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Zwei mit Eins
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eBook305 Seiten4 Stunden

Zwei mit Eins

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Über dieses E-Book

Es sind diese Bilder die entstehen und berühren, wenn man über die Kindheit der 13-jahrigen, blond gelockten Anja liest, welche sich entschließt, ihrem völlig zerrütteten Elternhaus den Rücken zu kehren, um den traurigen Vorzeichen ihres Lebens zu trotzen.
Bewegend auch die Tatsache, dass sie als junge Frau den falschen Mann für ihr Vorhaben,- eine glückliche Familie haben zu wollen,- wählt, um Mutter einer Tochter zu werden.
Überzeugt und entschlossen, ihrer Jenny ein schönes zu Hause zu schaffen, stellt sie sich dem steinigen Weg des Alleinerziehend seins und man wird sich dabei ertappen, dieses Buch nicht weglegen zu können, wenn Anja darum kämpft.

Authentisch, aufallend ehrlich und spannend erzählt, erlaubt Anja dem Leser tiefe Einblicke in ihre Gedanken und Gefühlswelt, die durchaus motivieren, es ihr gleich zu tun.

Es war mir ein Anliegen, dieses Buch zu schreiben. Aufzuzeigen, dass es doch absolute Sinn macht, an sich und an Besseres zu glauben. In schier ausweglosen Situationen den Mut zu haben hinzusehen, um nach Lösungen zu suchen, aber auch um zu bestätigen, wie stark wir in Wahrheit doch sind!
Möge mein Buch all diejenigen erreichen, die es gerade brauchen!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Feb. 2017
ISBN9783742796882
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    Buchvorschau

    Zwei mit Eins - Anja Kannja

    Vorwort

    Kennen Sie das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden? Wenn die Sprösslinge aus dem Haus sind? Und Sie sitzen da und suhlen sich in Selbstmitleid – weil Sie jetzt ganz allein sind, weil Sie nichts zu tun haben, weil Sie sich sicher sind, dass dies die Vorstufe zum Altsein ist. Was soll man mit sich selbst anfangen? Alles, wofür man sich abgerackert hat, was dem Leben Sinn gegeben hat, ist mit einem Schlag weg. Also, was nun mit meinen vierundvierzig Jahren? Dieses Gefühl hatte ich vor etlichen Monaten, und es kam ohne Vorwarnung. Einfach so, als mir nämlich klar wurde, dass meine Tochter nun wirklich bald ausziehen würde, was sie wohl schon öfter gesagt, gottlob aber nie wirklich gemacht hatte. Es war dieser Satz, den sie allabendlich Beim-aus-dem-Haus-Gehen in einem leicht genervten Tonfall zu mir sagte, wenn ich sie liebevoll anlächelte. Dieses „Ja, Mama, ich bin warm angezogen, und nein, Mama, ich hab keinen Hunger", das es mir unmissverständlich vor Augen führte. Lass das Gluckenhafte, du gehst ihr auf die Nerven!

    Plötzlich sah ich dann auch diese Falten in meinem Gesicht, stellte mich vor den Spiegel, mit diesem kritischen Blick. Oh mein Gott, dachte ich im ersten Moment, da geht wohl nicht mehr viel! In Joe Cockers Sex Bomb kann ich eindeutig nur mehr eine Statistenrolle übernehmen! Warum das alles? Hatte ich doch noch nie MarilynMonroe-Maße von 90/60/90 gehabt. Was sollte das bringen, einen Heulkrampf oder was? Und da das Leben bekanntlich kein Erbarmen kennt, stellte ich, als ich mir meine Fingernägel manikürte, auch noch fest, dass ich den Rand meines Nagels unscharf sah. Wochenlang veranstaltete ich geheime Sehtests. Die alle das Gleiche ergaben. Ich brauchte eine Brille!

