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Eliete. Das Normale Leben
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eBook314 Seiten4 Stunden

Eliete. Das Normale Leben

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Über dieses E-Book

Cascais in der Gegenwart ist nicht mehr das, was es einmal war: ein glamouröser Ort, wo die Reichen sich zum Spiel trafen und die Mächtigen große Politik machten. Eliete, eine gewöhnliche Portugiesin in ihren Vierzigern, hat ihr ganzes Leben dort verbracht, hat die Tragödie ihres Vaters erlebt, der mitten in der Nelkenrevolution einen tödlichen Autounfall erlitt, die Spannungen zwischen ihrer verwitweten Mutter und ihrer Großmutter, die den einzigen Sohn verlor, die Armut, die erst endete, als Portugal Teil der EWG wurde.

Wir erleben den inneren Monolog einer Frau, die ihre besten Jahre hinter sich hat. Einsam und unverstanden inmitten von Menschen, die sie liebt, für die sie sorgt, begibt sie sich auf die Suche nach Leidenschaft und landet doch nur bei online arrangiertem Geschlechtsverkehr. Doch da geschieht etwas: Die Großmutter lüftet in ihrer fortschreitenden Demenz ein Geheimnis, das Elietes Leben über das Unmittelbare hinaushebt: Der tote Vater war Sohn des Diktators Salazar.

Mit Eliete hat Cardoso nicht bloß einen Portugal-Roman geschrieben, sondern einen großen Gesellschaftsroman, der weit über die Grenzen ihres Landes hinaus Gewicht hat, ein Buch, das zwischen schockierender Ehrlichkeit und entwaffnender Selbstironie pendelt und doch immer eine drängende Frage verfolgt: Woher kommt diese große Verirrung, in der wir alle leben, die Einsamkeit, die Verunsicherung, der Verlust des Selbstverständlichen? Einzelschicksal und kollektive Geschichte verweben sich auf ebenso zwanglose wie brillante Weise in diesem komplexen Roman, dessen Sprache so leicht daherkommt, und der einmal mehr zeigt, dass Cardoso eine der großen portugiesischen Erzählerinnen der Gegenwart ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2023
ISBN9783966390712
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    Buchvorschau

    Eliete. Das Normale Leben - Dulce Maria Cardoso

    Ich bin ich und Salazar kann mich mal. Ein Diktator regiert Portugal fast ein halbes Jahrhundert lang, fast weitere fünfzig Jahre vergehen seit seinem Tod, und dann taucht er in meinem Leben auf. Plötzlich war es so, als wäre er schon immer hier gewesen und hätte sich um alles gekümmert. Das konnte ich nicht zulassen.

    Als das Krankenhaus wegen Großmutter anrief, war das mehr als fünf Monate vor der Sturmnacht, aber ich habe das Gefühl, dass Salazar in jenem Moment begann, sich in mein Leben einzuschleichen.

