jahr zeitig gekommen. Schon zum Jahrestag unserer Republik, am 7. Oktober 1976, überzog sich das Obsker Meer mit einer dünnen Haut und erreichte am Tag der Oktoberrevolution, nur vier Wochen später, eine Stärke von vierzig bis fünfzig Zentimeter. Das Wachsen der Eisdecke konnte man täglich an der Badestelle verfolgen, wo die Decke in einem Umkreis von einigen Metern gebrochen und die Schollen im Halbkreis aufgetürmt wurden und die Badenden im brodelnden Dampf verschwanden. Am Wochenende strömten die Eisangler hinaus und bezogen ihre Position vor „Taiwan". „Taiwan" wird liebevoll die kleine Insel inmitten des Obsker Meeres südwestlich von Akademgorodok genannt. Im Sommer ein nahegelegenes Ausflugsziel über das Wasser, im Winter Windschutz der Eisangler.

    Mit Jan und Mila zogen wir auf Ski hinaus, um Alexander in seiner Eishöhle zu besuchen. Den Steilhang hinab schlug uns ein eisiger Wind entgegen. Jan ermahnte mich, den Kragen hoch und die Mütze tief zu ziehen. Um den Wind nicht frontal anzugehen, zogen wir eine Schleife westlich und weit draußen südöstlich. Von der Stadt her zogen viele Trupps, wie Karawanen, über die weite Schneefläche. Am Horizont zogen acht Mann einen ganzen Palast über das Eis, von Kindern und Hunden umschwärmt. Die Siedlung der Eisangler zog sich entlang der Insel. Pyramidenförmige Eisjurten unterschiedlicher Größe erhoben sich aus dem Schnee. Die Angler saßen oder standen in dicke Mäntel, Mützen und Filzstiefel gehüllt, einzeln, zu zweien, selten zu dritt und starrten auf die kleinen runden dunklen Flecke im Eis. Die Burgen standen in Abständen von zwanzig bis fünfzig Metern voneinander, in Hör- und Sichtweite. Halbkreisförmig waren die Löcher von einer Wand aus Eis und Schnee umgeben. Die ausgehobenen Eisbrocken ergaben mit dem lockeren Schnee, mit Wasser angeteigt einen dichten windundurchlässigen Verbund, der in meisterhafter Weise zu kleinen Behausungen verarbeitet wurde. Diese Burgen standen bis ins zeitige Frühjahr, ein Tauen setzt zwischenzeitlich nur selten ein. Die mittleren Temperaturen liegen bei minus fünfzehn bis minus fünfundzwanzig Grad, Temperaturen bis minus vierzig Grad sind selten. Die Burgen sind alle in Richtung Festland offen und bieten Windschutz von der Insel und einen Ausblick auf den „Touristenstrom" vom Land.

    Auf halbem Wege zu den Eisanglern musste meine Nase bearbeitet werden, sie hatte einen leichten Gelbschimmer, der auf Frostschaden hinwies. Bei starkem Wind und grimmiger Kälte wird man auch in der Stadt nicht selten von Passanten darauf hingewiesen, die Nase nicht aus den Augen zu verlieren. Alexander erwartete uns, er sah, wie wir uns gegen den Wind heranarbeiteten. An zwei Stöcken mit Querbalken wurde in einer Kasserolle über Petroleumtabletten Wasser heiß gemacht und Tee zum Erwärmen, verdünnt mit Sibirskaja Wodka, gereicht. Wir liefen eine Runde durch die Anglersiedlung. Überall das gleiche Bild. Starkvermummte Männer, selten Frauen, umringt von einem Eiswall, vor einem kaum zwanzig Zentimeter rundem Loch verharrend. Beim Näherkommen wurden wir oft eingeladen, einen Schluck zu nehmen, uns zu erwärmen. Die großen Fänge standen bei allen noch aus. Sie angelten auf Stör, Sterlet oder Weißlachs und waren froh, wenn sich am Tag ein oder zwei „Jünglinge" an ihren Angeln verirrten. Die großen Brocken hätten ohnehin nicht durch ihre engen Röhren hindurchgepasst und Unterstützung per Hand oder Kescher konnte nicht gegeben werden. Ihr Anglerlatein, das munter gegen den eisigen Wind stand, berichtete von Zeiten, wo sie täglich mehrere Pfund schwarz-blauen Kaviar dem Meer entnahmen und ihre Hütten aus gefrorenem Störfleisch bauten. Dieses Latein klang wie eine alte Sage, obgleich der Ob erst wenige Jahre gestaut und dieser Sport hier ein Kind der Erbauer des Wehrs und der Stadt ist.

