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Mord am Fluss: Bocquillons vierter Fall
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eBook319 Seiten4 Stunden

Mord am Fluss: Bocquillons vierter Fall

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Über dieses E-Book

Eine Leiche im herbstlichen Gardon: Als Detektiv Claude Bocquillon einen toten Mann aus dem Fluss zieht, ahnt er noch nicht, dass diese Tragödie auch ihn betrifft. Bevor er herausfindet, warum sich sein Freund Julien so seltsam verhält, wird dieser verhaftet und in das chaotische Gefängnis von Nîmes gebracht. Im Laufe der Ermittlungen, die Claude auf menschenleere Hochebenen und zu urbanen Travestieshows führen, geraten er und sein Freund an ihre Grenzen …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Juli 2017
ISBN9783742780614
Mord am Fluss: Bocquillons vierter Fall

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    Buchvorschau

    Mord am Fluss - Laurent Bach

    Kapitel 1 - Samstag

    Es fühlte sich seltsam an.

    Claude biss sich auf die Lippen und warf einen Kieselstein in den Fluss. Er lauschte auf das tiefe, fast melodiöse Glucksen. Die Nacht war mild und der Mond erhellte die zarten Kreise auf dem Wasser. Der Tarn floss in einem weiten Bogen am Fuß des Felsens entlang, nah an seinen Füßen vorbei.

    Amelie ging von ihm. Sie war nun Frederics Frau. Ja, es fühlte sich definitiv seltsam an, ob er nun schwul war oder nicht. Das war völlig egal.

    Musik erklang aus dem Saal, der wie die anderen drei Häuser in den Felsen gebaut worden war, direkt über dem Fluss. Amelie und Frederic hatten unbedingt hier in Castelbouc feiern wollen, der pittoresken Atmosphäre wegen. Eine schöne Stimmung dort oben, Gelächter, das sich zu einem Kreischen steigerte. Bestimmt musste Amelie gerade ihr Brautkleid höher den Schenkel hinauf ziehen. So war der Brauch: die Männer warfen Münzen in einen Hut, damit die Braut ihr Strumpfband öffentlich ablegte, die Frauen warfen ebenfalls ihren Obolus hinein, damit die Braut das Kleid wieder hinunterziehen durfte.

    Der Tarn war noch warm und hin und wieder sah man tagsüber Einheimische, die jetzt, Anfang Oktober, darin badeten, genau wie im Gardon von Anduze. In seinem Rücken stieg die Causse Mejean auf, eine der vier kargen Hochebenen, auf der nur Schafe grasten und Touristen Einsamkeit und Ruhe auf ihren Wanderungen fanden. Da saß er nun, am Eingang der Tarnschlucht, und warf Steine ins Wasser.

    Amelies Hochzeit störte sein Befinden in einer Art und Weise, mit der er nicht gerechnet hatte. Es war nicht die Einsamkeit, nein, er hatte Julien, seine Freunde und die Familie. Und doch schien ihm Amelies morgiger Aufbruch in die Flitterwochen als Einschnitt in sein Leben, eine Zäsur, mit der er fertig werden musste. Frederic hatte ihn in ihrem Herzen verdrängt, ihn vom Thron gestoßen. Vielleicht war es das, was ihm zu schaffen machte. Niemand ließ sich gern verdrängen. Womöglich war er sogar neidisch, weil Amelie ihren Platz im Leben gefunden hatte, ihre Arbeit, ihren Mann, ihr Haus. Kannte er schon seinen Platz und seine Zukunft? Alles blieb vage und unbestimmt in seinem Leben. Er seufzte. Aber gut, Hauptsache, sie würde glücklich sein und ihren Weg weiter gehen. Claude hob den Kopf und atmete tief ein. Wenn Heimat riechen könnte, würde sie so riechen wie hier, würzige Herbstluft mit Einsprengseln von schwerer Feuchte und Kastanienwald. Hoch über ihm verlief die nördliche Uferstraße, doch um diese Uhrzeit war kein Auto zu hören. Doch die letzten Grillen gaben ihr Bestes und kreischten beharrlich gegen den beginnenden Herbst an, als wollten sie es nicht wahr haben, dass ihre Zeit bald vorüber war.

