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Bin gesund und guter Dinge
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eBook289 Seiten4 Stunden

Bin gesund und guter Dinge

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Über dieses E-Book

Der zweite Roman nach einem vielbeachtetem Debüt

Paul Lichtenpergs Leben ist aus den Fugen geraten. Denn während der Großvater in seiner Gedankenwelt versinkt, ist die restliche Familie von der Bildfläche verschwunden. Die Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz umgekommen und Geschwister hat er nie gehabt. So scheint es zumindest, und genau so lebt Paul sein Leben: In seine Phantasiewelt völlig zurückgezogen, versucht er seinen Alltag im Schloss mit Großvater und dessen ukrainischer Pflegerin Mila zu bewältigen.
Bis er eines Tages im hintersten Winkel des Familienarchivs die Kriegstagebücher seines Großvaters und den Briefwechsel seiner Eltern findet. Seite für Seite liest Paul die Aufzeichnungen und die Briefe, die kurz vor seiner Geburt geschrieben wurden, und Seite für Seite kommt er hinter die Geschichte seines Großvaters und den wahren Verbleib seiner Eltern. Denn so wie es scheint, ist es nicht. Paul entscheidet sich, die Kriegserlebnisse seines Großvaters zu erkunden und begibt sich mit ihm und Mila auf eine Reise durch Polen und die Ukraine. Während er immer tiefer in die Vergangenheit seines Großvaters eintaucht, gerät er auch auf die Spur seiner Eltern und findet sich selbst.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Nov. 2012
ISBN9783902862174
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    Buchvorschau

    Bin gesund und guter Dinge - Philipp Traun

    ZU HAUSE

    Die letzten Worte, die mein Großvater sagte, bevor er vorübergehend aufhörte in sinnvollen Sätzen zu sprechen, waren: »Ihr alle verdankt eure Existenz diesem Plastikbein.« Er zog umständlich, da er schon damals im Rollstuhl saß, seine Hose aus, schnallte eine Prothese vom rechten Oberschenkel und hielt sie, wie eine Trophäe, in die Luft.

    Wir gingen und fuhren gerade durch die Ahnensäle, ich trug leichte und dunkelblaue Sportschuhe von Superga, eine kurze olivgrüne Militärhose und ein schwarzes T-Shirt von American Apparel. Meine zweite komplette und frische Garnitur an Kleidung heute und die Tage hier neigten sich dem Ende zu und auch das dreisame Leben von Mila, Großvater und mir hier im Schloss, denn ein Immobilieninvestor hatte zugeschlagen, der Kaufvertrag war heute unterschrieben worden, wir hatten ausgesorgt. Großvater würde in ein Luxusheim übersiedeln und ich war einigermaßen überrascht, denn weder hatte ich davor von dieser Prothese gehört noch gewusst, dass es einen Zusammenhang zwischen künstlichen Gliedmaßen und Existenzen gab.

    »Wen meinst du mit ihr?«, fragte ich, doch Großvater schwieg, er schleuderte die Prothese durch den Saal und seine Hose hinterher. Urin schwappte durch seinen Katheter und ein großes Schweigen begleitete das Zuendegehen unserer Zeit im Schloss. Es war Anfang September, der Hof war verwahrlost, die Schlossdächer waren löchrig. Ein Gewitter zog auf, die Vereinten Nationen hatten das Jahr 2012 zum Jahr des Wüstensperlings ausgerufen und die Fassaden bröckelten ab. Ein letztes Mal vielleicht wurde mein Großvater heute durch sein Schloss geschoben, durch die Ahnensäle, in den Festsaal und weiter durch die vielen kahlen und scheinbar zwecklosen Zimmer, den Behindertenaufzug hinunter in den bewohnten Teil, in dem wir lebten, und in den großen Salon, wo Mila schon Tee und Sherry für Großvater vorbereitet hatte.

    »Ich glaube, das war es jetzt endgültig«, sagte ich und deutete auf Großvater.