    Natürlich ist das alles nur der Beginn. Diese Erfahrung macht angeblich jeder. Das habe ich einmal gelesen. Gehört zu den sogenannten Entwicklungsphasen eines Menschen. Oder nennt sich das Krise? Hat man ja jetzt zum ersten Mal Zeit, um überhaupt auf so einen Blödsinn zu kommen, um über vieles nachzudenken, um alles infrage zu stellen. Und es wollte so sein, dass ich im Radio ein Interview mit einem sehr prominenten Menschen hörte, der gefragt wurde, was denn seine letzten Worte sein sollten. Seine Antwort lautete: „Schön war’s!" Was in mir sofort dieselbe Frage aufwarf. Natürlich kam ich zu dem Fazit: Ja, es war schön, bis jetzt! Und jetzt folgt ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Es gilt, neue Prioritäten zu setzen, bin ich ja nun keine Mami mehr, die täglich gebraucht wird.

    Welch wunderbare Fügung, dass sich zu diesem Gedanken noch ein zweiter gesellte, der da lautete: „Mädel, du hast jetzt Zeit! Zeit, um all das zu tun, was du schon immer mal machen wolltest! Welch ein Glück!" Und ich überlegte, was ich denn, da mir nun sozusagen alle Türen offen standen, mich in jeder nur erdenklichen Form selbstverwirklichen zu können, mit dieser gewonnenen Erkenntnis anfangen sollte?

    Als Erstes musste ich dieses „In-den-Spiegel-Schauen" weglassen, denn das hatte ich ja noch nie gemacht! Dann fiel mir mein lang gehegter Herzenswunsch ein, den ich nie verwirklichen konnte, weil er enorm zeitintensiv ist. Immer schon wollte ich alles, was ich so erlebt habe, niederschreiben! Ich packte also die Gelegenheit beim Schopf, öffnete eine Datei auf meinem Computer, auf der schon seit fünfzehn Jahren meine Tagebucheintragungen abgespeichert sind, um sie gleich wieder zu schließen. Denn was da stand, das wollte ich eigentlich nicht lesen. Waren es doch Eintragungen aus einer Zeit, in der es mir nicht so gut ging wie heute. Aber es ließ mir keine Ruhe mehr. Und so setzte ich mich hin und begann zu schreiben.

    Jetzt, wo mein Text fertig vor mir liegt, bin ich froh darüber! Wirklich froh, meinen Herzenswunsch erfüllt zu wissen. Dieses Buch soll nicht dazu dienen, die Welt zu retten. Aber es ist eine Geschichte, die ich erzählen möchte, weil ich glaube, dass sie auch für andere interessant und hilfreich sein kann! Auf jeden Fall aber verlangt dieser Abschnitt meines Lebens nach Aufmerksamkeit. Denn ich hab mir mal fest vorgenommen, die Welt all mein Erlebtes wissen zu lassen, ganz einfach um anderen damit zu helfen. Und was ich mir einmal vornehme, das mache ich auch! Ob es wirklich interessant ist, das können nur andere Menschen beurteilen, aber ich für mich weiß, dass es wohl an der Zeit ist, mir einen Verlag zu suchen.

    Es war eine unglaublich spannende Sache für mich und auf jeden Fall wertvoll für meine Tochter, denn die hat nun schon mehrere Monate Ruhe vor mir! Was ja so gesehen auch Sinn und Zweck der ganzen Übung war! Im Übrigen ist mir so nebenbei, zum Trost für alle anderen in meiner Altersgruppe, auch noch bewusst geworden, dass man mit vierundvierzig noch kein Tattergreis ist, der alles hinter sich hat. Gibt es doch jede Menge zu erledigen! Zum Beispiel mal die Pubertät verdauen und sich Gutes tun!

    Ich hab also mit der Arbeit an diesem Buch zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen! Zum einen geht’s mir jetzt blendend, und zum anderen habe ich erkannt, dass ich auf dem letzten Foto, das meine Tochter und ich gemacht haben, gar nicht so schlecht aussehe für mein Alter. Na ja, ich würde mal sagen: „Genial, finden Sie nicht?"

    Und nur für den Fall, dass dieses Buch tatsächlich seinen Weg geht, was ich mir jetzt und hier wünsche, will ich nicht verabsäumen, mich dafür zu bedanken, dass Sie es gekauft haben und auch tatsächlich lesen wollen. Möge es Ihnen gefallen! Ich zitiere meinen Bruder: „Dann habe ich gewonnen!"