    Sein Hintern tat allmählich weh von den harten Steinen des Ufers. Claude kam mühsam auf die Beine. Schwindel setzte er, er hielt sich an einem der Zweige fest, die über den Fluss hinaus ragten. Der Wein, verdammt, er sollte es langsam angehen lassen. Die Musik war inzwischen verstummt, nun hörte er das Gemurmel der Gespräch und Schritte im Kies.

    Zwei Personen. Claude drehte sich um.

    „Hier bist du!", rief Amelie und zog Frederic mit sich. Sie waren ein verdammt schönes Paar, Amelie mit ihrer kecken Kurzhaarfrisur und dem cremefarbenen Hochzeitskleid, das ihre Figur gut zur Geltung brachte. Frederic trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug und erinnerte Claude ein wenig an Daniel Craig als James Bond.

    „Ich wollte nur etwas Luft schnappen. Ist auch schon spät. Wir hauen gleich ab", sagte Claude und räusperte sich, um seine Melancholie zu verstecken.

    „Du willst nicht mehr bleiben?", fragte Frederic erstaunt.

    Claude schlug ihm leicht auf den Arm. „Du bist doch froh, wenn du einen Konkurrenten los bist."

    Frederic wedelte mit der Hand. „Stimmt, also hau ab. Er drehte sich um. „Da kommt auch schon deine Frau.

    Claude sah an Frederic vorbei und erkannte Juliens Gestalt im Mondlicht. Sein Herz schlug schneller, als sein Freund die Hand lässig in die Hosentasche steckte und näher trat. Er sah atemberaubend aus in seinem anthrazitfarbenen Anzug, mit den schmalen Hüften und dem Dreitagebart, den er seit einiger Zeit sorgsam hegte und pflegte. Seine Augen schienen zu funkeln und die markante Hakennase warf einen geheimnisvollen Schatten auf seine Züge. Claude wollte ihm am liebsten die Kleidung vom Leib reißen und mit ihm ins warme Wasser tauchen so wie damals, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Was hatte Frederic gesagt? Seine Frau? Na ja, ein wenig zu männlich, aber es stimmte. Sie gehörten zu einander.

    „Gut, dann brechen wir jetzt auf. Das Taxi müsste gleich kommen. Wir gehen zur Straße hinauf."

    Claude umschlang Amelie an der Taille und drückte sie an sich. „Und du bist dir sicher, dass dieser Idiot dich glücklich machen wird?", flüsterte er in ihr Ohr. Amelie küsste ihn auf die Wange und lehnte sich für einen Moment an ihn.

    „Ja, das bin ich. Sorg dich nicht um mich."

    „Dann bin ich beruhigt. Alles Gute, Amelie, und schöne Flitterwochen in Lissabon."

    Ein letztes Mal küssten sie sich auf die Wange, Amelies kühle Hand fuhr über seine Haut, dann drängte sich Frederic zwischen sie.

    „He, genug geschnäbelt. Komm her."

    Ein kräftiger Arm legte sich um Claudes Nacken. Frederic duftete nach einem teuren Aftershave. „Danke, Claude, für alles." Seine Stimme war rau. Claude nickte nur und schlang die Arme um seinen Freund.

    „Pass gut auf sie auf."

    „Sie ist alles, was ich habe, Claude, das weißt du doch."

    „Ja, natürlich. Viel Spaß euch beiden. Lasst es noch richtig krachen." Claude atmete tief ein, als er sich von Frederic löste. Amelie hatte Julien im Arm und flüsterte auf ihn ein, was Claude amüsiert beobachtete. Dann drückte auch Frederic Küsse auf Juliens Wange und bald darauf waren sie nur noch Schatten, die zwischen Platanen und Kiefern den schmalen Pfad zum Saal hinauf gingen, aus dessen Fenster Licht auf das Wasser fiel.

    „Was hat sie dir gesagt?", fragte Claude, als Julien neben ihm stand und sie den Weg ihrer Freunde verfolgten.

    „Ich solle gut auf dich aufpassen."