    »Wo ist sein rechtes Bein?«, fragte Mila.

    »Er hat überhaupt keins!«, antwortete ich.

    »Wo ist seine Prothese?«, fragte Mila.

    »Du wusstest von ihr?«, und Mila nickte. Ich nickte auch, denn natürlich wusste sie davon, sie pflegte meinen Großvater und badete ihn sogar, und einen Moment lang war ich erleichtert, niemals zuvor von der Prothese gehört zu haben.

    »Die liegt im Ahnensaal«, sagte ich.

    »Und die Hose?«, fragte Mila.

    »Von der wusstest du auch?«, fragte ich. Mila lächelte und ich ging. Verließ das Schloss durch das Haupttor, der Himmel wurde weit, kein Mensch zu sehen und ich war über die Dinge plötzlich nicht mehr so erleichtert, denn wer weiß, dachte ich.

    Die Gewitterwolken bäumten sich hoch über der Erde auf. Sie stauten sich, als wären sie auf eine Wand gestoßen und wer weiß, dachte ich, während ich in Richtung Dorf spazierte. Vielleicht würde Großvater einen Körperteil nach dem anderen durch die Ahnensäle schleudern und würde dazu nur sagen: »Ihr alle verdankt eure Existenz diesem Plastikarm!«, oder »Ihr alle verdankt eure Existenz dieser Plastiknase!« Mein Großvater würde sich langsam in seine Plastikteile auflösen und ich würde bis zu seiner Komplettauflösung noch immer nicht wissen, wer wir alle eigentlich waren?

    Es war schwül, die Schwalben flogen tief über die Wiesen, die um das Schloss lagen und vor sich hin wucherten. Irgendetwas ging zu Ende, dachte ich und dieses Ende staute sich, so wie dieses Gewitter, am westlichen Horizont und wartete nur auf den richtigen Augenblick, um auf uns niederzugehen. Die letzten zwanzig Jahre waren ein Rückzug.

    Ein paar Fliegen schwirrten um mich, und vielleicht war ich auch in den Facettenaugen dieser Insekten kurz vor dem Ende oder sogar schon Kadaver, denn Tiere begriffen so ein Ende früher als wir Menschen. Sie schwirrten um mich auf der Suche nach totem Fleisch, und vielleicht hatten sie ja recht und ich verweste am lebendigen Leib.

    Schule, Matura, acht Monate Militärdienst, ein ewiges Geschichtestudium, und was für andere der Weg hinaus war, war für mich ein Weg zurück und hinein gewesen, immer tiefer hinter die Mauern des Schlosses, hinter die Mauern von Alkohol und Drogen, von oberflächlichen Affären mit den letzten Frauen, die noch immer an den letzten Glanz der Aristokratie glaubten, oder an mein entnervtes und letztes Aufbäumen dagegen. Kam ganz auf die Frau an, und auch ganz darauf, worauf ich gerade Lust hatte, denn manchmal war ich exzentrischer Monarchist und Universalerbe, manchmal gelangweilter und beleidigter Trotzkist im ländlichen Exil, doch meistens lag ich zugedröhnt und betrunken im Festsaal, starrte an die Decke und wartete auf Karl und seine nächste Heroinlieferung.

    Immer seltener verließ ich das Schloss und das Dorf, um in Wien meinen Studien- oder anderen Angelegenheiten nachzugehen, immer seltener und schwächer wurde meine Sehnsucht danach und die Sehnsucht überhaupt. Das Einzige, was ich tat, war Schreiben.

    Die Fliegen wurden von einem Windstoß von meinem Arm geweht, der Weg führte leicht bergauf, die ersten Dorfhäuser lagen rechts und links, hinter mir ging die Sonne unter und ich betrat den Gasthof zur Post.

    »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte Karl, als ich mich zu ihm setzte. Er saß über einer Zeitung.

    »Alles Gute zum zweiten Geburtstag«, sagte ich.

    »Ebenfalls!«

    Der Gasthof war leer.

