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Die Reise des Guy Nicholas Green
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eBook224 Seiten3 Stunden

Die Reise des Guy Nicholas Green

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Über dieses E-Book

`Ich brauchte Geld, er brauchte Begleitung.´ Der südafrikanische Weltenbummler Guy Nicholas Green schmeißt seinen Job in Mexiko. Er strandet am Schwarzen Meer, in Odessa. Das Geld geht ihm aus. Er begegnet dem jungen Engländer Jamie. Der hatte auf einer Webseite (`Jede Begegnung zwischen einem Mann des Westens und einer Frau des Ostens ist voller Zauber´) Julia entdeckt. Sie schickt Ganzkörperfotos, der Briefwechsel kommt ins Rollen. Jamie fühlt eine große Sehnsucht in sich aufsteigen. Er verliebt sich und reist auf eigene Faust nach Odessa. Als er Julia endlich trifft, will sie von den Mails und ihren Versprechungen nichts wissen. Ist er auf eine dubiose Heiratsagentur reingefallen? Und welche Rolle spielt eigentlich Guy Nicholas Green in der ganzen Sache? Willkommen in Odessa! Unter der Sonne am Schwarzen Meer: Heiratstourismus und Online-Dating, junge Frauen auf schwindelerregend hohen Absätzen, Kerle mit geschorenen Schädeln und schlechten Manieren. Und eine Männerfreundschaft wider Willen. Diana Feuerbachs Romandebüt bietet beste Unterhaltung in all ihren Facetten.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Jan. 2016
ISBN9788711448953
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    Buchvorschau

    Die Reise des Guy Nicholas Green - Diana Feuerbach

    Saga

    1: Die Treppe

    Meine Erinnerung an Odessa beginnt in einem alten Haus, auf einer Treppe. Ich sehe die Stufen vor mir: das Gebiss eines ausgestorbenen Wesens. Die Lilien im Geländer sind vom Grünspan zerfressen. Von den Wänden schuppen die Reste eines hundertjährigen Anstrichs, und der Fahrstuhlkäfig, elegant geschmiedet und stark verrostet, beschützt eine Kabine, mit der niemand mehr reist. Das Foyer riecht nach Moder, und natürlich ist es dort nie richtig hell geworden. Jedenfalls nicht in den Sommerwochen, die ich Mitte der Nullerjahre in Odessa verbrachte, und von denen man sagen kann, dass sie mich wundersam abbrachten von meinem Weg. Die Treppe war für mich damals ein Bild meiner Seele. Auch äußerlich machte ich nicht mehr viel her: fast Mitte vierzig, die blonden Schläfen ergraut, Tränensäcke unter den Augen, ein bitterer Zug um den Mund und ein Adamsapfel, der langsam spitzer wurde unter dem Fleisch.

    Die Treppe war aus Marmor, so viel erkannte man noch. Ich stellte mir vor, wie einst Dienstmädchen mit Reisigbesen ihre weißen Adern gefegt hatten. Oder dass sie mit türkischen Teppichen bespannt war, in denen Paradiesvögel sangen, während die Leute im Fahrstuhl mit dem Liftboy plauderten, der die Messinghebel bediente und den prächtigsten Schnurrbart der Stadt hatte. Zur Revolution und in den Folgekriegen war die Treppe unter Soldatenstiefeln erzittert und in den langen Jahrzehnten des Kommunismus sehr müde geworden, bis sie schließlich in sich zusammensank. Sie war ein Ort, an dem ich Frieden empfand. Zumindest redete ich mir das ein. Langsam die zerrütteten Stufen hochsteigend, das Schaben meiner Sandalensohlen in den Ohren, suggerierte ich mir, wie ich einverstanden wurde mit meiner Situation: Ich musste in Odessa ausharren, bis Mutter mir Geld schickte. Von dem Geld würde ich nach Indien fahren, um mein Ego auf den Müll zu schmeißen. Und ich würde nie wieder arbeiten.