    Dann kann ja nichts mehr passieren, dachte Claude in stiller Belustigung. Julien drehte sich zu ihm um und musterte ihn liebevoll. Claude zog ihn zu sich. Ihre Lippen trafen sich zu einem Kuss, der den Schmerz des Abschieds verdrängte. „Was ich hiermit tue", hauchte Julien noch in sein Ohr, bevor sie einander unterhakten und langsam am Fluss entlang gingen. Wilde Gärten, Buchshecken und graue Steinhäuser säumten ihren Weg. Es roch leicht nach Moder, nach Verfall, als wäre die Erde von verrottenden Blättern gesättigt und vom Blut der Tiere, die den Winter nicht mehr sehen würden. Sie überquerten den rauschende Tarn auf einer schmalen Betonbrücke und stiegen zur Straße hinauf, wo in diesem Moment ein Taxi am Straßenrand hielt. Claude ließ die Lichter, die Freude, die gelöste Stimmung hinter sich, doch die Ahnung von Tod und Vergänglichkeit blieb. Er drehte sich nicht um, sondern stieg hinten ein und sog im Inneren des Wagens den Geruch von Kunstleder und Zigaretten ein, als suchte er in der Gegenwart nach dem Grund für seine wehmütige Stimmung.

    „Nach Anduze, bitte." Es dauerte nicht lange, bis Juliens Kopf an seine Schulter fiel. Über eine Stunde Fahrt lag vor ihnen. Der Wagen folgte dem Verlauf der Tarn, dann begleitete sie die kühle, unnahbare Mimente an der N 106, bevor sie den Pass überquerten. Als die Burgruine von Saint-Julien-d’Arpaon ihre verfallenen Zinnen in das Mondlicht reckte, spürte Claude ein unheilvolles Kribbeln. Julien schlief an seiner Seite, es war bereits zwei Uhr morgens, doch er fand keine Ruhe und dachte plötzlich an finstere Gespenster, die aus dem brüchigen Donjon heraus krochen und ihm folgen würden. Selbst, als sie die Berge verließen und sich nach der Abfahrt im Osten das weite Becken von Alès mit seinen Lichtern vor ihnen erstreckte, konnte er nicht aufatmen. Irgendetwas stimmte nicht, er konnte es fühlen.

    Anduze lag im tiefen Schlaf, als der Taxifahrer sie auf dem Parkplatz am Fluss hinausließ und Claude ihn bezahlte. Julien reckte und streckte sich. Als Claude seine Geldbörse wieder einsteckte, sah er, dass sein Freund auf die schmale Brücke getreten war und ins Wasser starrte. Der gleiche Mond und die gleichen Sterne warfen ihr brechendes Licht in die Wellen.

    Er ging zu Julien, sie setzten sich in ihren guten Anzügen auf den Rand der staubigen Brücke und ließen ihre Beine baumeln. Julien würde heute Nacht in Claudes Wohnung übernachten und nicht in sein Appartement in Alès zurückkehren, das er sich gemietet hatte. Für den Übergang. Es war noch nicht entschieden, wo sie zusammen wohnen würden. Und ob es überhaupt eine Wohnung gab, die beiden Intimität und trotzdem ein gewisses Maß an Ungebundenheit schenkte. Claude hatte kein Problem mit dieser Frage. Eines Tages würde sich etwas ergeben, von dem sie beide überzeugt waren. Virenque hatte damit auch kein Problem. Dem Kater war es egal, wer ihm die Dose öffnete. Ob nun seine Mutter, Julien, er selbst oder Amelie …

    „Bist du traurig wegen der Heirat? Es ist anders als vorher, nicht wahr?"

    Claude lächelte. Julien hatte inzwischen ein gutes Gespür für seine Gefühle entwickelt.

    „Tja, ein bisschen vielleicht. Aber sie bleibt uns ja erhalten", gab er zurück. Seine Hand tastete unwillkürlich umher, er ergriff einen rauen Schotterstein und warf ihn ins Wasser. Es gluckste, der Pegel des Wassers war niedrig und die Wellen nur mäßig. Das Licht der Straßenlaterne am Parkplatz verlieh dem Spiel des Wassers Leben.

    „Ja, im Doppelpack sozusagen." Julien nickte. Claude musste lachen.