    »Hier steht, dass Europa früher oder später wieder in seine Länder zerfallen wird, und nicht nur in seine Länder, sondern darüber hinaus auch in ein nördliches und südliches Europa, und Österreich läge ähnlich wie vor 1989 als Puffer wieder zwischen den Blöcken.«

    »Zwei Jahre!«, sagte ich.

    »Zwei Jahre!«, wiederholte er gedankenverloren.

    Karl nahm einen Schluck von seinem Kaffee, eine Zigarette verrauchte im Aschenbecher, dann faltete er die Zeitung, warf sie in hohem Bogen hinter die Theke und sie löste sich während des Fluges in ihre Einzelseiten auf.

    »So wie diese Zeitung«, sagte er und zog an seiner Zigarette. Dann kam sein Blick, der Blick, den ich oft schon beobachtet hatte. Es waren seine Pupillen, die Augenbrauen, die einen Moment zusammenzuckten, und er presste seine Lippen zusammen, als würden sie mit aller Kraft zurückhalten, was im Begriff war, gerade aus ihnen herauszukommen.

    Karl und ich waren hier, im selben Dorf, aufgewachsen, doch Freunde waren wir erst mit elf oder zwölf geworden, nämlich an einem Sonntag nach der Kirche, als Großvater, Großmutter und ich hier essen gewesen waren und Karl, damals schon im Wirtshauseinsatz, mir ein Himbeersoda über Hose und Hemd geschüttet hatte.

    Vor einigen Monaten hatte Karl den Gasthof zur Post von seinem verstorbenen Vater übernommen. Er hatte zwar immer gesagt, dass er niemals und so weiter … aber dann war ihm die Sache doch gelegen gekommen. Das Einzige, was Karl, außer in seinem Gasthaus zu sitzen, zu warten und zu erben, noch tat, war sich intensiv mit den Möglichkeiten des Internets auseinanderzusetzen. Einmal hatte er sich in den Computer des größten österreichischen Pizzalieferservices gehackt und das Wiener Parlament mit Pizza Diavolo überschwemmt. Ein andermal verschaffte er sich Zugriff zur Seite eines österreichischen Tourismusverbands und ersetzte das Startbild von Bergen, Seen und Fröhlichkeit mit dem Bild einer Massenschlägerei und dem Satz »Urlaub bei Feinden«. Früher hatte ich ihn gebeten, die Mails unserer Pflegerinnen zu überwachen, denn ich wollte sicher sein, dass Großvater in guten Händen war, doch niemals konnte mir Karl schlechte Nachrichten überbringen. Alle Pflegerinnen waren in Ordnung gewesen, und auch Mila schien in Ordnung. Sie schrieb höchstens an ihren Bezirkspolitiker-Freund in Wien und die Nachrichten zwischen den beiden waren nur ein Austausch von Befindlichkeiten.

    »Warum nicht?«, hatte er damals, als sein Vater gestorben war, gesagt und den Gasthof übernommen.

    Das Gewitter hielt die ganze Nacht, als hätte es sich an den Schlosstürmen verfangen. Ich konnte nicht schlafen, denn das Gewitter war unheimlich und die Nacht wurde von sekundenlang stehenden Blitzen immer wieder hell erleuchtet.

    Ich setzte mich auf, mit jeder Wetterentladung strahlten die Fresken meines Turmzimmers auf mich herab, die kleinen Figuren, deren Gesichter über die Zeit unkenntlich geworden waren. Figuren, die in symbolischen Szenen miteinander verbunden waren, im Tanz, in Liebe, im Leben und im Sterben. Ich stand auf und drehte das Licht an, nahm die schwere Taschenlampe vom Fensterbrett und verließ das Zimmer.