    P. S.: Hab jetzt auch eine wunderschöne rote Brille!

    Auftakt ins Ungewisse

    Meine Geschichte beginnt, wie so viele Geschichten beginnen: mit den Worten Liebe und Glaube. Es ist eine Geschichte, die sich leider viel zu oft wiederholt auf dieser Welt. Eine Geschichte, die das Ende eines viele Jahre andauernden Leids erzählt. Ihre Hauptdarsteller sind ein Mann Mitte dreißig, dunkles Haar, kleines Bäuchlein, überdurchschnittlich intelligent, ausgesprochen attraktiv, charmant und humorvoll, und eine hübsche junge Frau, gescheit, charismatisch, voll Energie, Charme und Zuversicht. An der Hand hält sie einen kleinen Jungen, fünf Jahre alt. Bildhübsch, aufgeweckt und spitzbübisch. In der Tragetasche ein Baby, sechs Wochen alt, blondes, schütteres Haar, einfach süß!

    Voller Erwartungen gehen die beiden am 16. Juli 1969 eine Landstraße entlang, die sie zu dem Vater des jungen Mannes führen wird. Sie lieben sich, diese zwei Menschen, haben einander ewige Treue geschworen. Wollen immer füreinander da sein und jedes Hindernis überwinden. Sie haben eine weite Reise hinter sich, haben eine Grenze überschritten, in ein vielversprechendes Land. Für das es sich lohnt, alles zurückzulassen, was sie haben, um ein neues, gutes Leben zu beginnen. Sie gehen dahin, voller Zuversicht und Hoffnung, nicht ahnend, dass er sich nicht erfüllen wird, ihr Traum vom großen Glück! Sie werden scheitern – an den schwierigen Umständen, die ein fremdes Land mit sich bringt, an den Eltern, die sie nicht richtig unterstützen werden, an der Härte des Lebens, das ihnen in Wahrheit keinen Fehler verzeiht, sondern ihnen jeden einzelnen gnadenlos vor Augen führt. Mit den besten Absichten gehen sie in ein Leben, das es nicht wert ist, auch nur einen Meter dafür zu gehen. Aber das wissen sie nicht, und so sehen sie lachend in eine Zukunft, die geprägt sein wird von Betrug, Verrat, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Armut und zu guter Letzt vom Zerfall einer Familie, die aus ganz besonderen Persönlichkeiten besteht. Menschen mit Charisma, Intelligenz und Mut! Ehrliche Menschen mit dem Herz am richtigen Fleck, die es sich verdient hätten, glücklich zu sein, aber an ihren eigenen Unzulänglichkeiten scheitern werden, weil sie sich nicht die Zeit nehmen werden, über ihre Ängste, Schwächen, Bedenken, Nöte und Wünsche zu reden!

    Irgendwann im Mai 1982

    Liebes Tagebuch!

    Ich sitze auf einer Schaukel in einem verwahrlosten Hof. Mein Blick ist auf den Sportplatz gerichtet, und ich höre die Schreie und das Lachen der vielen Kinder und Jugendlichen, die dort Fußball spielen. Eigentlich sollte ich mitmachen, Spaß haben, laufen, doch es ist mir so gar nicht danach. Diese Kinder, sie sind nicht meine Welt. Überhaupt ist nichts in meinem Leben so, wie ich es gerne hätte. Ich werde bald dreizehn, bin viel zu dick, habe keine Freunde, und mein Bruder, den ich über alles liebe, wohnt bei seiner Freundin. Er ist ausgezogen, vielmehr nicht mitgezogen mit meiner Mutter, meinem Vater und mir in diesen Albtraum von einer Baracke, in der wir jetzt leben. Eine Einzimmerwohnung in einem völlig verfallenen ebenerdigen Haus aus der Nachkriegszeit. Kein Fließwasser, nur ein Brunnen im Hof, ein Klo am Gang, das wir uns mit Menschen, die ich nicht kenne und vor denen es mir graut, teilen! Ein Plumpsklo, vor dem mir ekelt, wenn ich nur daran denke, es benützen zu müssen. Und dann ist da diese Waschküche. Eine alte, verfallene Scheune, in der sich ein Kessel und eine Badewanne befinden. Das ist mein Bad, und ich benütze es gemeinsam mit all den anderen, die mir so zuwider sind, dass ich es keinem Menschen sagen kann. Dabei bade ich so gern! Wenn ich mir vorstelle, dass die Frau, die uns gegenüberwohnt, in der gleichen Wanne sitzt wie ich, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie ist so fett, dass sie bei jedem Schritt keucht. Schütteres, langes, schwarzes Haar, das ihr schlampig ins Gesicht hängt. Ihre Fingernägel schwarz vor Dreck, und sie riecht nach Alkohol und Schweiß. Sie trägt immer ein Strandkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, schwarze Gummischlapfen, die Fersen völlig verhornt, mit dicken Rissen. Ich gehe ihr aus dem Weg.