    Im Krankenhaus betonte Mama, Meine Schwiegermutter wusste immer, was sie wollte, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Dass Mama Großmutter nicht mochte, war allen klar. Unsere Heiligen begegnen sich nicht, erklärte sie, wenn sie gut gelaunt war, an anderen Tagen fluchte sie nur, Blitze sollen die Alte in Stücke reißen, weit weg soll sie sterben, als ob es mich interessiert. Aber im Krankenhaus schien Mamas Besorgnis aufrichtig zu sein, und es überraschte mich, wie schwer es ihr fiel, zu akzeptieren, dass Großmutter im Alter von 81 Jahren so schlimm gestürzt war, Das kann nicht sein, meine Schwiegermutter kann nicht gesund sein und im nächsten Moment so werden, sagte sie zum Arzt, als ob die Zurschaustellung ihrer Ungläubigkeit eine magische Tür zum Verständnis dessen öffnen könnte, was vor sich ging. Der Arzt ignorierte höflich Mamas Bemerkungen, wandte sich an mich und fragte, Ist Ihnen vor dieser Episode eine Veränderung im Verhalten Ihrer Großmutter aufgefallen? Episode war das Wort, das der Arzt benutzte, um so skurrile Tatsachen zu umreißen wie Großmutter, die im Nachthemd und in feinen Schuhen das Haus verlassen hatte, in dieser Aufmachung in Cascais herumgelaufen war, in einem Souvenirladen in der Rua Direita stürzte, sich die Stirn aufschlug und weinte, als Mama und ich im Krankenhaus ankamen. Wir fanden sie auf der Bahre liegend, ihre Kopfwunde war bereits mit weißer Gaze abgedeckt. Sie beharrte mit beängstigender Heftigkeit darauf, sie müsse in die Hauptstadt fahren. Was soll das alles, sie hat Lissabon immer gehasst, sagte Mama voller Sorge, Hat sie am Ende aus Versehen etwas getrunken? Das ist, glaube ich, nicht der Fall, antwortete der Arzt. Er war jung, monotone Stimme, teures Parfüm. Mama roch nach Kölnischwasser, das sie in der Drogerie nahe der Polizeistation in Halbliterflaschen kaufte. Mit jeder konnte sie die von Bien Être, die in ihrem Zimmer auf der Kommode stand, zweimal auffüllen. Überall auf der Welt würde ich diese Mischung aus synthetischem Rosmarin und künstlicher Zitrone wiedererkennen, die Mama verströmte, aus den rasierten Achseln, den Falten ihres Bauches, den drallen Oberschenkeln, überall auf der Welt würde ich den Geruch jener Abende wiedererkennen, wenn ich beim Fernsehen auf ihrem Schoß eingeschlafen war.

    Weiß Gott, was sie sich noch alles ausdenken wird, sorgte sich Mama, mit einer Formulierung, die nicht weniger ungewöhnlich war, denn im Gegensatz zu Großmutter wollte sie sonst nie etwas von Gott wissen. Welches Unglück musste uns treffen, klagte sie und wölbte die Augenbrauen, wie es die Heldinnen der Fotoromane tun, wenn sie in Angst und Sorge sind. Sofern es überhaupt etwas gab, auf das Mama stolz war, dann waren es ihre Fotoromane. Sie ließ sie in Rot und Gold binden, in Bänden zu je zehn Exemplaren, und stellte sie auf dem Bücherregal aus Kiefernholz aus, das sie bei Vassoureiro gekauft hatte, nachdem wir aus Großmutters Haus ausgezogen waren. Wie gerät ein Mensch in so einen Zustand?, fragte Mama mich, die genauso aufgeregt war wie sie. Der Zustand, den sie meinte, war die Verzweiflung, die Großmutter ergriffen hatte. Holt mich hier raus, holt mich hier raus, bringt mich in die Hauptstadt, schrie sie, während sie versuchte, sich auszuziehen und die Nadel herauszuziehen, die sie mit dem Infusionsbeutel verband.