    Ich ging an Milas Schlafzimmer vorbei, ihr ukrainisches Beten wurde vom Donner verschluckt, so wie der Schein meiner Lampe von den Blitzen. Ich stellte mir Milas Gesicht vor, schmal, zart, und dennoch stark im Ausdruck, hübsch. Ihre dunkelbraunen Augen, die so viel mehr als ihre 35 Jahre ausdrückten, »eine alte Seele«, hatte Großvater manchmal gesagt. Ich ging weiter, vorbei an den Schlaf- und Wohnräumen meines Großvaters, die Schlossmauern bebten unter der Wucht des Wetters, durch die Dächer jagte der Wind, unter mir knarrte der Boden und jeder meiner Schritte konnte mein letzter hier sein.

    Ich leuchtete die Gänge ab, die vielen kleinen Risse im vergilbten Verputz der Wände, die Eisentür zum großen Archiv, das ich mittlerweile nur noch selten betrat und in dem eine kaputte Kuckucksuhr hing, in dem in gestapelten Kartons die Geschichte meiner alten und aussterbenden Familie lagerte, in Form von Dokumenten und Urkunden, Siegeln, kaiserlichen Depeschen, Personalabrechnungen, Abschusszahlen von Hirschen, Fasanen, Enten, Rehböcken Wildschweinen und sogar einem Menschen, den Großvater vor vielen Jahren während einer Treibjagd von einem Baum geschossen hatte und dafür niemals belangt oder auch nur ins polizeiliche Verhör genommen worden war. Und in Form eines Zeitungsberichts über einen Passagierflug am 7. Jänner 1991 von Hongkong nach Wien.

    Ich betrat das Archiv, die Taschenlampe voraus. Es roch nach trockenem und altem Papier, das Gewitter schlug gegen die vernagelten Fenster. In der Mitte stand ein langer, bis auf einen sechsarmigen Kerzenständer leerer Tisch, auf dem Großvater früher gesessen hatte, einmal in der Woche, konzentriert Unterlagen durchblätterte und »Keinen Mucks!« zu mir sagte. Seine Haare waren damals schon weiß, glatt zurückfrisiert, manchmal strich er sich mit der Hand über den Kopf, wenn ihm eine Strähne ins Gesicht fiel, manchmal strich er mir über den Kopf und manchmal fuhr er sich über seinen Schnurrbart. Meistens ließ ich ihn irgendwann allein, wanderte durch die Säle und vermisste meine Eltern, die sich irgendwo über Westthailand in Luft aufgelöst hatten. Die Säle des Schlosses waren nur noch brüchige Mauern um mich und brüchige Decken über mir und ein brüchiger Boden unter mir. Alles war im Vergehen und Verfallen erstarrt.

    Fast jedes Mal, wenn ich wieder ins Archiv zurückkam, stand Großvater an einem der vernagelten Fenster und sagte mit seiner unverkennbar sanften und dunklen Stimme: »Schön, dass es euch gibt, Paul!«, und es war Großvaters Stimme, warum mir die Klänge der Menschen so nahgingen.

    »Schön, dass es euch gibt, Paul!«, doch außer Großvater und mir war da niemand. Später, wenn es dunkel war, kam Großvater zu mir, ich sollte mich neben ihn setzen, dann senkte er die Stimme und es begann ein Spiel, das mich bis weit in meine Jugend faszinierte. »Es wird einmal etwas passieren …«, begann er, »man weiß nur nicht wann und man weiß auch nicht wo …«, und Großvaters Stimme wurde immer bedrohlicher, die Zukunft immer düsterer, »man weiß nur, dass es passieren wird …«, erzählte er weiter. Er verstrickte mich Wort für Wort in eine kommende Katastrophe. Ich saß wie auf Nadeln, nichts auf dieser Erde rührte sich, und irgendwann und plötzlich brüllte er los. Ich zuckte zusammen und ein tiefer Schauer ließ mich erbeben. Es war jedes Mal nur sein Brüllen, das da irgendwann einmal passieren sollte, und dennoch und vielleicht gerade deswegen liebte ich dieses Spiel. Es gab mir ein Gefühl von Leben und das Gefühl, dass ich dieses Leben nicht nur auf den Anrufbeantworter dieser Welt sprach.