    „Das wird noch lustig mit uns. Der gestrenge Herr Kommissar und wir beide. Aber du weißt ja, wie er es meint, wenn er stichelt."

    „Mir würde direkt etwas fehlen, wenn er uns in Ruhe ließe." Julien grinste. Claude warf ein paar weitere Steine ins Wasser und wartete auf das Glucksen. Doch er hörte nichts. Kein Plätschern, kein einziges Geräusch. Verdutzt sah er ins Wasser, wo er schemenhaft etwas Ungewöhnliches erkannte, etwas, das nicht dorthin gehörte. Zu ihren Füßen trieb ein dunkler Schatten, der wie ein Sack aussah, ein länglicher Sack, der etwas kreiselte. Claude schrie auf und zog unwillkürlich seine Beine hoch, als er erkannte, dass ein menschlicher Körper langsam an ihnen vorbei zog, ein Gesicht, ein Rumpf, der Bauch nach oben, dann die Beine. Die Steinchen waren auf diesem Mann gelandet, der so tot war, wie es eben nur ging. Er eckte an, blieb an Felsbrocken hängen, um dann wieder von der schwachen Strömung mitgenommen zu werden.

    „Claude!", schrie Julien und sprang hoch. Claude rappelte sich auf, blickte wie erstarrt auf die bizarre Figur, die sich allmählich von ihnen entfernte. Er sah Julien an.

    „Verdammt, was ist das? Wer ist das? Julien schüttelte den Kopf. „Für einen Moment dachte ich …, aber nein, das ist unmöglich.

    „Ruf die Gendarmerie an", rief Claude und zog sich die Schuhe von den Füßen. Eine Leiche war unterwegs. Das war etwas für Leutnant Bertin, dem Chef der Gendarmerie und – verdammt, ja – Liebhaber seiner Mutter. Mit einem Satz sprang Claude ins Wasser, die ungewohnte Kühle setzte sich wie ein Schraubstock an seine Beine, dann arbeitete er sich vorwärts. Das Wasser reichte ihm bis an die Hüfte, sodass er es mit beiden Händen von sich weg schaufelte, um voran zu kommen. Die Leiche trieb in Richtung Ufer, auf den Stein zu, auf dem er manchmal saß, wenn er nachdenken wollte. Dann nahm sie doch wieder einen Bogen und trieb erneut zur Flussmitte hin, sodass Claude den Weg abkürzen konnte und sie bald erreicht hatte. Er packte die Beine, die so steif waren, dass er sich ekelte und sich am liebsten die Hände am Jackett abgewischt hätte. Doch er hatte den Körper nun im Griff. Mühsam schnaufend zog er seine Last rückwärts. Er drohte über die Steinbrocken zu stolpern, er schwankte und fing sich wieder. Der Arm des Toten strich an seiner Jacke vorbei. Gut, dass er die neuen Schuhe ausgezogen hatte. Den Anzug konnte er wahrscheinlich sofort in die Mülltonne werfen. Die Vorstellung, Kleidung zu tragen, die Kontakt mit einer Leiche gehabt hatte, weckte Abscheu in ihm.

    Bei einem Blick über die Schulter sah er, dass Julien telefonierte und ihm gleichzeitig zu winkte. Einige Minuten später hatte Claude sich bis zur Brücke vorgearbeitet und den Leichnam in Richtung Ufer gezogen. Julien folgte, gab ihm Anweisungen und warnte ihn vor Stolperstellen und tief hängenden Zweigen. Ein blaues Licht zuckte die Hauswände entlang und schimmerte durch das Gebüsch. Endlich, die Kavallerie traf ein. Claude schnaufte seine Anstrengung hinaus. Seine Hände waren inzwischen eisig und die Zähne schlugen aufeinander. Nun kam Julien hinzu, er stieg mitsamt Schuhen ins Wasser und packte den Mann bei den Achseln. Gemeinsam hievten sie die schwere Leiche auf den grasigen Uferrand. Als er geborgen war, reckte Claude seinen schmerzenden Rücken und strich sich eine Locke aus der Stirn. Im Licht der Scheinwerfer sah er, dass Julien sich über den Toten beugte, die Augen weit aufgerissen.

    „Aber, das ist doch …" murmelte sein Freund.