    Nahe der Wand, wo niemand ging, hatten die Stufen noch Kanten. Taubenmist klebte auf ihnen fest. Zur Mitte hin flachten sie ab, wurden wellig. Es gab Spalten, Brüche, Löcher, in denen Mäuse wohnten. Zum Geländer hin verschmolzen die Reste zu einer gelblichen Zunge, auf der man leicht ausrutschen konnte. Manchmal zog ich, mein Selbstmitleid zelebrierend, im Foyer des Gebäudes die Sandalen aus und ging barfuß nach oben, das alte Stufengebiss mit nackten Sohlen erkundend. Im Rücken spürte ich noch das Flirren der Sonnenbrillen von draußen und die Silhouette der kleinen Kellnerin, die den Businessmen im Café vor dem Haus zu ihren schmierigen Verhandlungen Espresso servierte. Die Fußgängerzone, an der das Haus lag, hieß Deribasov Street. Sie war die Flaniermeile im Herzen der Altstadt, wie man so etwas in der Tourismussprache gern nennt, kopfsteingepflastert und kyrillisch beschriftet, gesäumt von Linden und den Markisen der Geschäfte und Restaurants. Manche Gebäude glänzten protzig und neu, doch das meiste war Klassizismus und Jugendstil, verwittert und mit Reklame beklebt. Viele Fassaden schliefen unter Planen versteckt. Ein Versprechen von Auferstehung lag in der Luft, als ob die Stadt wieder zu werden hoffte, was sie vorgab, einst gewesen zu sein: eine Diva am Schwarzen Meer.

    Anfang Juli wurde ich an ihre Ufer gespült. Genauer gesagt kam ich auf Rädern, in einer moldawischen Marschrutka. London–Chişinău, zwei Tage in einem voll besetzten Eurolines Bus, steckten mir schon in den Knochen. Ich hoffte auf eine billige Schiffsverbindung in die Türkei, vor allem aber auf ein Einsehen meiner Mutter, was das Geld anging. Die Steppenödnis, durch die wir fuhren, deprimierte mich. Ich zog die Gardine an meinem Fenster zu, bis durch ihren verschlissenen Stoff, als ferne Ballung im Staub, Odessa auftauchte, in Gestalt einer Hochhaussiedlung zunächst, wie ich sie auch an den Rändern von rumänischen und moldawischen Städten gesehen hatte. Ich zog die Gardine auf. Ich wusste nichts über die Stadt, doch der Name gefiel mir. Er klang nach einer Erinnerung, die unmöglich meine eigene sein konnte und doch vertraut schien.

    Am Busbahnhof bot mir eine Gruppe von Großmütterchen Zimmer an. Sie reckten mir laminierte Fotos unter die Nase, zupften an meinem T-Shirt, schmeichelten mir mit Zischlauten und gurrenden Silben. Ich war fast doppelt so groß wie sie. Sie hatten vergoldete Schneidezähne, ein Zeichen früheren Wohlstands vielleicht, und Barthaare am Kinn. Die Zimmer schienen tatsächlich sehr günstig, manche sogar mit Verpflegung, doch die Barmherzigkeit der Babuschkas ging bestimmt nicht so weit, sie mir kostenlos anzubieten.

    Ich schulterte meinen Rucksack, lief los, die erstbeste Allee hinunter. In der Hand hielt ich den Ausdruck mit der Wegskizze zum Hostel. »Top-Location in Odessas historischer Altstadt! Dein Zuhause fernab der Heimat in diesen Zeiten romantischen Strebens!« Das stand unter der Skizze. Ich hatte die Beschreibung nur überflogen und das romantische Streben als Übersetzungsfehler verbucht. An der Oper, einem imposanten Barockensemble mit Bauzaun, döste ein Hunderudel. Ich bog links ab in die Deribasov Street. Die Sonne wärmte die Pflastersteine, die Linden fächelten mit ihren Blättern, und was mir gleich auffiel, obwohl durch die Mittagszeit bedingt nicht viel los war, das waren die jungen Frauen. Sie gingen, als trügen sie ihren Stolz in unsichtbaren Vasen auf den Köpfen spazieren. Sie wiegten sich nicht in den Hüften wie Afrikanerinnen, hatten streng genommen gar keine Hüften im Vergleich zum südlich der Sahara verehrten Ideal, doch ihre Füße bogen sich in den High Heels wie Gazellenhörner. Sie flanierten mit Tempo über das bucklige Pflaster, Handy am Ohr, Shoppingtüten im Arm, und zeigten mehr Haut, als mit dem Wetter allein zu begründen war. Sie gaben sich unnahbar vor dem Spalier der Cafés und Restaurants, die Augen von Sonnenbrillen geschützt, und obwohl sie mich im Vorbeilaufen registriert haben mussten, schenkten sie mir keinen Blick.

    Ich schluckte meine Enttäuschung, suchte das Hostel. Das Gebäude, in dem es sich befand, wirkte düster. Ein Riss lief durch die Fassade, vielleicht von einem Erdbeben. Im Sandstein des Torbogens machte ich eine Jahreszahl aus. 1900, jede Ziffer von feinen Löchern durchsiebt. In der Einfahrt lehnte ein Torflügel, dem ich das Alter zutraute. Er war komplett durchgerostet, stand an der Mauer wie ein vergessenes Museumsstück. Tiefer in der Einfahrt fand ich ein kleines Schild. Black Sea Hostel. Ich drückte die Haustür auf, stieg über die Schwelle und konnte einen Moment lang nichts sehen.

