Ferymont: Roman
Von Lorena Simmel
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Über dieses E-Book
»Ferymont« ist ein literarisches Porträt einer Region im Herzen Europas, das eine oft unsichtbare Realität thematisiert. Ein leiser Roman, der sprachlich virtuos kapitalistische Arbeitsbedingungen hinterfragt und sensibel die Geschichten von Saisonarbeiter*innen in den Mittelpunkt stellt.
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Buchvorschau
Ferymont - Lorena Simmel
Prolog
In Terespol regnete es. Der Bahnhof war ein großer Neubau aus Beton und Glas. Seine Empfangshalle war um diese Uhrzeit fast leer, durch eine automatische Schiebetür sah man auf einem Gleis weit hinten eine alte Lokomotive. Sie passte zum Regen, der ein aus der Mode gekommenes Wetter zu sein schien.
Gegen sieben Uhr füllte sich die Halle mit Ankommenden. Ihre Stimmen und Schritte hallten von der hohen Decke wider, von Zeit zu Zeit bewegte sich ein Schwall Reisender zu den Ausgängen. Eine ältere Frau trug einen Trauerkranz aus Blumen vor sich her, andere waren mit Gepäcktaschen, Regenschirmen, Einkaufstüten oder Laptoptaschen unterwegs. Ein paar schauten auf ihr Handy oder hörten Musik.
Auch vom Bahnhofsvorplatz aus betraten jetzt Leute die Halle. Sie blieben meist einen Moment vor der großen Anzeigetafel über der Schiebetür stehen und gingen dann weiter, hinaus zu den Gleisen oder zur »Bar« im hinteren Bereich der Halle.
Ich saß auf einer der Bänke beim Eingang. Mein Zug war für 7 Uhr 15 mit zwanzig Minuten Verspätung angekündigt.
In diesem Moment, der sich durch die Wartezeit ergab, hatte ich das angenehme Gefühl, in den Geräuschen, dem Gemurmel und der Geschäftigkeit der Ankommenden und Abreisenden unterzugehen.
Jede und jeder von ihnen hätte, so dachte ich, jemand sein können, mit dem ich im Jahr zuvor auf dem Feld gearbeitet hatte. Ich suchte nach Darias oder Konrads Gesicht, und tatsächlich hoben sich für Augenblicke einzelne Gesichter aus der Menge hervor, die aber sogleich wieder zwischen den Reisenden verschwanden. In der Menge, die mich umgab, ohne von mir Kenntnis zu nehmen, fühlte ich mich geborgen und geschützt, aber auch hellwach. Es beachtete mich niemand, gleichzeitig konnte ich alles ungestört beobachten.
In diesem Moment war ich sicher, den Herzschlag der Stadt und der umliegenden Siedlungen und Dörfer an der belarussischen Grenze zu hören, und ich zögerte noch einen Moment mit dem Aufstehen, um noch kurz unter den Reisenden zu bleiben und mit ihnen diesen Wintermorgen zu erleben.
Ich arbeitete damals auf einem Tabakfeld in der Schweiz. Wegen der nassen Böden hatte sich das Setzen der Jungpflanzen um mehrere Wochen verzögert. Im April und Anfang Mai war es kalt gewesen, danach ungewöhnlich warm. Im Juni regnete es fast die ganze Zeit. Jeden Morgen, wenn wir aufs Feld fuhren, hingen dicke Regenwolken bis tief über den Jura. Von den Pappeln flogen die Samen wie Watte über die Kanäle und blieben auf dem Wasser und den Wegen liegen. Die ockerfarbenen Rinder der Strafanstalt Bellechasse standen reglos auf der vom Torf schwarzen Erde. Die Weizen- und Rapsfelder glänzten im Dunst, der nach dem Regen über der Ebene lag. Die Pflanzen ließen unter dem Gewicht des Wassers ihre Köpfe hängen. Das »Wetterloch«, der Eingang des Tals hinter dem Neuenburger See, war von Nebel verhangen.