    Während unseres Eis-Stadtbummels hat Alexander eine würzige Fischsuppe über seinem Petroleum bereitet. Die Siedlung hat für den Besuch einige Reserven freigemacht. Schmunzelnd wird hinzugesetzt, dass nicht alle Tage solch 'hoher Besuch aus Deutschland' vor „Taiwan" erschiene. Die Suppe ist ein Gericht zwischen der Halászlé der Ungarn und Pablo Nerudas chilenischer Seeaalsuppe, aus der die ganze Liebe und menschliche Weite der sie zubereitenden Fischer dem Verzehrenden in einem nuancierten, individuellen Arom entgegenströmt, über die eisige Burg Wärme und Behaglichkeit bereitet.

    Voll getankt mit diesem Feuer des Obsker Meeres zogen wir unsere Schleifen zur Stadt zurück, unsere Umrisse in kristallener Watte verhüllt. Vom Anstieg am Ufer sahen wir dünne Rauchfahnen von „Taiwan" aufsteigen, Freundesgrüße herüberschwenkend.

    Geli Andrejewitsch

    Bei meinen Reisen nach Novosibirsk wurde ich vom Flughafen von meinen Freunden – meist zu zweit oder zu dritt – abgeholt. Diesmal wartete Geli Andrejewitsch Kokovin allein mit einem jungen Fahrer und einem allradgetriebenen Fahrzeug, mit Bänken einander gegenüber und Fahrgastraum vom Fahrerhaus getrennt. Wir wollten drei Monate zusammen sitzen, die thermischen und thermodynamischen Daten der Wolfram- und Molybdänhalogenide, - oxidhalogenide und –oxide, zu denen wir auf beiden Seiten gearbeitet und uns habilitiert hatten – Kokovin in Leningrad – zu sichten, wichten und zusammenzustellen.

    Geli Andrejewitsch, schon zweimal in Dresden zu kurzen Aufenthalten, schlug beim Einsteigen vor, dass wir nicht auf geradem Wege nach Akademgorodok fahren, sondern einen kleinen Umweg machen sollten durch das neuerbaute Wohnviertel in Novosibirsk und er erzählte:

    „ In Novosibirsk leben jetzt anderthalb Millionen Einwohner, während zur Zeit des Baues der großen Eisenbahnbrücke über den Ob, Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre, nur etwa 30 Tausend Menschen hier siedelten. Bedingt durch die Verlagerung von Produktion und Menschen während des zweiten Weltkrieges, stieg die Bevölkerungszahl sprunghaft an und die Stadt wuchs über sich hinaus. Natürlich sind da Kulturbauten und städtebaulich architektonische Gesichtspunkte wenig berücksichtigt worden. Du hast das große Theater in der Stadt ja schon das letzte Mal gesehen, es fasst viele Zuschauer und ist zu jeder Veranstaltung ausverkauft, aber vergleichbar mit den Semperbauten in Wien oder Dresden ist es natürlich nicht."

    Wir kamen an alten Katen, Holzhäusern, die ebenerdig und nicht sehr regelmäßig standen, vorbei und er bat den Fahrer etwas langsamer zu fahren und führte mit Gestik zu den Holzhütten fort:

    „Vom Flugzeug konntest du sicher sehen, dass sich durch die Stadt grüne, jetzt weiße, Gürtel ziehen mit kleinen Häusern. Das sind die noch stehenden alten Holzhäuser, meist ohne fließendes Wasser und Stromanschluss. In diesen Behausungen wohnen noch etwa Hundert-tausend Menschen. Aber bald werden diese Siechen verschwunden sein und die Menschen in moderneren Hochhäusern leben. Die zweistöckigen und dreistöckigen Holzhäuser im Inneren der Stadt haben ja schon Komfort, sind rekonstruiert und sollen erhalten bleiben. Die Hochhäuser hier in diesem neuen Distrikt"

    und er wies auf eine breite, beidseitig dreispurige Chaussee hinauf, die links und rechts mit endlosen acht- bis zehngeschossigen Wohnhauszeilen – untergliedert mit 12-15 Geschossern – flankiert war –