    Bevor wir es verhindern konnten, riss Großmutter ihr Nachthemd auf und enthüllte schamlos ihre Blöße, ihre rosa Brustwarzen, die die bebenden Brüste krönten, ein perfektes Dreieck aus grauem Haar, das ihre Scham bedeckte, sehr weiße Haut, die die Faltenbildung ihrer Hände und ihres Halses mit der gleichen Sanftheit und Kunstfertigkeit fortsetzte, mit der die Zeit altes Geschirr bearbeitet, ein Körper, an dem alles proportioniert und auf sorglose Weise zart war. Ich hatte Großmutter noch nie nackt gesehen. Abgesehen von ihrem Gesicht und ihren Händen war ihr Körper ihr ganzes Leben lang in Schwarz gehüllt gewesen, schwarzer Rock, schwarzer Pullover, schwarze Strümpfe und Schuhe. Als ich klein war, stellte ich sie mir wie die Schaufensterpuppen in dem Brautladen vor, in dem Mama arbeitete, ein Plastikkörper, auf den zwei alte Hände und ein Kopf geschraubt worden waren. Irgendwann kam ich zu der Überzeugung, dass dies die Schlussfolgerung war, zu der Großmutter uns bringen wollte, so sehr bemühte sie sich, ihren Körper zu verbergen. Die Trauer, die Nüchternheit und die Strenge, in die sie sich stets gekleidet hatte, konnten ihre Schönheit nicht verdecken, aber erst jetzt, als ich sie nackt sah, wurde mir klar, dass es ihnen gelungen war, die verführerische Frau zu verbergen, die sie ohne Zweifel früher einmal gewesen sein musste. Für Großmutter war Nacktheit eine Versuchung des Teufels, wie fast alles im Leben, der Teufel war unermüdlich in seinen Tücken und Großmutter musste noch unermüdlicher in ihrer Wachsamkeit sein, und deshalb, Komm her, Eliete, rief meine Großmutter am Nachmittag einer Zeit, die für mich noch fast heil und unversehrt war. Ich ging durch die Küche, um mich im Garten mit dem Schlauch zu duschen, und trug den Badeanzug, den Mama mir auf dem Markt gekauft hatte, einen Badeanzug mit weißen Sternen auf blauem Grund, Komm her, Eliete, jetzt, da du schon eine kleine Frau bist, kannst du nicht in dieser Aufmachung herumlaufen. Großmutter saß auf einer dunklen Holzbank neben der Tür zur Veranda und drosch Saubohnen, ihre Hände noch in Sicherheit vor dem Alter, das sie zerbrechlich und zögerlich machen würde, Senhor Pereira auf der anderen Seite des Hauses wie immer in seinem Büro eingeschlossen, und Mutter bei der Arbeit, weit entfernt vom Zug und dem Bus, der sie am späten Nachmittag zurückbringen würde. In meiner Hand das orangefarbene Baumwollhandtuch, das ich auf der Zementplatte ausbreitete, meiner Steininsel, die fast in der Mitte des Gartens lag.

    Die Nachmittage der großen Ferien vergingen so langsam, dass sie aneinanderklebten und zu einem einzigen, unbesiegbaren Nachmittag wurden. In meiner kleinen Welt führten uns die Veränderungen immer unermüdlich zum Anfang von allem, die Blüten des Granatapfelbaums kündigten das Ende des Sommers an, das Winterlicht vergoldete die Kakis, die Orangen wuchsen für die Marmelade, die in der Speisekammer in Gläsern mit Etiketten aufbewahrt wurde, auf die Großmutter Bitterorange schrieb, Die Ameisen drängten sich auf ihren Straßen, die Vögel hockten auf den Zweigen der Bäume, morgens faulenzte die Sonne in Großmutters Zimmer und nachmittags machte sie ein Nickerchen bei mir und Mama, nachts wanderte der Mond, wo er wollte.

    Ich stand auf, spannte jeden Muskel meines schmächtigen Körpers an und hielt mir die Spitze des grünen Schlauchs an den Kopf, während ich darauf wartete, dass das kalte Wasser aus den Eingeweiden der Erde kam, meinen Körper in Aufruhr versetzte und mich aus dem Bann des endlosen Nachmittags befreite. Mein Körper gewann einen eigenen Willen und begann sich zu bewegen, Feime aime gona live forevare, hörte ich mich selbst singen in meinem Badeanzug mit weißen Sternen, meine Füße voller Erde, Feime aime gona live forevare, ich konnte kein bisschen Englisch, das Leben diente noch immer ausschließlich dazu, mir die Kindheit zu bieten, aus der ich mich nie lösen würde.

    Ich ließ das kalte Wasser über meinen Körper laufen, die Haut meiner Hände wurde runzelig und meine Lippen liefen blau an, nur noch ein bisschen mehr, nur noch ein bisschen mehr, das kalte Wasser aus den Tiefen der Erde lief über meinen Körper, bis mir die Luft ausging. Je länger ich durchhielt, desto größer wurde das Vergnügen, wenn ich anschließend auf dem Handtuch auf der Betonplatte lag, Nur noch ein bisschen länger, dachte ich, nur noch ein bisschen länger. Die Wärme der Platte versiegelte meinen Körper, Pore für Pore, und gab ihn mir gezähmt und wieder gehorsam zurück. Ich öffnete die Augen, beobachtete das Entstehen und Vergehen der Wolken und suchte nach Tieren, einem Delphin, der sich zu einem Tigerkopf zusammenrollte und sich dann zu einer Schlange ausstreckte, einem Himmel, der noch ohne die Unterstriche der Flugzeuge war, einer ungebändigten und zerstreuten Welt, Komm her, Eliete.