    Eigentlich bin ich einmal ein freundliches Mädchen gewesen, habe immer gegrüßt und jeden angelacht. Doch ich kann nicht mehr grüßen und lachen schon gar nicht. Ich empfinde nur Angst, wenn ich in die zahnlosen Gesichter blicke, die den ganzen Tag im Hof sitzen, bei einem Doppler Wein, sich lallend anschreien und den Tag verstreichen lassen, ohne auch nur die geringste Aufgabe zu haben. Sie arbeiten nicht, diese Menschen. Wo doch jeder arbeiten geht! Unsere Baracke ist umringt von wunderschönen Wohnanlagen, alle mit Balkonen, mit Blumen, die in bunten Farben zu mir her lachen. Wie gern würde ich in der einen Wohnung dort im zweiten Stock wohnen! Bestimmt ist sie wunderschön, mit einem hellen Wohnzimmer und einem schönen Bad. Wenn ich dort wohnen könnte, das wäre schön! Nicht so wie in diesem Ghetto, in dem ich jetzt lebe. Es ist wie ein böser Albtraum, ich schäme mich dafür. Wenn ich in die Schule gehe, mache ich immer schnell, um bis zur Hauptstraße zu kommen, denn dort weiß niemand mehr, wo ich herkomme. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft grüßt mich keiner mehr, denn ich bin das Kind aus der Baracke. Da vorne aber danken mir die Leute, wenn ich sie grüße. Weil sie es nicht wissen …

    Ich vermisse meine beste Freundin Doris, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Ihre Eltern fanden den Umgang mit mir nicht mehr so gut und meinten, wir sollten uns mal eine Zeitlang nicht treffen. Ich kann es gut verstehen, weil nicht mal ich das alles hier gut finde. Und ich wünschte, ich könnte davonlaufen, weit weg von diesem Leben, das nur Armut, Verachtung und Alkohol kennt!

    Gestern Nachmittag hat mir ein Bursche aus der Nachbarsiedlung Drogen angeboten. Natürlich hab ich sie nicht genommen, weil man so etwas nicht nimmt. Aber wie kommt der überhaupt auf die Idee? Ich bin kein Mädchen, das Drogen nimmt! Was soll ich hier eigentlich?

    Ich habe ein Problem: Mein Vater besäuft sich täglich – von morgens bis abends. Und meine Mutter beschimpft ihn den ganzen Tag lang. Warum sie das tut, weiß eigentlich niemand, denn er kriegt doch eh nichts mehr mit.

    Er war einmal ein sehr kluger Mensch, der in der Entwicklung von Maschinen tätig war. Ein lieber Vater, den ich sehr gern hatte, aber Mama und er stritten ununterbrochen miteinander, und irgendwann war ihm sein Wein dann lieber als wir. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wann wir das letzte Mal miteinander gesungen haben. Mein Vater spielte immer mit meinem Bruder Gitarre, und Mama und ich sangen dazu. Damals, als alles noch so halbwegs in Ordnung war. Zumindest hatten wir ein schönes Zuhause und genug zu essen.

    Ich hatte auch viele Freunde und einen Hund namens Gigi. Einen schwarz-weißen wunderschönen Spaniel. Ich bekam Gigi zum Geburtstag geschenkt. Wir fuhren zu diesem Bauernhof, wo sie mit ihren Geschwistern im Innenhof herumtollte. Als ich sie sah, war für mich alles klar: Das ist mein Hund!