    Kühle umfing mich. Uringeruch kroch mir entgegen. An der Wand des Foyers löste sich eine Batterie verwahrloster Briefkästen aus dem Dunkel, ein Gruß aus einer Zeit, in der die Menschen einander noch auf Papier schrieben. Geradeaus tauchte die Treppe auf. Ein Tourist hätte fotografiert. Ich aber hielt mich am Geländer fest, denn ihr Anblick machte mich elend. Diese Stufen, Ergebnis jüngeren osteuropäischen Verfalls, waren weder mit Moos bewachsen noch führten sie zu versteckten Kammern. Trotzdem bescherten sie mir ein Déjà-vu. Sie ähnelten den geheimen Tempeltreppen der Maya, die man in den Pyramiden von Guatemala, Honduras, Südmexiko findet. In Palenque, Mexiko, hatte ich zuletzt gearbeitet. Nicht als Archäologe in den Dschungelruinen, sondern als Projektleiter einer NGO, die den verarmten Nachfahren der Tempelbauer zu helfen versuchte. Dabei war mir passiert, was mich den Job kostete und mich auf meine Reise schickte. Es war noch keinen Monat her, eine verdammt frische Wunde, und ich hätte niemals erwartet, mehr als hundert Meridiane östlich, auf einem anderen Erdteil, wieder darauf gestoßen zu werden. In der ersten Stunde vor Ort.

    2: Das Crocodile

    Ich sog die Luft ein, diese Aura von Verfall und Geheimnis, und stieg die Stufen nach oben. Im zweiten Stock kam ich an eine hohe, mit Schnitzereien verzierte Wohnungstür. Aus ihrem rechten Flügel hatte man einen Teil herausgesägt und eine Metalltür eingepasst, mit Spion und Tastatur für den Code. Ich drückte den Buzzer neben der nutzlos gewordenen Porzellanklingel. Ich weiß noch, dass mir ein Mann aufmachte, der sich sofort wieder abwandte und zurückging zu seinem Computer, der im Flur der Wohnung stand. Daneben standen noch vier oder fünf andere Computer auf Tischen, wie in einem Internetcafé oder Call Center. Alle waren von Männern besetzt, die mindestens mein Alter hatten und nicht wie Backpacker aussahen. Ich ging nach rechts in den Aufenthaltsraum, setzte mich auf einen Hocker an der Stirnseite der Bar, steckte mir eine Zigarette an. Ich hatte den Raum im Blick, den Balkon zur Straße im Rücken. Das wurde mein Platz, an dem ich viele Stunden zubrachte, bis Jamie einzog.

    Die Wohnung hatte Charakter. Es gab Deckenstuck mit Puttenköpfchen und Rosen, im Fensterglas Flecken wie in erblindeten Spiegeln, Fischgrätenparkett, auf dem jeder Schritt knarrte. Siebzigerjahretapeten, die sich rollten wie alte Zehnägel. Über der Bar hing ein Bildschirm, auf dem Musikvideos liefen, mit viel nackter Haut. Vor Lenins Revolution hatten hier bestimmt reiche Leute gewohnt, mit Dienerschaft und französischer Gouvernante. Nach der Revolution hatte man sie verjagt und frischgebackene Sowjetbürger einquartiert. Zwei, drei Familien pro Zimmer, Küche und Bad für alle gemeinsam. Und nun, in ihrer neuesten Inkarnation, war die Wohnung ein Hostel. Ich erinnere mich an die Namen der Schlafsäle. Dingo, Shark, Koala, Ostrich und Crocodile. Und natürlich die Kangaroo Lounge, wo man sich traf. Alles war nach australischen Tieren benannt, denn der Betreiber des Hostels stammte aus Melbourne und pflegte seine Herkunft mit der üblichen Unbescheidenheit der Aussies.

    Er hieß Gary und ich konnte mich über ihn nicht beschweren. Ich hatte auf seine Gastfreundschaft gehofft, auf ein Entgegenkommen, was das Finanzielle anging, doch was er für mich tat, übertraf meine Erwartungen. Er führte ein Hostel, wie man es kennt, mit Doppelstockbetten, Aufenthaltsraum, einem Please do your dishes-Schild in der Küche. Typische Gäste aber hatte er nicht. Er kam in die Lounge an jenem ersten Tag, unrasiert im Hawaiihemd, das über dem Bauch spannte, und offensichtlich verkatert. Als er meinen Rucksack an der Bar lehnen sah, stutzte er und musterte mich von unten bis oben: meine Trekkingsandalen und knielangen Shorts, das verschwitzte T-Shirt, die zum Zopf gebundenen, strähnigen Haare.