Es war März, als ich ankam. Meine Tante holte mich am späten Nachmittag am Bahnhof in Ferymont ab. Sie wartete am oberen Ende der Treppe und lachte, während sie anscheinend fror. Ihre Arme hielt sie über ihrem Strickmantel verschränkt. Mir war warm von der Reise und dem beunruhigenden Gefühl, das mich jedes Mal überfiel, wenn ich in Ferymont ankam.
Hinter meiner Tante erhob sich das »Drogenwäldchen« in den Himmel, eine Gruppe kahler Pappeln, unter denen früher im Dorf für zwielichtig gehaltene Gestalten mit Bier und Zigaretten gesessen hatten.
Heute sah das Wäldchen ordentlich gestutzt aus. Die Bänke unter den Pappeln waren leer, in den Baumkronen rauschte der Wind.
Meine Tante drückte mich an sich. Sie roch nach Kafffee und Parfüm, ihre Haare waren diesmal braun gefärbt. Seit meinem letzten Besuch vor ein paar Monaten schien sie kleiner geworden, wie eingegangen zu sein.
»Endlich«, sagte sie und lächelte.
In ihrem tannenbaumgrünen Golf fuhren wir die Bahnhofstraße ins Dorf hinauf. Das Fitnesszentrum war wie immer mit Neonlicht ausgeleuchtet, ein paar Leute trainierten an den wie ungelenke Vögel aussehenden Geräten. Vor dem Blumengeschäft standen Stiefmütterchen und Thujastecklinge in Reih und Glied auf bewässerbaren Tischen. Im Café Münz saßen ein paar ältere Menschen vor Eisbechern oder Bier.
Seit dem Umzug meiner Eltern lebte meine Tante allein in einem großen Haus am Ortsrand von Ferymont. Das Haus war von einem Wäldchen umgeben, davor erstreckte sich über einen Teil des Grundstücks eine große Einfahrt. Eine Außentreppe aus Stein mit einem schönen, nur etwas angerosteten Geländer führte zur Eingangstür hinauf. Auf beiden Seiten des Gebäudes gelangte man über Kieswege in den großen Garten. Es war ein altes Haus, in dem meine Tante früher mit ihrem Bruder, meinem Vater, gewohnt hatte. Die Geschwister waren, wie auch meine Mutter, in den 1980er Jahren aus Deutschland zum Studieren in die Schweiz gekommen.
Ich bezog das Zimmer im Obergeschoss, eine Art Büro meiner Tante mit Bett am Fenster, einem Schreibtisch, auf dem ein alter Flachbildschirm stand, und einem Schrank mit Glastüren und Spitzenvorhängen. Meine Tante hatte es extra für mich hergerichtet. Sie hatte meinen alten, silbernen CD-Player, den meine Eltern nebst ein paar anderen Sachen von mir im Keller meiner Tante untergerbacht hatten, auf die Fensterbank gestellt. Er glänzte matt futuristisch. Meine alte Schreibtischlampe, auf die ich als Jugendliche mit schwarzem Marker Did your shadow ever speak to you? geschrieben hatte, klemmte am Schreibtisch. Aus dem Fenster sah man auf Bäume, ein Stück Einfahrt und auf den Himmel über dem Wald.
Da ich anfangs, wahrscheinlich, weil das die weniger anstrengende sowie unkompliziertere Arbeit war, mit den Männern in der Spargelernte eingesetzt wurde, fuhr ich am Morgen nach meiner Ankunft im Auto mit einem älteren Ehepaar, Zef und Drita, zum Nusshof, einer Unterkunft der landwirtschaftlichen Hilfskräfte, die im Großen Moos in der Nähe einer Ausfahrt der Umfahrungsstraße »T10« gelegen war, und stieg dort in einen Kleinbus, der uns zum Feld fuhr.