    Wir waren echte Freunde, Gigi und ich. Ich war viel mit ihr unterwegs und lehrte sie lustige Dinge. Sie war mein Ein und Alles.Mein Vater hat sie für eine Flasche Wein verkauft, als wir delogiert wurden. Seit diesem Tag hasse ich meine Eltern. Ich hasse sie dafür, dass sie nichts auf die Reihe bringen. Ich hasse sie, weil mein Bruder nicht mehr bei mir ist, und ich hasse sie, weil wir so leben, wie wir leben, und weil mich kein Mensch grüßt und ich zum Abschaum dieser Stadt gehöre, obwohl ich nichts getan habe!

    Auf der anderen Seite: Ich mag meine Eltern, ja, das tue ich, und ich helfe ihnen auch, so gut ich halt kann. Ich mache sauber, gehe einkaufen, mache die Aufgabe, bin artig, aber sie sehen das gar nicht. Sie sind so mit sich selbst beschäftigt, denen würde es gar nicht auffallen, wenn es mich nicht gäbe.

    Oma hat mir das letzte Mal, als sie uns besucht hat, gesagt, dass ich jederzeit anrufen könne, wenn ich was brauche. Sie habe mit Opa gesprochen und ich könne bei ihnen wohnen. Ich bräuchte es nur zu sagen, dann würden sie mich zu sich holen. Ich bekäme das Zimmer der Urgroßeltern und dürfte mir die Möbel aussuchen. Ein eigenes Zimmer mit Balkon! Denn mit zwölf dürfe man entscheiden, wo man wohnen möchte. So heißt es im Gesetz. Sie sei beim Jugendamt gewesen und habe sich erkundigt. Und ich werde doch bald dreizehn. Und eins weiß ich genau: Hier möchte ich nicht bleiben! Ich habe immer einen Schilling für die Telefonzelle eingesteckt. Wenn Papa wieder durchdreht, dann ruf ich an. Er sieht weiße Mäuse. Vorgestern hat er mit dem Radiowecker nach mir geworfen, weil er dachte, auf mir sitzt eine. Ich hatte solche Angst!

    Heute am Abend kommt mein Bruder wieder. Er kommt mich ab und zu besuchen, um zu schauen, wie es mir geht. Das letzte Mal hat er gesagt, dass er mich vielleicht zu sich holt. Aber ich kann meine Eltern nicht allein lassen. Die brauchen mich ja! Trotzdem: Ich mag nicht mehr hier sein, und ich freu mich schon auf ihn. Er ist mein Beschützer, mein großer Bruder eben. Vielleicht bringt er mir wieder Schokolade mit, so wie das letzte Mal. Er hat ganz leise ans Fenster geklopft, und ich bin zu ihm hinausgeschlichen. Ich hab mich so gefreut, dass er da war. Er hat nicht auf mich vergessen! Warum muss alles so sein?

    Warum können wir nicht leben wie die „Waltons"? Die schaffen immer alles. So werde ich einmal leben! Eine kleine Farm, fünf Kinder, einen lieben Mann, mit dem ich mich gut verstehe, und alle sind glücklich. Genauso werde ich einmal leben, das weiß ich. Das schwöre ich hier und heute! Ich werde es besser machen als meine Eltern. Ich werde immer genug zu essen haben, arbeiten gehen und nie mit meinem Mann streiten! Ganz bestimmt nicht!

    Was, wenn ich von hier weggehe? Dann brauchen meine Eltern sich nicht mehr um mich zu kümmern. Vielleicht schafft es Mama dann, Arbeit zu finden. Dann muss sie mich auch nicht mit dem Moped zur Schule führen. Sie hat keine Strümpfe, und es ist immer so kalt in der Früh. Na ja. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich zu Oma gehe. Dann kann sich Mama von Papa scheiden lassen und woanders hinziehen. Sicher bekommt sie ohne mich schneller eine Wohnung mit Bad und Klo!

    Und wenn ich wirklich gehe? Wie soll ich das anstellen? Ich schreibe einen Abschiedsbrief und gehe am Samstag nicht zur Schule, sondern zur Oma. Es ist nicht weit. Aber das gäbe sicher Ärger! Nicht in die Schule gehen, geht gar nicht! Aber wenn Oma mich bei der Lehrerin entschuldigen würde, dann wäre die sicher nicht lange böse auf mich. Die Frau Lechner versteht das bestimmt. Die mag mich. Die legt sicher ein gutes Wort für mich bei meinem Klassenvorstand ein …

    Dieser Tag im Mai, an dem ich auf der Schaukel saß, die spielenden Kinder beobachtete und so unendlich traurig war, war zweifelsohne einer der wichtigsten Tage in meinem Leben. Denn an diesem Tag sollte ich eine Entscheidung treffen. Die einzig richtige. Und es war mir im zarten Alter von dreizehn so klar wie heute mit vierundvierzig, dass sich wohl alles ändern würde.