    »Halleluja«, sagte er leise.

    Es stellte sich heraus, dass ich der erste Backpacker war, den er begrüßte. Obwohl das Hostel schon zwei Jahre lang existierte. Er bot mir sofort einen Drink an, fragte mich aus. Woher, wohin, wie lange ... was man eben so fragt. Er tat es nicht beiläufig, sondern mit Ehrfurcht, wie einer, der sein Glück noch nicht glaubt. Ich nannte Indien als Ziel meiner Reise, den Überlandweg als bewusste Entscheidung. Zeit spiele keine Rolle, sagte ich, Geld schon. Zur Anmeldung zeigte ich meinen britischen Pass – die zweite Staatsbürgerschaft, die ich seit meiner Geburt besaß. Gary aber hatte ein feines Ohr. Er hörte an meinen Vokalen und meinem noch immer mit der Zunge getippten R, woher ich ursprünglich stammte.

    »Wahnsinn«, rief er. »Du bist aus Südafrika!«

    Jetzt blühte er richtig auf. Fast behandelte er mich wie einen lange verschollenen Bruder. Kein Saffa, schwor er, hatte je einen Fuß nach Odessa gesetzt. Brits ja, Aussies, Kiwis, Canucks und natürlich Amerikaner, die machten das Gros seiner Gäste aus. Dazu Franzosen, Deutsche, Spanier, Schweden. Alles schon da gewesen. Ich aber war eine Sensation, ein kleines Wunder. Er holte seine Putzfrau.

    »Natascha«, sprach er feierlich, »dieser Mann ist ein Backpacker. Er heißt Guy Nicholas Green und kommt aus Südafrika, und er wird bei uns wohnen.«

    Natascha war ein pummliges Mädchen, das wenig gemein hatte mit den Gazellen draußen in der Fußgängerzone. Sie starrte mich an, ein bisschen angewidert, wie mir schien, und erstaunt, dass ich hellhäutig war. Dann sagte sie etwas auf Russisch.

    »Klar muss er duschen«, lachte Gary. »Aber erst muss er trinken.«

    Der Stolichnaya brannte mir im Magen, denn außer einer moldawischen Salzbrezel am Morgen hatte ich noch nichts gegessen. Gary lieh mir ein paar Griwna, so hieß die Landeswährung, und gab mir das Passwort zu seinem Computer, damit ich über Skype meine Mutter anrufen konnte. Er bot an, dass mich ein Freund, der momentan vor der Krim kreuzte, im Segelboot nach Istanbul bringen würde. Dieser Freund war ein Kiwi, und auch das konnte in Garys Augen kein Zufall mehr sein. Er fing an, vom Commonwealth of Nations zu schwärmen, den historischen Banden zwischen unseren Ländern. Auf diese Freundschaft sollten wir uns besinnen in der slawischen Fremde, und wir tranken noch eine Runde, ehe er mir mein Zimmer zeigte.

    Das Crocodile Dormitory lag auf der anderen Seite des Flurs. Es war groß und unbewohnt. Vier leere Doppelstockbetten: zwei links an der Wand, zwei rechts. Gary brachte mir Bettwäsche. Wie eine Präsidentensuite hatte er das Crocodile aufgespart für den Tag, an dem endlich ein echter, ehrlicher Backpacker einziehen würde, wie er mich nannte. Ich wählte das Bett am rechten Fenster, untere Liege. Die Matratze hing durch und war zu kurz für meine Beine, doch die Fensterbank war eine alte Marmorplatte, auf der ich, wenn ich mir dazu ein Kissen nahm, die Haltung des Gurus üben konnte, zu dem ich unterwegs war: wie er seelenruhig im Lotossitz saß, als wären seine Beine längst abgestorben, und über Gier, Hass und Nichtwissen sprach, die Ursachen für alles menschliche Leid.