    Ich leuchtete über die Regale, über die in der Dunkelheit kaum sichtbar nummerierten und in riesigen Kästen geschlichteten Kartons, die bis zur Decke reichten und die Wände des ganzen Raums einnahmen. Ich setzte mich, zündete die sechs Kerzen an und löschte die Taschenlampe.

    Manchmal blieb Großvater den ganzen Nachmittag bis spätnachts über den Unterlagen sitzen, die alte Köchin brachte Tee und Sherry, er rauchte kurze Zigarren, der Geruch lag noch immer in der Luft, er murmelte und folgte den Zeilen mit seinem Zeigefinger. Es war still und einsam damals, kein Geräusch drang durch die Schlossmauern und es war so still und einsam, als wäre eine Glasglocke über unser Leben gestülpt worden. Draußen und weit entfernt war ein Flugzeug vom Himmel gestürzt, irgendetwas schmerzte noch immer, doch kein Geräusch drang durch diese Schlossmauern und nichts hatte sich geändert. Die alte Köchin war gestorben, zwanzig Jahre war das alles her, und ich hob den Kerzenständer vom Tisch und dachte, dass es vielleicht das Beste wäre, dieses Archiv und diese Kartons, dieses Schloss und diese ganze Vergangenheit einfach in Feuer aufgehen zu lassen. Der Rauch des Feuers würde wie ein grauer Abschied über die Landschaft wehen und immer dünner werden, bis nichts mehr übrig war außer Schutt und Asche und ein zu einem Klumpen geschmolzener Plastikgroßvater.

    Ich ging durch den Raum, der Kerzenständer war schwer, ich schob die Vorhänge zur Seite. Dahinter lagen Geweihe, Papierrollen, tote Fliegen und andere Insekten, eine kleine Holzkiste mit der Aufschrift »Schubumkehr 1980–1991« stand in einer Fensternische, die Tür zum Turm war unverschlossen, zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann. Ich leuchtete hinein, eine beschlagene Holztruhe stand an einer der Wände, sonst nichts, ein Turm nur für eine Truhe, dachte ich und zog die Truhe aus dem Turm bis zum Tisch. Das Wort »Privat« stand auf einer der Seiten. Ein viel zu kleines Sicherheitsschloss hing am Verschlussscharnier. Ich betrachtete die Truhe, ich betrachtete die hunderten, vielleicht tausenden Kartons, und all das, dachte ich, würde in einer viel größeren Geschichte und Vergangenheit aufgehen und verschwinden, denn übermorgen würde Herr Schmid von der Landesregierung mit seinem blauen Golf, der erloschenen Pfeife und dem »Ich bremse auch für Tiere«-Aufkleber kommen, und er und seine Männer würden die Kisten in ihre LKWs packen, eine nach der anderen, von der ersten mit Inhalten über das 12. Jahrhundert bis zur letzten vom 7. Jänner 1991, denn danach war nichts mehr geschehen. Zwanzig Jahre! Großvater hatte einen Schlaganfall erlitten, manchmal saß ich vor dem Fernseher und schaute Woody-Allen-Filme, die Köchin war gestorben, neue Angestellte kamen, Pflegerinnen vor allem, und es war nur typisch für Großvater, dass nicht er für immer ging, sondern all die neuen Pflegerinnen aus der Slowakei, aus Polen, Ungarn und Bulgarien. Bis vor zwei Jahren Mila kam, und sie kam mit dem Selbstvertrauen eines Flugzeugträgers.

    Mila blieb und ich stand seit Jahrtausenden kurz vor dem Abschluss meines Geschichtestudiums, ein Kamin war vom Dach gebrochen und lag verstreut in seinen steinernen Einzelteilen im Hof herum, die Fresken lösten sich auf, manchmal ging das Klopapier aus und wir benützten Küchenrollen oder Taschentücher und freitags gab es Fisch.