    An diesem Abend schrieb ich den Abschiedsbrief, nachdem ich mit meiner Mutter wieder einmal die Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, sich doch von meinem Vater scheiden zu lassen. Aber wie schon so oft zuvor verwies sie auf bessere Zeiten, die kommen würden, und meinte, meinen Vater gerade jetzt nicht im Stich lassen zu können. Aber sie würde es tun, irgendwann einmal, ganz bestimmt. Dann würden wir unsere Ruhe haben. Ich schrieb also, dass ich mich entschieden hätte, zu meinen Großeltern zu ziehen. Damit sie es leichter hätte, ihr Leben zu ordnen, Arbeit zu finden, sich von meinem Vater zu trennen. Dass ich ihr alles Gute wünschte und ein braves Kind sein würde.

    Ich nahm ihr unseren Streit an diesem Abend so übel, weil ich es einfach nicht verstehen konnte, dass ich ihr nicht mehr wert war als die ständigen Ausflüchte. Ich weiß noch, dass ich mir dachte, dass ich alles tun würde, um meinen Kindern ein ruhiges Leben zu bieten. Auf gar keinen Fall würde ich bei einem Menschen bleiben, der nur Versprechungen machte und keine einzige hielt. Dreizehn Jahre lang. Bei einem Menschen, dem eine Flasche Wein lieber war als seine Familie!

    Gestohlene Kindheit

    Lang lag ich in dieser Nacht noch wach, geplagt von meinem schlechten Gewissen. Es war nicht in Ordnung, dass ich meine Eltern im Stich lassen wollte. Aber es sollte ja nicht für ewig sein. Es war einfach unerträglich für mich, mit all diesen angsteinflößenden Menschen Tür an Tür zu wohnen. Und es war auch nicht mehr zu leugnen, dass wir es als Familie in der Form nicht mehr schaffen konnten. In den Augen meiner Mutter sah ich nur mehr Verzweiflung, Hilflosigkeit. Sie hatte sich selbst aufgegeben. Sie kam aus gutem Hause. Ihre Eltern waren wichtige Mitglieder der Gesellschaft, wohlhabend und einflussreich. Bildung hatte einen hohen Stellenwert in der Familie. Sie sprach mehrere Sprachen, nur die ihres neuen Landes nicht, und so fand sie keinen Anschluss, und ihr großes Potenzial blieb ungenützt. Niemals hätte Mutter ihren Eltern die ganze Wahrheit über ihr trauriges Leben erzählt, geschweige denn um Hilfe gebeten, aus Scham und falschem Stolz. War sie doch mit meinem Vater in dieses fremde Land gegangen, das um so vieles besser war als ihr Heimatland – um es zu schaffen. Mit den besten Absichten, sich hinaufzuarbeiten, um im gleichen Wohlstand wie ihre Eltern zu leben. In einem Land, das ihnen alle Möglichkeiten bot, um ihren Traum zu verwirklichen.

    Mutter hatte die Rechnung ohne Vater gemacht, der alles anders sah. Er war ein Mensch, dem es an Selbstdisziplin mangelte. Wohl war er anfangs guter Dinge, durchaus gewillt, sein Bestes zu geben, aber er konnte das, was er sich vornahm, nie verwirklichen. Zu groß war die Verführung, dem lockeren Leben zu unterliegen. Sorglos und fahrlässig frönte er all den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hatte. Aber es war ein Drahtseilakt ohne Sicherungsseil. Er war davon überzeugt, dass seine Intelligenz ausreichte, um das lose Treiben, das er bei seiner Arbeit und in der Freizeit an den Tag legte, zu kaschieren. Langsam, aber sicher wurde er zum Alkoholiker. Trotz vieler Verwarnungen trank er am Arbeitsplatz und posaunte immer wieder hinaus, dass seine Firma ohne sein Hirn nicht überleben könnte. Wer sonst als er sollte die Maschinen entwickeln, die nach seinen Plänen gebaut wurden!