    Die blaue Emailleschüssel war fast voll mit kleinen grünen Nierchen, Großmutter, ohne den Blick zu heben, ihre Finger konzentrierten sich auf das Knacken der Schoten, die sich neben der Schüssel auf Zeitungsblättern häuften und die wir, nachdem wir sie zerkleinert hatten, in den Hühnerstall warfen, ein Drahtnetz mit sechseckigen Maschen und einem Dach aus Wellblech zwischen der Garage und der Mauer am hinteren Ende des Gartens, Ein anständiges Mädchen darf nicht so durchs Haus laufen, es darf den anderen nicht das zeigen, was dem zukünftigen Gatten gehört. Ich kannte keinen größeren Ehrgeiz bei Großmutter, als mein Fleisch und meine Seele zu zähmen. Du willst doch nicht sein wie die anderen, oder?

    Die anderen, die Flittchen, die, die auf Abwege geraten waren, verdammten sich selbst zur Hölle des Zähneknirschens samt himmelhoher Flammenberge, Schlampen, die ich bald insgeheim beneidete. In jener Zeit hielt ich mich nicht mehr mit den Einzelheiten von Großmutters Geschichten auf, ich fragte sie nicht mehr, wie Gott entscheidet, wen er zufriedenstellt, wenn ich ihn um Sonne und sie ihn um Regen bittet, denn ich kannte die Antwort bereits auswendig: Nicht du stellst diese Fragen, sondern die List des Teufels tut es für dich. Dann erklärte Großmutter, der Teufel lasse uns daran zweifeln, dass Gott uns zu gegebener Zeit alles offenbaren werde, was offenbart werden sollte, und der Beweis, dass Gott uns nie verlasse, seien die Wunder, die in der Messe erzählt würden, Isaak, der Sohn von Abraham und Sara, das Manna, als das auserwählte Volk die Wüste durchquert, Elia, der von Krähen gespeist wird, der Fall der Mauer von Jericho, zu gegebener Zeit werde Gott mir alles geben, was ich brauche. Die Spanne zwischen dem Moment, in dem ein Bedürfnis entstand, und dem Moment, in dem es gestillt wurde, diente Gott, der über mich wachte und alles vermochte, offenbar als Test für meinen Glauben.

    Aber an diesem Nachmittag stellten weder ich noch der Teufel Fragen. Wir wussten beide, dass mein Körper sich verändert hatte und dass es keine Rettung vor der Veränderung gab, in die er mich hineinzog. Die Veränderung hatte ganz leise mit den zwei kleinen Hügelchen aus Fleisch begonnen, die sich auf meiner schüchternen Brust erhoben, zwei Hügelchen aus Fleisch, die ich versuchte, auf der Matratze platt zu drücken, indem ich immer auf dem Bauch schlief, zwei kleine Hügelchen aus Fleisch, die in der Nähe meines Herzens schmerzten und über die sich die Jungs lustig machten, Nimm den Ball mit der Brust an, Eliete, aber mach kein Loch rein, die Jungen spielten mit ihren flachen Brüsten Fußball und träumten von Maradona, Platini, Rummenigge und anderen Namen, die ihre Gespräche beherrschten. Ich hätte das Gelächter der Jungen überwinden können, wäre nicht die Scham über die dunklen Haare zwischen den Beinen und in den Achselhöhlen gewesen, über die Schenkel, die meine Jeans wie Schweinehaxen rundeten, über den stinkenden Frauenschweiß, den ich mit dem Deodorant überdeckte, das Mama in der gleichen Drogerie gekauft hatte wie das falsche Bien Être, ein Spray, das ständig unter den Armen juckte.