Vor dem Einsteigen in die Feldbusse schüttelten sich die Männer die Hände, die Frauen nickten einander und den Männern zu, einige rauchten, man stand etwas herum und scharrte mit den Arbeitsschuhen in der Erde.
Den Nusshof kannte ich vom Vorbeifahren. Ein altes, sandfarbenes Haus mit roten Fensterläden, das wie ein Verwaltungsgebäude aussah. Eigentlich handelte es sich um einen alten Gasthof, der schon lange nicht mehr in Betrieb war.
Obwohl es gerade erst dämmerte, schienen die meisten Hilfskräfte hellwach, als hätten sie schlecht oder gar nicht geschlafen. Auch ich hatte in der ersten Nacht kaum Schlaf gefunden. Mehrere Male war ich mit einem komischen Gefühl aufgewacht, ohne mich orientieren zu können, bis sich in der Dunkelheit neben dem Bett das Bürofenster meiner Tante abzuzeichnen begonnen hatte und mir bewusst wurde, dass ich in Ferymont in ihrem Haus im Bett lag, und nicht in meiner Wohnung in Berlin.
Nach dem Rumstehen und Rauchen ging alles sehr schnell. Ein Gruppenleiter wies die Saisonarbeitenden in unterschiedliche Autos, man sprang rein, die Türen gingen zu. Ich quetschte mich auf die Rückbank zwischen andere Erntehelfer, es roch nach Gummi und Autositzen und nach der Erde, die von den Schuhsohlen gefallen und in den Fußräumen getrocknet war.
Der Fahrer des Kleinbusses drehte sich zu den Sitzreihen um.
»Auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte er an mich gewandt und grinste. Er hatte ein freundliches Gesicht mit ruhigen Augen. »Woher kommst du?«
»Berlin«, sagte ich.
»Alles klar«, sagte er. »Willkommen.«
Ich war etwas aufgeregt und konzentrierte mich auf das Geräusch der aneinanderreibenden Regenschutzkleidung und auf die Musik, die vorne aus dem Busradio kam.
Draußen vor dem Fenster zog eine Landschaft vorbei, die ich kannte und die mir vertraut war, mir an diesem Morgen aber wie aus einer Welt stammend erschien, die ich noch nie richtig gesehen hatte: die Felder mit dem Gemüse, die Kanäle, die Dörfer mit den im hier typischen Stil gebauten alten Bauernhäusern, die neuen Siedlungen aus weißen, kubusförmigen Gebäuden, vor denen die Firmenautos kleiner Sanitär- oder Heizungsinstallationsunternehmen standen, und dahinter die Hügel des Ferymonter Umlandes, der Jura mit dem Sendeturm auf dem Chasseral, die Hänge mit gründunkelblau schimmerndem Wald, das Wetterloch.
Um die Häuser in den Dörfern wirkte alles aufgeräumt, die Gärten waren winterlich kahl. Um manche Büsche war beiges Vlies gewickelt.
In der Nähe einer Tankstelle fuhren wir an einem Parkplatz vorbei, auf dem Autos, Wohnwagen und Wohnmobile standen. An einer zwischen zwei Rückspiegeln gespannten Wäscheleine hingen Geschirrtücher, zwei Personen luden Werkzeug in einen Koffferraum. Diese Menschen machten in der Region Halt, so lange ich denken konnte, und waren früher in die Dörfer gekommen, um von Tür zu Tür zu gehen und Körbe zu verkaufen oder den Bewohnern verschiedene Dienste wie das Schleifen von Messern oder Fensterputzen anzubieten, die meine Eltern manchmal in Anspruch genommen hatten.
Jetzt schaute ich auf die Autos, Stühle und einen auf dem Asphalt liegenden Ball wie eine Touristin auf eine Attraktion.