    Als ihm seine Überheblichkeit und Dummheit, die nur auf der Annahme basierte, dass wohl seine Eltern, die ebenfalls sehr angesehene Mitarbeiter dieser Firma waren, ohnedies alles richten würden, den Absturz bescherten, riss er uns mit in die Tiefe. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war. Wie tief Menschen sinken können und vor allem wie schnell! Als ihm die bittere Realität die Augen öffnete, ihm zeigte, dass auch Arbeitgeber nicht unbegrenzt mit sich spielen lassen, verfiel er in einen Zustand der Starre. Noch mehr als vorher ertränkte er sein mahnendes Gewissen in Schnaps und Wein, nun aber nicht mehr in lustiger Gesellschaft, sondern als Abhängiger, einsam, allein, zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich meine Eltern noch leicht aus der Schlinge, die sich um ihren Hals gelegt hatte, befreien können. Aber es fehlte ihnen die Kraft. Der Mut, sich die Fehler einzugestehen und gemeinsam einen neuen, besseren Weg zu suchen.

    Für mich war die Lösung all dieser Probleme einfach und klar: aufhören zu trinken, aufhören zu streiten, arbeiten gehen, sparen und gut leben. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass die beiden das nicht sahen, wo ich es doch so genau wusste. Und ich war ein Kind. Sie dagegen waren erwachsen!

    Unverzüglich mussten wir damals die Firmenwohnung räumen, und das zog meinen Eltern den Boden unter den Füßen weg. Es war wie eine Lawine, die sie unter sich begrub und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Im Nichts gelandet, verbrachten mein Bruder und ich die erste Woche bei meinen Großeltern, bis meine Eltern eine Bleibe für uns vier gefunden hatten. Aber ohne Geld lässt sich nun mal nichts Ordentliches auftreiben, und so mieteten sie sich im Sommerhaus eines höchst dubiosen Ehepaars ein. Zahlten eine horrende Miete, die im Gegenzug nichts zu bieten hatte, denn das Haus hatte keine Heizung. Nur vorübergehend sollte es sein. Eine Notlösung eben. Rasch wollten sie sich wieder Arbeit suchen – und ein schönes Zuhause! Aber der Winter zog ins Land, und es war der kälteste seit Jahren mit Temperaturen bis zu minus dreißig Grad. Die Eiskristalle glitzerten auf den Wänden. Wir schliefen in Schianzügen. Baden oder Duschen war nicht möglich. Wir wuschen uns in der Küche, aber auch nur so lange, bis die Wasserleitung eingefroren war. Dann musste das Wasser in Kübeln herangeschafft werden, für das der Vermieter auch noch extra verlangte. Das Geld reichte nicht aus. Nudeln, ein bisschen aufgepeppt, waren schon ein Festtagsmenü. Dabei war meine Mutter eine gute Köchin, aber was ließ sich aus nichts schon zaubern? Die Not brachte meine Eltern zum Schweigen. Hatten sie sich zuvor um alles Mögliche gestritten und geschlagen, so schwiegen sie sich nun an. Was blieb, war der unausgesprochene Vorwurf: Du bist an allem schuld!

    Ich war damals zehn Jahre alt. Es machte mir nichts aus, zu hungern, nein, ich wäre sogar arbeiten gegangen, wenn ich es gekonnt hätte. Ich war meinen Eltern nicht böse. Auch dann nicht, wenn sie sich das Leben zur Hölle machten. Weil ich dachte, es läge wohl auch an mir.

    In der Schule war ich nie gut gewesen. Sie war für mich einfach nicht wichtig, die Schule. Nur ein Ort, an dem man sich ausschlief und Zeit verbrachte, weil es eben so sein musste. Ja, ich bemühte mich zu lernen, aber ich konnte mir einfach nichts merken. Zu sehr war ich von Beginn an mit meinen Eltern beschäftigt: Was wohl wieder sein wird, wenn ich nach der Schule nach Hause komme? Worum sie sich wohl heute Nacht wieder streiten werden? Ich hatte Angst! Und die Schule war für mich eine

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