    Komm her, Eliete. Ich wusste, dass an meinem Körper nichts mehr so war wie sonst, dass Blut aus mir herauskam, ein dunkles, zähflüssiges Blut, das mich zwang, jeden Monat eine Binde zu tragen. Vor allem war da die Angst, jemand könne bemerken, dass ich sie trug, dass die Jungs mit ihren Sprüchen anfangen würden, Benfica spielt zu Hause, Flieht, denn heute ist Tag der roten Flut, das zerzauste Lachen der Jungs durch Zähne, die noch nicht den richtigen Platz gefunden hatten, die Gesichter der Jungs mit den Schnittwunden der Rasierklingen, die in den Pickeln mehr Hindernisse fanden als in den Barthaaren. Zu der Scham, dass sie das mit den Binden herausfinden könnten, kam die Angst, das ekelhafte Blut, das aus mir floss, werde meine Kleidung beschmutzen, die neue und demütigende Gewohnheit, immer ins Bad gehen zu müssen, um die Binde zu wechseln, die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen, die ich ergreifen musste, die Packung mit den Binden durfte unter keinen Umständen im Badezimmerschrank liegenbleiben, damit Senhor Pereira nicht die unangenehme Erfahrung machen musste, sie zu finden, wenn er den Schrank öffnete, um sich mit lautem Klatschen Old Spice ins Gesicht zu schmieren. Männer wollten solche Dinge nicht sehen, erklärten Mama und Großmutter. Die Menstruation war eines der wenigen Themen, bei denen beide dieselbe Meinung teilten, Männer wollten keine Packungen voller Binden sehen oder von Bauchschmerzen und der Lust auf Schokolade hören, die Menstruation war ein Frauenthema wie Sticken, Kochen und Hausarbeit, ein Thema, über das man leise sprach und das eine Reihe von Verboten mit sich brachte. Während dieser speziellen Tage durfte man sich nicht den Kopf waschen, nicht barfuß herumlaufen, keine Friedhöfe betreten, keine körperlichen Anstrengungen unternehmen, nicht an den Strand gehen, denn der Mund des Körpers war offen und das Blut konnte in den Kopf steigen oder nie mehr aufhören zu fließen. Obwohl Mama und Großmutter sich, was diese Angelegenheit betraf, in den meisten Punkten einig waren, gab es doch Meinungsverschiedenheiten bei einigen Details: Laut Mama durfte ich mir den Kopf waschen, solange es nicht zu lange dauerte, ich durfte Gymnastik machen, solange ich den Kopf nicht nach unten nahm, und ich durfte an den Strand gehen, solange ich mich nicht in die Sonne legte. Zu den Anordnungen und Gegenanordnungen von Mama und Großmutter kamen chaotische Informationen von Freundinnen und Schulkameradinnen, von Milena, die Tampons benutzte, ohne sich um den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu kümmern, von Clara, die ein Mittel kannte, das das Anschwellen des Bauchs verhinderte, von Paulinha, die die Blutung mit kalten Wasserbädern stoppte, und so schlossen wir uns alle im Stolz auf unser gemeinsames Schicksal als zukünftige gebärfähige Weibchen zusammen. Wir bluteten stolz jeden Monat, auch wenn uns die Schmerzen im Bauch, die Pickel im Gesicht und die Binden störten, denn solange wir bluteten, konnten wir das Schicksal, der Welt Kinder zu schenken, erfüllen. Das Schlimmste, was einer Frau passieren konnte, war, in dieser Hinsicht nutzlos zu sein, man musste nur an Dona Rosalinda denken, die zwei Häuser unterhalb von Großmutter wohnte und gezwungen war, zwischen Beleidigungen und Schlägen die beiden kleinen dunklen Bastarde ihres Mannes aufzuziehen. Die Arme konnte ihm keine Kinder schenken, erklärte Großmutter, man weiß ja, dass sie sie sich in solchen Fällen anderswo besorgen. Da dies allseits bekannt war, dankte Dona Rosalinda Gott dafür, dass sie dem Schicksal der nutzlosen Frauen entkommen war, das bekanntlich darin bestand, verlassen zu werden.