    „sind geräumig und mit Fahrstühlen und allem Komfort ausgestattet. Hier wohnt und wächst das neue Sibirien heran. Als ich hier Sechzig ankam, war das noch alles Taiga, wie das Akademgorodok, unser Städtchen der Wissenschaft selbst. Und jetzt, nach knapp zwanzig Jahren, sieh was da geworden ist. Unsere Großstadt pulsiert und lebt und wächst mit einem Tempo, wie an keiner zweiten Stelle der Welt. Natürlich haben wir noch nicht alles im Griff, sind wir nicht überall gut genug und schnell genug vorangekommen. Die Landwirtschaft Sibiriens haben wir z.B. nicht im Griff. Ähnlich, wie die Chemiker und Physiker, sind damals junge, dynamische und gut ausgebildete Landwirtschaftler und Agrarökonomen hergekommen, aber außer ein paar Kartoffelfelder wirst du wenig antreffen. Und auch die moderne Produktion ist im Argen. Die militärisch wichtigen Produktionen, ja die florieren. Der Flugzeugbau, der LKW-und Traktorenbau nebst Panzerbau arbeiten und funktionieren. Unsere Stahl- und Eisenindustrie, der Kranbau, die gesamte Kohle und Schwermaschinenindustrie nebst Chemieindustrie laufen, aber im alten Stil. Kaum sind neue Werke, geschweige denn moderne, automatisierte, nach dem Kriege entstanden. Auch die Halbleiterindustrie ist verzögert hochgekommen, natürlich, Silizium und Germanium werden beherrscht, die Militärtechnik braucht sie, aber die Konsumindustrie kommt zu langsam, für sie bleiben wenig Reserven."

    Wir schlängelten aus dem Großstadtgewirr langsam heraus, die Häuserzeilen wichen weiter zurück und waren nicht mehr so erdrückend hoch.

    „Da, siehst du die Aufschrift, Banja?, eine sehr gut eingerichtete Sauna, hier müssen wir mal unbedingt her. Du musst jede Banja um Akademgorodok kennen, du siehst, wir haben außer unserem wissenschaftlichen Vorhaben, über das wir erst morgen sprechen sollten, viel vor."

    Er holte tief Luft, und fuhr mit umarmender Gestik fort:

    „Ja, man müsste vieles zur gleichen Zeit können, möchtest du das nicht auch? Man möchte da und dort zur gleichen Zeit sein, mit mehreren Frauen zur gleichen Zeit schlafen, den gestrigen, heutigen und morgigen zusammen ziehen können und auf mehreren Stellen zugleich sein. Die eigenen Gedanken anderen projizieren und Gedanken aus der Ferne gleichzeitig einfangen können, durch Wände sehen können, die Welt umarmen und befrieden. Allen Bildung angedeihen lassen, Wohlstand und Freiheit. Ja, die Wissenschaft hat noch viel zu tun, um einen Raumzeitraffer, einem neuen Demokratie-Bildungsraffer und Wohlstandsraffer zu überlagern oder aneinander zu koppeln, wie eine amerikanische Weltraumkapsel Skylab an die russische Salut andocken kann und die Mannschaften schwerelos und gleichwertig ineinander schwimmen, der Raum allen gehört. Müsste nicht auch das Leben auf der Erde so möglich sein, die Güter so verteilt sein, aber auch der Geist? Und man möchte noch so viel schaffen, doch merke ich eine abnehmende Aktivität als Vorbote von Gebrechlichkeit und mir ist manchmal, als ob die Zeit zu schnell verrinnt, mir wegläuft, das Leben mir aus den Fingern gleitet".

    Um Geli von seinem hohen Flug auf die Erde zurückzuholen, fragte ich:

    „Und das Liebesleben im All, wie stellst du dir das vor und vor allem, wo nur eine Frau in der Kapsel ist?"

    „Ja, du hast recht, kehren wir in unsere reale Welt zurück, zumal wir kurz vor dem Hotel sind. Hier hat sich nicht viel verändert, wie du schnell erkennen wirst und du wirst dich schnell wieder einleben."

    Nach dem Ausstieg und der Anmeldung im Hotel, gab er mir zwei bis drei Stunden zur Erholung und Erfrischung und fügte hinzu:

    „Gegen drei Uhr erwartet dich Natascha zum Mittagessen, ich hole dich kurz vorher ab."