    Das Zimmer wurde vom Hinterhaus vor der Sonne geschützt. Ich schlief gut und erwachte mit ruhigem Geist, wenn morgens auf den Simsen die Tauben gurrten. Weil ich allein wohnte, konnte ich mich seelenruhig aus dem Laken schälen, nackt umhergehen und die Einheimischen im Hinterhaus beobachten, wenn sie ihre Fenster öffneten und mit der Hand fühlten, ob die Wäsche an den kleinen Stricken trocken war. In diesem Zimmer fiel mich die Hitze nicht an wie eine Hyäne. Es gab viel Platz, um ein bisschen Yoga zu üben, und da war noch etwas, das ich mochte: den Riss in der Wand gegenüber von meinem Bett, drei Meter lang und so breit wie meine Hand. Sand bröselte aus dem Gestein, wenn man kratzte. Ungünstige Bodenverhältnisse, erklärte mir Gary, dazu ein Labyrinth von Katakomben unter der Stadt, denn man hatte den Sandstein für die Häuser unterirdisch gewonnen.

    Die Vorstellung, auf einem solchen geologischen Lochkäse zu sitzen, passte zu meiner Verfassung. Auch mein Fundament war ins Wanken geraten, und genau wie das Haus blieb ich beharrlich. Eine Qualität, die ich brauchte in den Telefonaten mit meiner Mutter. In Kapstadt war es eine Stunde früher als in Odessa. Ich störte Mutter regelmäßig beim Frühstück, das sie trotz der Wintertemperaturen von fünfzehn Grad plus auf ihrer Veranda einnahm. In eine Kaschmirdecke gewickelt saß sie an ihrem Tisch, vor sich einen Teller mit Croissants und die Gischtzungen des Atlantiks, der auf den Indischen Ozean traf. Ich hockte in Garys Besenkammer-Büro mit Blick auf die Wäsche der ukrainischen Nachbarn.

    Mutter machte mir einen Vorschlag zur Güte, wie sie es nannte. Ich würde ein vorgezogenes Erbe aus dem Verkauf unseres Familiensitzes erhalten, genau wie meine Schwester, zu der ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ich sollte nach Kapstadt kommen, um alles zu regeln. Dabei war das Haus längst verkauft und mein Anteil lag bequem auf der Bank. Mutter war nach Walker Bay gezogen, in eine Siedlung für reiche Rentner. Vater wohnte auch dort, allerdings nicht mehr bei ihr, sondern in einem Heim.

    Nie gelang es mir am Telefon, seinen genauen Zustand zu erfahren. Mutter sagte mir nicht die Wahrheit. Sie betonte nur, wie gern er mich sehen würde – seinen einzigen, seinen verlorenen Sohn. Ich war auch nicht ehrlich zu ihr. Ich sagte, mein Projekt in Mexiko sei zu Ende und nun habe ich eins in der Ukraine zu laufen, sei stark eingespannt und brauche dringend einen Vorschuss aufs Erbteil, am besten in Dollar mit Western Union zu schicken.

    »Wieso hast du nichts mehr?«, fragte sie in ihrer vom Alter knarzig gewordenen Stimme.

    Ich hörte die Brandung in Garys Kopfhörer und das digital verzerrte Keifen der Möwen, die vor der Terrasse um Croissantkrumen bettelten.

    »Man hat mich in Mexiko ausgeraubt«, log ich. »Und die neue NGO hier ist klamm.«

    »Armer Guy«, sagte Mutter. »Komm heim, ich zahl dir den Flug.«

    Und ich war wieder am Ende mit meinem Latein.

    In jener ersten Woche mit den Bittstelleranrufen, bevor Jamie Durham einzog und meine Geldsorgen aufhörten, unternahm ich in Odessa viele Spaziergänge. Spazierengehen ist der Luxus des armen Mannes, genau wie die Beobachtung, das Gespräch, die Masturbation. Es war nicht immer leicht, mich aufzuraffen zu diesen Ausflügen. Ich wäre lieber im Hostel hocken geblieben oder im Treppenhaus, in der Vorahnung des inneren Friedens, den der indische Guru versprach. Doch die Grübelschleifen in meinem Hirn lösten sich nur auf, wenn ich dem Körper Bewegung verschaffte. Also ging ich spazieren und eignete mir wie nebenbei die Ortskenntnis an, die mich so wertvoll machen sollte in den Augen von Jamie.

    Nach der Erkundung der Altstadt mit Deribasov Street, Seepromenade, Potemkintreppe und Hafen unternahm ich Ausflüge in den Park und zu den südlich aneinandergereihten Stränden. War ich an einem Ziel angekommen, wählte ich mir ein Objekt der Betrachtung. Trauriges war mir am Liebsten. Zum Beispiel setzte ich mich an einen altersschwachen Betontisch am Lanzeron-Strand und zählte die Wellen, die sich nicht im Traum messen konnten

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