    Im Supermarkt. Senhor Pascoal löste seine Frau an der Kasse ab, und Mama verweilte in den sechs Gängen, als würde sie ein Museum besuchen. Männer fangen an, sich zu wundern, wenn sie bestimmte Dinge sehen, sagte mir Mama einmal und machte eine vielsagende Miene, während wir uns am Waschmittelregal die Zeit vertrieben, das Päckchen mit den Binden unter den restlichen Einkäufen im Korb versteckt. Wenn keine Dringlichkeit bestand und die Frau von Senhor Pascoal zu spät zur Kasse zurückkam, gab Mama den Kauf der Binden auf. Sie werden das nächste Mal gekauft, sagte sie, als hätte eine unsichtbare Macht sie davon abgehalten. Wenn es dringend war, seufzte Mama, als würde sie ihre Brust in einen Kugelhagel halten, legte die Binden auf das kleine Deckchen neben der Registrierkasse, während sie sich diskret umschaute, und wagte es nicht, Senhor Pascoal in die Augen zu sehen, während dieser sich dachte, was Männer sich denken, sobald sie bestimmte Dinge sehen.

    Komm her, Eliete. Nach diesem Nachmittag gab es nie wieder Schlauchduschen im Garten, und der Badeanzug wurde nur noch am Strand getragen, wo der geringe Anstand aus gesundheitlichen Gründen erlaubt war, denn das Meer war gut für mich, vor allem für die Allergien, die meine Atmung angriffen, und die Pickel, die meine durchschnittlichen Gesichtszüge verunstalteten. Mein Lieblingsstrand war Tamariz, aber wir gingen zu dem von Rainha, den Mama mochte. Wir kamen immer recht früh an, wenn der Morgen noch kalt war und die Sonne verborgen, um einen Platz am Fuß eines Felsens in der Mitte des Strandes zu ergattern, der vorausschauende Badegäste wie uns anlockte. Dort blieben wir angezogen, bis die Sonne hervorkam. Tag für Tag unterhielt sich Mama mit den anderen Familien über den mehr oder weniger starken Wellengang, den Wasserstand, die fast immer korrekte Vorhersage der Gezeiten, die fast immer falsche Vorhersage der Temperatur, den Nebel, der sie daran hinderte, die Klippen zu sehen, wo sich auf den Felsen, die den Strand umschlossen, Rückseiten von Geschäften, Restaurants und Häusern erhoben, die dem Strand Klimaanlagen und Markisen aus Aluminium bescherten. Sie wählte auch immer denselben Ort, um den mitgebrachten Imbiss in einem Körbchen aufzubewahren, Sandwiches mit Rührei, eingewickelt in dicke Stoffservietten, frische Orangenlimonade, die wir an der Bahnhofsbar kauften, Hier, in der Kühle des Felsens, pflegte Mama zu sagen, mit einem Rufen, das stets den Ton der Neuheit hatte, und ich verstand nicht, warum es so einfach war, das Verhalten von Mama und den Gezeiten vorherzusagen, und so schwierig, dasselbe mit der Temperatur oder der Wolkenbildung zu tun. Wenn die Sonne herauskam, war es an der Zeit, dass Mama uns die Schultern, den Nasenrücken und die Wangen mit Nivea-Creme einschmierte, die blaue Dose wurde wegen des Sandes immer auf dem Handtuch geöffnet. Nach Mamas Aussehen zu urteilen, muss auch ich wie ein hässlicher Indianer von irgendeinem Stamm ausgesehen haben. Sobald sie eingecremt war, legte sie sich auf den Rücken und schlief mit offenem Mund, als ob sie zu Hause wäre. Wenn sie sich im Meer nass machte, sah es aus, als säße sie in der Badewanne, sie hockte sich ans Wasser, formte die Hände zu seiner Muschel und schöpfte den Schaum der Wellenausläufer ab, um ihre von der Sonne gerötete Haut zu erfrischen. Es geschah nicht selten, dass Mama mich bei dieser Art des Badens um Hilfe bat, aber ich stahl mich davon, wann immer ich konnte, denn ich schämte mich noch mehr für Mama als dafür, dass ich das Kraulen nicht beherrschte.