    Die Straße vom Hotel, das ‚Goldene Tal’ hinauf zum Dom Utschonich, dem Haus der Wissenschaft, war tief verschneit, aber sonst unverändert. Zum Sonntagnachmittag saßen alte Mütterchen, tief vermummt und in Filzstiefel auf Bänken mit ihren Enkeln und die schleckerten Eis. Jugend schlenderte die breite Allee entlang, ebenfalls Eis leckend. Moroschenoje Moskowskoje, das sahnige Moskauer wurde vor dem Staatlichen Kaufhaus an zwei Ständen angeboten, auch bei minus zehn bis minus zwanzig Grad, wie ich empfand. Auch der große Ring, vom Haus der Wissenschaftler bis zur Wohnhauszeile, wo G.A. und Natascha wohnten, war zu dieser Tageszeit stark bevölkert, man schlenderte und genoss den windfreien schönen und „warmen Wintertag", wie Geli meinte.

    Natascha empfing mich strahlend und mit einem Korb voll Fragen, die als Wasserfall auf mich niedergingen und mich, wie ihre Umarmung, herzten und drückten. Erst wurden die Grüße ausgeschüttet und von der guten Ehefrau und den lieben Kindern berichtet, die allmählich erwachsen wurden, um dann von ihren Söhnen Sergej und Andrej zu hören, die ihr Studium gerade beendeten und in Leningrad verbleiben wollten,

    „…denn die Mädchen sind dort halt sehr schön und lange Sommernächte und die Großeltern sind in der Nähe…".

    Und so gingen wir dann alle unsere gemeinsamen Bekannten durch. Natascha, die ebenfalls in Leningrad studierte und am geologischen Institut in Akademgorodok tätig war, hatte Geli auf seiner zweiten Reise nach Dresden begleitet, die Stadt und Umgebung durchwandert und viele Freunde aus der Studienzeit wiedergesehen und neue kennengelernt und war neugierig und saugte alle Neuigkeiten in sich hinein und sprudelte dafür ihre Speicher leer. Derweil hatte Geli Getränke angefahren und in der Küche die Flammen reguliert, um die Gänge Nataschas am Köcheln zu halten.

    Während des russischen Mittagstisches mit kalter Vorspeise, wo die Salate, kleine und größere Schüssel vielfältig in Art, Farbe und Konsistenz, die Getränke, mit Bier, Wein, Sekt, Wodka und Kognak umrahmen und keiner Stecknadelkuppe mehr Platz lassen, der folgenden warmen Boulon, dem mehrschichtigen Fleischgericht mit Reis, Hirse oder Bratkartoffeln und dem abschließenden Teegebäck nebst Torte und Kuchen und obligatorischem Tschai, Kaffee nur auf ausdrücklichen Wunsch der Gäste, wurde die leichte Unterhaltung gestückelt und in Etappen weiter von Natascha getragen und dominiert. Das Essen über Stunden, die schweren und vielfältigen Speisen drückten wie die Kugeln aus Steinwerfern und Haubitzen, wogegen die Getränke erst wie leichtes Gefecht und Spähtrupp erschienen, das andauernde Sperrfeuer aber doch ermüdete und zur Feuerpause gemahnte.

    Diese Pause kam in Form eines kurzen Rundganges mit Geli bis zum Institut und zurück, um mir den Weg wieder in Erinnerung zu rufen. Bei unserer Rückkehr fanden wir die Stube umgekrempelt, der große Tisch stand zusammengeschrumpft in der Ecke und die Sessel waren vor den Fernseher gerückt, in die wir von Natascha genötigt wurden.

    „Bier, Wodka oder Kognak, steht alles hier auf dem Schrank!"

    bemerkte sie, mehr fragend noch und zog sich zurück, um bekannte Geräuschwellen aus der Küche herüberzumorsen.

    Der Fernseher lief mit einem Programm, das keiner weiteren Konzentration bedurfte. Wir unterhielten uns ganz locker, ich kam zunächst noch mal auf unser Gespräch im Taxi, auf der Fahrt am Morgen, zu sprechen und sein Gefühl, über die verrinnende Zeit und das Schaffensvolumen. Mehr scherzhaft und unsere Situation herausstellend, merkte ich an, dass wohl die Zeit nicht wegliefe, wenn wir sie mehr krümmten und festhielten, in dem wir uns öfter zurücklehnten und sie mehr in solchen Gesprächen hereinzögen und

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