    „Du kennst ihn?" fragte Claude schwer atmend. Er fror erbärmlich und wäre am liebsten sofort heim gegangen. Aus dem Wagen stieg Jean Bertin aus, stämmig, kräftig, missgelaunt.

    „Ja, hauchte Julien perplex. „Das ist Jerôme. Jerôme Malakov. Aus …

    Seine Stimme brach, er sah Claude ein wenig schuldbewusst an. Eine kalte Hand umklammerte Claudes Herz. Ein Gruß aus Juliens Vergangenheit lag tot vor ihnen, ein nicht mehr ganz junger Mann, wie man nun im spärlichen Licht erkennen konnte, aber groß, gut gebaut, etwas schlaksig. Sein Gesicht war weiß und aufgedunsen, auf seiner Brust leuchteten ihm Pailletten entgegen, die den Pariser Eiffelturm zeigten. Das T-Shirt schien hellblau oder hellgrün zu sein, türkis gar. Als Claude sich etwas näher an das Gesicht herantraute, sah er, dass die Augenbrauen dünn gezupft waren.

    „Du hattest mal was mit ihm, oder?" Diese Worte kamen ihm so schwer über die Lippen. Dabei war er nie eifersüchtig gewesen. Vielleicht war es anders, wenn man eine gemeinsame Zukunft plante. Die Geister der Vergangenheit mussten sich erst als harmlose Erlebnisse herausstellen, bevor man einander sozusagen das Ja-Wort gab.

    Julien nickte und biss sich auf die Lippen.

    „Aber – eine Tunte? Hab ich da was verpasst?"

    Julien blies mit einem unschuldigen Ausdruck die Wangen auf und legt den Kopf schief, doch

    bevor er sich näher erklären konnte, brach jemand durch das Gebüsch. Bertin bahnte sich mit den Armen den Weg zu ihnen. Die Haare des Gendarmen standen in alle Himmelsrichtungen und das Hemd unter seiner dünnen Jacke war falsch zugeknöpft. Claude war unwohl zumute. Sicher hatte der Anruf ihn den Armen seiner Mutter entrissen, sie hatten bereits eine Stunde früher Amelies Hochzeit verlassen.

    „Was ist los? Die polternde Stimme trat eine Lawine in Claudes Innerem los. Schon einmal hatte ein Ex-Geliebter Juliens vor ihm gelegen. „Nicht schon wieder, stöhnte er leise. Julien sah ihn an, angespannt und ernst, er erinnerte sich bestimmt an den gleichen Fall. Claude konnte ihm keinen Mut zusprechen. Wenn sich herausstellte, dass der Mann ermordet worden war, würde Bertin gleich wieder Verdacht gegen Julien schöpfen. Verdächtigungen, Verhöre, Verhaftungen … Er atmete tief ein. Immer langsam, dachte er, noch ist gar nicht klar, wie er gestorben ist.

    „Nichts ist los. Wir haben einen toten Kerl aus dem Gardon gefischt."

    Der Strahl einer Taschenlampe erleuchtete das bleiche tote Gesicht. Bertin trat näher.

    „Wie ist der denn angezogen? Und überhaupt … Einer von euch?" Bertin leuchtete erst Claude, dann Julien direkt ins Gesicht, bevor der Strahl wieder zu dem Toten wanderte.

    „Ja, einer von uns, antwortete Julien gereizt. „Ich kenne ihn. Jerôme Malakov aus Nîmes . Wir haben uns vor einem halben Jahr mal getroffen.

    „Wie alt?"

    „Ungefähr 35."

    „Ein Russe?"

    Julien zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich."

    „Angehörige? Wohnort?"

    „Ich glaube, einen Bruder. Wo genau er in Nîmes gewohnt hat, weiß ich nicht." Julien schien verblüfft darüber zu sein, dass er so wenig von seinem Bekannten wusste.

    „Was sucht der hier? Dich?"

    Die vertrauliche Anrede Juliens kam Claude seltsam vor, doch seitdem Bertin quasi zur Familie gehörte, duzte er Julien.

    „Keine Ahnung. Das ist dein Job", kam Claude Juliens Antwort zuvor.