    Jahrelang träumte ich davon, die perfekten Bewegungen der Schwimmerinnen zu können, die sich mit der Natürlichkeit eines Menschen, der auf dem Trockenen geht, waagerecht durchs Meer fortbewegten, aber im Gegensatz zum Gehen, Laufen und Springen hatte der Lauf der Zeit nicht genügt, um meinem Körper beizubringen, wie man richtig schwimmt, und ich war verzweifelt, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit meine Atmung, meine Züge, die Drehung meines Halses und alle meine Gesten so koordiniert wären wie die der Mädchen, die mit den Jungen zu den weit entfernten Booten schwammen. Ich konnte Brustschwimmen und das schlecht. Eines Tages schaffte ich es bis zum Ende der orangefarbenen Kette von Schwimmbojen, die sich viele Meter hinter den Booten befand, aber ich war nie fähig, das Kunststück zu wiederholen, ich wurde müde, schluckte Wasser, bekam Krämpfe, ich stelle mir vor, dass ich einem Ungetüm glich, einer Schildkröte mit gerecktem Hals, Froschbeinen und Armen, die mühsam in traurigen Halbkreisen rotierten. Vor dem Einschlafen, in jener kurzen Zeit zwischen Wachen und Schlafen, in der ich nicht mehr so ganz ich selbst war, sah ich mich, wie ich mit einem Rückwärts- oder Kopfsprung ins Wasser tauchte und genau so schnell wie die James-Bond-Heldinnen zu den Booten kraulte, die Urlauber gaben mir stehende Ovationen und ich kam aus dem Wasser, als liefe ich auf einem Laufsteg, ohne meine Figur zu verkrümmen, um mir das Wasser aus den Ohren zu schütteln oder meine Augen mit der Hand zu beschirmen, um mein Badetuch zu suchen. Einen Augenblick lang war ich die beste und eleganteste Kraulschwimmerin. Wenn ich sehr müde ins Bett ging, grübelte ich über kleine Träume nach und wünschte mir nur, dass meine Haut einen gleichmäßigen goldbraunen Ton annehmen würde, dass ich die Angst verlieren würde, mich beim Beach-Ball auf den Boden zu werfen, dass meine Taille um zehn Zentimeter schmäler und meine Beine um weitere zehn Zentimeter länger würden, denn eigentlich war alles in Ordnung mit mir, es gab nur ein Problem der Umverteilung von Zentimetern. Es war auch nichts gegen Strandtage einzuwenden, wenn ich nur meine Rolle in diesem Theater fände, einem riesigen Theater, in dem jeder wusste, welcher Part ihm zugedacht war, der Bademeister, der Tabak kaute, das Mädchen, das sich Zeit ließ, ins Wasser zu gehen, und das andere, das flüsterte und kicherte, der Verleiher der Tretboote, der den hübschen Mädchen Rabatte gab, die Mutter mit den lächerlichen Bewegungen, die Verliebten, die Beine und Hände aneinanderrieben, die Familie, die Karten spielte, und die andere, die Schnitzel und Melonenstücke aß, der Junge, der Ball spielte, und der andere, der die Mädchen nass spritzte, der Verkäufer von süßem Brot, diejenigen, die am Wasser spazieren gingen, diejenigen, die Sport trieben, diejenigen, die sich bräunten, diejenigen, die lasen, alle spielten ihre Rollen überzeugend. Nur ich nicht.

    Jetzt, wo du eine kleine Frau bist, kann alles passieren, und du musst nicht weit gehen, um das zu wissen. Die ersten Male, als Großmutter diese Warnung aussprach, konnte ich nicht wissen, was sie meinte. Es war das Beharren auf Du brauchst nicht weit zu gehen und die Betonung, die sie dem hinzufügte, wenn Mama dabei war, was mich in Mamas Vergangenheit führte. Ich wollte nicht wie Mama sein, ich wollte nicht, dass, was immer ihr zugestoßen war, auch mir passierte, aber es war bereits zu spät, um zu verhindern, dass Großmutters Worte bei mir den gegenteiligen Effekt auslösten, jetzt kann alles passieren war bereits zur Ankündigung einer abenteuerlichen Zukunft geworden, die ich mit aller Kraft ergreifen würde. Jetzt kann alles passieren – das hallte mit einem seltsamen Echo in meinem Innern wider, als ob ich zu einem Jungen werden könnte, den Jungen konnte alles passieren, sie mussten sich nicht fürchten und nicht schämen, Angst und Scham lagen immer bei den Mädchen, auch wenn es die Jungen waren, die versuchten, sie zu begrapschen oder zu umzingeln, um Zungenküsse zu rauben, es war immer die Schuld der Mädchen, dass sie es nicht geschafft hatten, den Übergriffen zu entgehen, es war immer die Schuld der Mädchen, dass sie zur Hand waren, es war immer die Schuld der Mädchen, seit dem Apfel, den Eva Adam gegeben hatte und Punkt. Alles konnte mir passieren, aber in allem, was mir passieren konnte, würde ich mich dafür entscheiden, anders zu sein als Mama, als Mama und Großmutter. Ich würde die Entscheidung treffen können, diejenige zu sein, die ich sein wollte.