    Mit der Taschenlampe schlug ich das Schloss der Truhe auf.

    Einmal im Monat kam Doktor Zach und besah sich Großvater, ich hatte einen Roman veröffentlicht, vor fast zwei Jahren jetzt, der Behindertenaufzug wurde eingebaut, die Sommer waren heiß, die Winter kalt und eines Tages stand Herr Luchs mit Anwälten und einem Geldkoffer vor der Tür und was blieb uns schon anderes übrig.

    In der Truhe lag ein einziger dicker Ordner mit der Aufschrift »Russland 1941–1942«.

    An manchen Tagen passierte nichts und wir ließen die Zeit vergehen.

    Ich schaltete die Taschenlampe an, blies die Kerzen aus, schloss die Truhe, stellte die »Schubumkehr«-Truhe darauf und zog die beiden Kisten durch die Gänge und hinunter. Mila hatte aufgehört zu beten, ich stellte mir ihr schlafendes Gesicht vor, ihre geschlossenen, von Träumen bewegten Augen, und zog die Truhen weiter in mein Zimmer.

    Und an manchen Tagen schien die Zeit keinen Augenblick zu vergehen, ein unheimliches Gewitter hatte sich in den Schlosstürmen verfangen, Blitze erhellten die Fresken über mir, ich holte den Russland-Ordner aus der »Privat«-Kiste, schob die Kisten dann unter das Bett, legte mich hin, es begann zu dämmern und ich las.

    14. Mai 1941, Warschau

    an dem gemessen ist die ganze Hess-Affäre eine Bagatelle.

    Wir haben es nicht notwendig um Prestigeverluste zu bangen. Das ist wieder was für die Miesmacher. Ich bin nach dreieinhalbstündiger Fahrt 2. Kl. D-Zug um 14.30 Uhr dort angekommen. Ich habe zwanzig Unteroffiziere und Mannschaften mit mir gehabt, um die ich mich etwas zu kümmern hatte. Sie wurden in einer Kaserne untergebracht, erhielten umsonst Essen, Kino-, Theater-, Schwimmbadkarten und nahmen an einer Führung durch die Stadt teil. Ich wurde in einem sogenannten Offiziersheim untergebracht, recht gut, rein, mit Bad. Habe diese 3 Tage gut genützt. Bin sehr viel herumgelaufen, meistens mit zwei biederen Infanterieoffizieren, die ich im Hotel kennenlernte, und habe sehr viel gesehen. Gesamteindruck: interessant, aber etwas abstoßend, beeindruckt auch durch das Gefühl, ein unerwünschter Gast zu sein (zum Unterschied von Frankreich), dann durch die Schutt- und Trümmerhaufen in der Stadt und durch die wirklich einmalige Grausigkeit des Ghettos. Das Stadtbild ist nicht schön, da schöne alte Gebäude, die es viele gibt, wie Oper, Palais Brühl, Palais Potocky, das königliche Schloß etc. ganz mit Mietskasernen verbaut sind. Außerdem die enorme Zerstörung durch die Bombardements. Habe kein einziges Haus gesehen, das nicht irgendeine Spur des Krieges hat. Mitten im Großstadtbetrieb völlig ausgebrannte fünfstöckige, ganze Häuserblocks als Schutthaufen. Nach vorsichtigen Schätzungen liegen seit eineinhalb Jahren unter diesen Trümmern 50.000 Tote. In den Straßen auffallend arme und sehr elegante Menschen. Aber z. B. lange nicht so viele Bettler wie bei uns in der Systemzeit. Sehr hübsche, schicke und rassige Frauen, die absolut mit Paris konkurrieren können. Geschäfte nicht besonders, und alles sehr teuer. Dieser Umstand und die Begleitung der beiden biederen Infanteristen hat mir geholfen, mich um die Verlockungen der Großstadt nicht erhaschen zu lassen. Unsere Abende waren ziemlich bescheiden. Waren zweimal in guten Kabaretts und einmal bei einer ausgezeichneten Aufführung der »lustigen Witwe« im Warschauer Stadttheater.