    Bertin brummte nur etwas Unverständliches und sah sich um. Sergeant Joberton, ordentlich in seine Uniform gekleidet, war seinem Chef gefolgt, sodass nun vier schweigende Männer einen Kreis um den Toten bildeten. Bertin kniete sich nieder, um nach einer äußeren Verletzung zu suchen. Als er den Kopf drehte, schloss Claude kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, zog Bertin gerade eine Geldbörse aus der Jeanstasche. Dann erhob er sich, klopfte sich die Hose ab und starrte erneut auf die Leiche. „Der Schädel sieht verdächtig aus. Er ist auch wohl schon länger tot und im Wasser."

    „Vielleicht tust du jetzt mal was?" forderte Claude und schüttelte den Kopf über die Mutmaßungen Bertins, doch dieser warf ihm einen genervten Blick zu, öffnete die Brieftasche und fand einen Ausweis. Dann orderte er in einem Telefonat Verstärkung aus Nîmes an, die Spurensicherung sowie einen Transport, der den Toten in die dortige Pathologie bringen würde. Julien stand immer noch neben ihm, stumm, fast abwesend. Dachte er darüber nach, wie und warum sein Kumpel hierher gekommen war? Genau dieser Sachverhalt störte Claude. Der ungewöhnliche Besuch und sein bizarres Ende hingen wie ein drohendes Schwert über ihnen. Joberton kehrte zum Fahrzeug zurück und kam kurz darauf mit einer Plane wieder. Als diese sich auf Jerôme Malakov senkte, atmete Claude auf, als verschwände mit dem Leichnam auch seine Sorge. Er drückte Juliens Hand. Er hatte ja gewusst, dass etwas an diesem Abend nicht stimmte. Das Wasser war schuld. Er hatte mit seinen Steinen die Geister des Wassers heraufbeschworen, den Nöck, den Pépé-Crochet, die Nixen, wen auch immer. Die Geister der Tarn, die dann aus den silbrigen Wasserkreisen heraufgestiegen waren und ihn über die verräterische Mimente bis an den Gardon verfolgt hatten. Und im Gepäck brachten sie eine Wasserleiche mit und legten diese auch noch zielgenau vor seine Füße.

    „Können wir heimgehen? Er wagte kaum, diese Frage zu stellen. Bertin wollte erst etwas entgegnen, doch dann betrachtete er sie, durchbohrte sie mit seinem dunklen Blick. Dann nickte er. „Gut. Morgen früh dann die Befragung. Um zehn Uhr.

    „Danke, Jean."

    Bertin brummte erneut vor sich hin und setzte sich auf Claudes Stein, der nicht weit entfernt lag, während Joberton nach einem hiesigen Arzt telefonierte, der einen ersten Blick auf Jerôme werfen sollte. Leise Dankbarkeit und Erleichterung stiegen in Claude auf. Normalerweise hätten sie jetzt noch zwei oder drei Stunden in der Gendarmerie fest gehangen, doch Bertin zeigte ein Herz für übermüdete Hochzeitsgäste. Endlich ins Bett, endlich Juliens Haut an seiner spüren, seine warmen Arme. Und auf seine Worte horchen, denn er würde ihm noch das mit Jerôme etwas ausführlicher erklären müssen. Seit wann stand Julien auf Tunten?

    Na ja, warum nicht, dachte er, als sie im Bett lagen. Virenques Schnurren kam aus Richtung Fußende, wahrscheinlich lag er auf den Beinen seines Freundes. Es gab so viele Fragen, da war die nach Juliens Geschmack zweitrangig. Jerôme war doch sicher mit dem Auto hergekommen. Wo stand es? Wie lange war er schon hier gewesen? Wo hatte er Unterkunft gefunden? Doch Juliens düsterer Ausdruck machte es Claude schwer.

    „Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?, fragte er mit sanfter Stimme und strich ihm über die Brust. „Erzähl mir doch von ihm.

    „Das willst du gar nicht hören." Julien schloss die Augen vor dem grellen Nachtlicht. Claude schaltete die Lampe aus, sodass nur noch das gedämpfte Licht der Straßenlampe ins Zimmer fiel.