    Tun Sie etwas, Senhor Doutor, bitte tun Sie etwas, flehte Mama, es schien, dass Großmutters Not und Nacktheit sie mehr aufwühlten als mich. Während ich versuchte, Großmutter zu beruhigen, zerrte der Mann, der neben ihr auf der Bahre lag, ein ziemlich schäbig aussehender Mann, der mit einem Motorrad verunglückt war, erneut am Mantel des Arztes, um ihn nach dem Ergebnis des Spiels zu fragen. Ich interessiere mich nicht für Fußball, antwortete der Arzt, seine Stimme gut dosiert, ein selbstsicherer Mann. Als ich meinen Blick wieder über seinen Körper schweifen ließ, war ich mir sicher, dass ich an seinem linken Ringfinger einen stolzen Ehering finden würde. Was für ein Glück seine Frau hat, dachte ich, dass sie nicht zusehen muss, wie ihr Mann literweise Bier trinkt, während er sich die Spiele ansieht, dass sie nicht seine lächerlichen Verwünschungen gegen das hören muss, was er für einen schlechten Spielzug hält, dass sie nicht sein kehliges Lachen hören muss, wenn er liest, was seine Freunde auf Facebook schreiben, wenn sie über die gegnerischen Vereine lästern, dass sie nicht Zeuge der absurden Wut ihres Mannes auf die Schiedsrichter sein muss, was für ein Glück sie hat, dass sie nicht mit Jorge verheiratet ist und dass sie nicht ich ist.

    Es gab keine Fenster in der Notaufnahme oder auf dem Flur, wo die Bahren entlang der Wände aufgereiht waren, und das Licht, das auf uns fiel, besonders auf Großmutter, störte mich, weil es ungewöhnlich weiß war und mir ein noch schlechteres Gewissen machte, denn ich wusste nicht, wie ich die Frage des Arztes beantworten sollte, Haben Sie vor dieser Episode eine Veränderung in ihrem Verhalten festgestellt? Ich fand keinen Weg, ihm zu sagen, dass ich kaum noch etwas über das tägliche Leben von Großmutter wusste, ich würde wie ein Ungeheuer von Enkelin klingen, das sie im Stich gelassen hatte, obwohl das gar nicht geschehen war, auch wenn ich nicht wusste, was eigentlich geschehen war. Ich wollte weglaufen und konnte nicht. Das Licht, das auf uns fiel, vor allem das Licht, das auf den Arzt fiel, hob seinen Körper hervor und betonte die Muskeln, die sich unter seinem Kittel abzeichneten, es war ein junger Arzt, der keinen Fußball mochte, und Mama wollte den Mund nicht halten, Tun Sie etwas, Doutor, bitte tun Sie etwas. Plötzlich sah ich mich nackt, über eine der Bahren auf dem Flur gebeugt, und der Arzt stand hinter mir, schlug mir auf den Hintern und wiederholte fragend, während er mich fickte, Verhaltensänderung, haben Sie eine Verhaltensänderung bemerkt, während ich die Angemessenheit des Wortes Episode in diesem Zusammenhang analysierte. Bitte, Senhor Doutor, Mamas schrille Stimme war auch dann noch zu hören, als ich den Doktor in die Venus-Suite des Motels am IC19 schleppte, wo ich manchmal im Hin und Her meiner Marktforschungen mit dem Auto vorbeifuhr, ich war eine kompetente Immobilienmaklerin, proaktiv bei

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