    Mein ganzes Warschauer Sejour stand jedoch im Zeichen der Besichtigung des Ghettos. Habe niemals vorher derart Schreckliches gesehen. Das Warschauer Ghetto beträgt ein Viertel der Stadt, beherbergt 400.000 Juden und ist mit einer Mauer abgeschlossen. Schon bei meinen Wanderungen durch die Stadt bin ich immer wieder in Straßen gekommen, die plötzlich mit einer ca. fünf Meter hohen Mauer abgeschlossen waren, so daß man nicht hineinsehen konnte. Es war die Ghettomauer. An drei oder vier Stellen, unter strengster Bewachung sind Eingänge. Das Betreten des Ghettos ist mit Ausnahme der dort diensttuenden SS und anderer Organe verboten. Nur das Durchfahren des Ghettos ist erlaubt, man darf aber nirgends aussteigen. Es ist eine Stadt für sich, mit eigener jüdischer Verwaltung und jüdischer Polizei. In welchen Mengen das Ghetto Lebensmittel von der Außenwelt erhält, weiß ich nicht. Auch muß ich darauf verzichten, die interessantesten Details zu berichten. Ich habe mir mit drei Wachtmeistern meiner Schützlinge eine Pferdedroschke genommen und bin kreuz und quer durch das Ghetto gefahren. Schon auf der kleinen Fahrt hat man gesehen, daß ziemlicher Platzmangel sein muß, denn die Straßen waren so dicht gedrängt mit Juden, daß man kaum durchkonnte. Sehr unangenehm ist, daß die Juden uns hier in Polen grüßen müssen, und es ist immer eine Woge rechts und links neben dem Wagen durch die Menge gegangen. Alle tragen, wie überall hier, die weiße Armbinde mit dem Sionstern. Die Straßen sind erfüllt von einem lauten Geschrei, weil sie auf der Straße ihre Geschäfte machen. 80 % haben scheinbar nichts zu tun. Zum Glück können sie nur ihre Rassengenossen betrügen und sie scheinen das auch rücksichtslos zu tun, denn wir sahen hin und wieder sehr elegante Juden und Jüdinnen in Pelz usw. Aber das waren vielleicht 2 %. Der weitaus größte Teil ist in einem erbärmlichen Zustand. Zu dem Geschrei der Händler kommt das Geschrei der Bettler, die in der Überzahl sind. Hauptsächlich Kinder. Dazwischen Leichen, mit Zeitungspapier zugedeckt am Trottoir. Es soll hier Nachtlokale geben, eleganter als in der Außenstadt, in denen man vom Poulard bis zu französischem Champagner alles bekommt, natürlich zu horrenden Preisen. Waren froh, als wir nach ca. einer Dreiviertelstunde aus der nebenbei stinkenden Hölle heraus waren. Scheinbar ein Volk, das nicht in der Gemeinschaft leben kann. Aber außer dem Ekel müßte man als Antisemit kein Mitleid verspüren.

    Vor zwei Jahren und vier Monaten waren Karl und ich auf Entzug gegangen, denn Karl war neben mir zu einem seiner besten Kunden geworden. So lagen wir oft gemeinsam unter der hohen Decke des Festsaals, die Nadel noch in den Venen, der Gürtel um den Oberarm, das Besteck in Reichweite, kicherten, schwiegen, schliefen, durch den Saal donnerte Musik. Es gab keinen schöneren Rausch und es gab kein böseres Erwachen. Direkt in den Entzug, direkt in die eiskalte Gier und in eine brennende Stille. Der Festsaal, der gerade noch die ganze Welt gewesen war, war zu einer Zelle aus Schweiß und Angst geworden.

    Ich lag im Bett, gestern war der zweite Jahrestag unserer Entlassung aus der Entzugsklinik gewesen, das Gewitter war niemals hier gewesen, nur noch Licht, das in sanftem Grell

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