Das Große Moos, die Ebene zwischen den Seen um Ferymont, war spärlich besiedelt. Nebst den Aussiedlerhöfen, die weit weg von den Straßen zu sehen waren, standen an den Bahnhöfen der Strecke, die auf einem Damm durch das Flachland führte, kleine Siedlungen mit drei- oder vierstöckigen Wohnblocks. Auch am Bahnhof in Ferymont gab es eine solche Siedlung, eine Ansammlung von Blöcken mit je acht bis zwölf Wohnungen.
Die Dörfer lagen auf den Anhöhen über dem Großen Moos oder an den Ufern der Seen. Sie zogen sich über mehrere Kilometer an den durch das Dorf führenden Hauptstraßen entlang und zersiedelten die Gegend bis in die Ebene, und wenn auch keines der Dörfer ein richtiges Zentrum hatte, so hatte doch das Seeland, wie die Region genannt wurde, eines, nämlich Ferymont, das genau in der Mitte von drei Seen auf einem Hügel lag.
In Ferymont gab es ein Kino, die Bäckereien Wäch und Ritter, zwei Kioske, den Kücheneinrichtungsladen Rieder, zwei Sportartikelgeschäfte, eine Käserei, eine Metzgerei und eine Bibliothek, in der meine Mutter gearbeitet hatte. Außerdem gab es eine Drogerie und eine Apotheke, zwei Supermärkte, eine Papierwarenhandlung, mehrere Friseurläden, eine Schule sowie einen Schachverein, der sich, in Anlehnung an die englische Bezeichnung für die Problemschach-Art Fairy chess, Fairymont nannte und dessen Vereinsräume sich direkt neben der einzigen Tankstelle im Dorf befanden.
Die meisten Leute im Seeland wohnten, wie meine Tante, in Einfamilienhäusern, die so gebaut waren, dass man seine Nachbarn möglichst selten sah und aus den Zimmerfenstern eher auf die Zäune, Hecken oder Mauern blickte, die die Grundstücke voneinander trennten.
In Ferymont kreuzten sich drei Bahnlinien, die die größeren Städte im Umland miteinander verbanden. Außerdem fuhren Postbusse in die kleineren umliegenden Ortschaften.
Nebst den Bahnstrecken durchzog ein Netz aus Landstraßen und Feldwegen die Ebene, sowie die vor etwa zwanzig Jahren fertiggebaute Umfahrungsstraße T10, an deren Ausfahrten in den letzten Jahren Tankstellen, Kleinindustrie, ein paar Discounter und, in der Agglomeration der nächsten größeren Stadt, zwei Einkaufszentren entstanden waren. Drei Strafvollzugsanstalten grenzten an das Große Moos. Ansonsten bestand die Gegend aus den drei Seen, die nach den Überschwemmungen, Versumpfungen und darauffolgenden Entwässerungen übriggeblieben waren, sowie aus Feldern, auf denen intensiv Gemüse angebaut wurde. Vier Hauptkanäle verliefen durch die Ebene und verbanden die Seen, die zulaufenden Flüsse und die kleineren Wasserläufe miteinander.
Der landwirtschaftliche Betrieb, der mich als Saisonarbeiterin eingestellt hatte, war ein mittelgroßes Unternehmen mit dem Namen Bescheder Beeren, das sich auf den Anbau von Spargel und Beerenkulturen spezialisiert hatte. Seine Wohn- und Wirtschaftsgebäude lagen in einem Nachbarort von Ferymont, seine Felder in der Umgebung in der Ebene, an einem der Kanäle und auf der Nordseite eines circa sechshundert Meter hohen Molassehügels mit dem Namen Jolimont, der während der Abtragung des Jura-Faltengebirges entstanden war und in dessen Sandsteinschichten man versteinerte Muscheln und Haizähne finden konnte. Geführt wurde der Betrieb von einem älteren Ehepaar, Herr und Frau Bescheder, die ich von früher von Dorfffesten und anderen Veranstaltungen in der Gegend vom Sehen kannte.
Mit Plastikeinkaufskörben stellten wir uns an einem Ende des