    „Weißt du denn, was er hier gewollt hat? Hat er sich bei dir gemeldet? Wollte er wirklich zu dir?"

    Die Brust hob und senkte sich mit seiner Hand. „Er wollte immer zu mir. Er hat mich gestalkt, Claude, wollte nicht loslassen. Julien legte sich die Hand vor die Augen und verzog sein Gesicht. Claude erschrak und schoss aus seinem Kissen hoch. „Was? Seit wann schon? Wann zuletzt? Nun sag es mir doch.

    Julien schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich will diese ganze Scheiße vergessen."

    „Du bist jetzt sicher vor ihm. Da kannst du mir doch ein wenig mehr erzählen, oder?"

    Juliens Hand wanderte zu Claudes Wange, berührte spielerisch seine Haut. „Zuletzt hatte ich vor vier Wochen eine SMS bekommen. Davor praktisch jede Woche entweder einen Anruf oder einen schwülstigen Liebesbrief. Als ich noch in Nîmes gewohnt habe, stand er so oft vor meiner Tür, dass der Vermieter schon Ärger gemacht hat. Dabei waren es nur zwei, drei gemeinsame Nächte, vor einem halben Jahr ungefähr. Er war sowieso nicht mein Typ. Es war eher ein Zufall."

    Ein Date kurz vor ihrem gemeinsamen Urlaub in Paris, na toll, dachte Claude und fiel ins Kissen zurück. Doch dann schämte er sich. Sie hatten sich immer Freiheiten gegönnt, da konnte er jetzt nicht anfangen, eifersüchtig zu sein.

    „Naja, du bist eben ein begehrter Typ, seufzte er und drehte sich auf die Seite. „Nicht nur die Lederjungs, sondern auch Tunten sind hinter dir her.

    „Ja, ich hab’s schon schwer, sagte Julien und sah ihn verschmitzt lächelnd an. „Du bist mir nicht böse? Für einen Moment wurde sein Ausdruck wieder besorgt.

    „Nein, warum sollte ich?"

    „Und dass er eine Tunte ist … das war früher anders. Anfangs war er normal männlich. Erst, als ich mit ihm zusammen gewesen war, faselte er etwas von Erfüllung gefunden und der richtigen Lebensweise und so."

    „Klar, du hast es ihm so toll besorgt, dass er nicht mehr wusste, ob Männlein oder Weiblein", sagte Claude trocken.

    „Jetzt hör auf, Claude. Der arme Kerl, er war schon irgendwie komisch. Aber du weißt doch, wie schwer das ist. Aber weißt du, was er dann gemacht hat?"

    „Du wirst es mir gleich sagen." Claude war zufrieden mit seiner Ausbeute. Hatte Julien erst einmal den Anfang gefunden, konnte er nicht mehr aufhören.

    „Er ist Travestiekünstler geworden, in einer kleinen Truppe in Nîmes. Singen konnte er immer schon, er war in einem Männerchor."

    „Bestimmt Countertenor."

    Prompt bekam Claude einen Ellbogen in die Rippen.

    „Claude! Es hat ihm Spaß gemacht und er war wirklich nicht schlecht. Ich hab mir zwei Mal ihre Bühnenshow angesehen. Witzig, ironisch, überzeugend. Auch wenn ich ihn kaum kannte, nehme ich ihm sofort ab, dass er das Ziel seines Lebens gefunden hatte: die Bühne, die Musik. Nur, dass ich nicht daran teilhaben wollte, hat er mir übelgenommen."

    „Wie fühlst du dich jetzt?", wollte Claude wissen.

    Julien zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Wenn er wirklich wegen mir in der Gegend war – und davon gehe ich aus – sollte ich mich ja eigentlich schuldig fühlen an seinem Tod. Aber es ist alles so verrückt, wie in einem Dejà vue. Weißt du noch? Pascals Tod durch die Dampflok? Da habt ihr mich an den Eiern gehabt."

    Ihr erster gemeinsamer Fall hätte Julien beinahe ins Gefängnis gebracht. Doch Claude fiel eine Alternative zu diesem Mordfall ein.

    „Damals bei Pascal wurde auch Selbstmord vermutet. Kann es nicht sein, dass Jerôme in deiner Nähe aus

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