Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Wohlanständigen: Ein Tanner-Kriminalroman
Die Wohlanständigen: Ein Tanner-Kriminalroman
Die Wohlanständigen: Ein Tanner-Kriminalroman
eBook475 Seiten5 Stunden

Die Wohlanständigen: Ein Tanner-Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Schreckliche Zeiten für Kommissar Michel: Kalter Vorfrühling mit Biswind, am Ufer des kleinen Sees dümpelt eine männliche Leiche mit einem Messer im Rücken, sein Freund und Helfer Simon Tanner macht Urlaub im warmen Marokko. Im Büro treibt ein neuer Polizeichef sein Unwesen und hat ihm eine junge Assistentin aufgebrummt. Immerhin, sie stellt sich als mehr als umgänglich heraus, ist mehr als fit im Kopf, und ihr Appetit hält dem von Michel stand. Der Tote arbeitete als Treuhänder in einer der angesehensten Kanzleien der Hauptstadt. Aber dort soll er schon vor fünf Jahren entlassen worden sein, stellt sich heraus. Mit der eigenen Familie lag er offenbar im Streit. Und schon bald hat der neue Polizeichef einen Täter gefunden, einen vorbestraften Albaner, dessen DNA auf dem Messer gefunden wurde. Zum Glück kommt endlich Tanner zurück. Die beiden Freunde finden schon bald seltsame Unstimmigkeiten: Was hat die noble Kanzlei an bester Adresse mit dem albanischen Clan in der anonymen Agglo zu tun? Und was mit den cyberkriminellen Wirtschaftsaktivitäten, die offensichtlich im Gang sind? Das verblüffende digitale Handwerk der neuen Assistentin kommt da wie gerufen.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimmat Verlag
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783038551959
Die Wohlanständigen: Ein Tanner-Kriminalroman

Ähnlich wie Die Wohlanständigen

Titel in dieser Serie (5)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Wohlanständigen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Wohlanständigen - Urs Schaub

    Über dieses Buch

    Schreckliche Zeiten für Kommissar Michel: Kalter Vorfrühling mit Biswind, am Ufer des kleinen Sees dümpelt eine männliche Leiche mit einem Messer im Rücken, sein Freund und Helfer Simon Tanner macht Urlaub im warmen Marokko. Im Büro treibt ein neuer Polizeichef sein Unwesen und hat ihm eine junge ­Assistentin aufgebrummt. Immerhin, sie stellt sich als mehr als umgänglich heraus, ist mehr als fit im Kopf, und ihr Appetit hält dem von Michel stand.

    Im Nu hat der neue Polizeichef einen Täter gefunden, einen vorbestraften Albaner, dessen DNA auf dem Messer gefunden wurde. Zum Glück kommt endlich Tanner zurück. Die beiden Freunde finden schon bald seltsame Unstimmigkeiten: Was hat die noble Kanzlei an bester Adresse mit dem albanischen Clan in der anonymen Agglo zu tun? Und was mit den cyberkriminellen Wirtschaftsaktivitäten, die offensichtlich im Gang sind? Das verblüffende digitale Handwerk der neuen Assistentin kommt da wie gerufen.

    «Jetzt können sich die skandinavischen ­Krimiautoren warm anziehen, denn jetzt zeigt mal wieder ein ­Schweizer, wie man Spannung und Stimmung macht!» Schweizer Illustrierte

    Die Tanner-Kriminalromane

    «Tanner»

    «Das Gesetz des Wassers»,

    «Wintertauber Tod»

    «Der Salamander»

    «Die Schneckeninsel»

    Urs Schaub

    Foto Yvonne Böhler

    Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspiel­regisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, ­Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Urs Schaub lebt in Basel, macht ­Leseförderung und betreibt eine Schreib- und Buchwerkstatt für Kinder. Im Limmat Verlag ist nebst den Krimis «Das Lachen meines Vaters» lieferbar.

    Urs Schaub

    Die Wohlan­ständigen

    Ein Tanner-Kriminalroman

    Limmat Verlag

    Zürich

    eins

    Die Leiche lag im seichten Wasser. Der nächtliche Sturm hatte sie offenbar angeschwemmt. Wäre sie im Schilf gestrandet, das rechts und links vom kleinen Sandstrand dicht an dicht stand, wäre sie vielleicht nicht so bald entdeckt worden. Die Turnschuhe mit dem deutlichen Markenzeichen zeigten gegen den Strand. Der Kopf war im Sand und Schlamm halb begraben. Die Augen waren weit geöffnet, wirkten groß und erstaunt, als ob sie immer noch nicht begreifen konnten, warum sie im Wasser lagen. Kleine, dunkle Fische umkreisten eilig seinen Kopf. Dann und wann streiften sie sein Gesicht, als ob sie an seinen Wangen schnupperten. Die Be­we­gungen der Fische folgten offenbar einem Muster, das Michel aber nicht durchschaute. Obwohl ihre Bewegungen und Berührungen etwas Zärtliches hatten, schauderte es ihn ein wenig. Hatte er heute Nacht nicht einen Traum gehabt, wo die Fische sogar durch sein Gesicht hindurchgeschwommen waren? Er war schweißgebadet aufgewacht und hatte die Fenster aufgerissen. In der Nacht hatte es furchtbar gestürmt. Gewohnheitsmäßig hatte er das Radio angeschaltet. Die Nachrichten hatte er verpasst, dafür wurde gerade mit monotoner Stimme der Wetterbericht heruntergeleiert.

    Das Tief, das in der vergangenen Nacht den Sturm brachte, liegt derzeit über der nördlichen Ostsee und verlagert sich im Laufe der Nacht auf Montag weiter ins Baltikum. Dabei schwächt es sich ab. Auf seiner Rückseite gerät Mitteleuropa unter den Einfluss polarer Kaltluft, die über Skandinavien nach Süden geführt wird. Über Westeuropa und dem Nordatlantik liegt eine Hochdruckzone, an deren Ostseite dieser Vorstoß begünstigt wird.

    Aha. Bisenlage!

    Michel seufzte.

    Mit anderen Worten: Es würde also weiterhin frostige Nächte und kühlwindige Vorfrühlingstage geben. Aber immerhin – der Frühling war in Sicht.

    Dann klingelte das Telefon, das ihn zum See rief.

    Michel blickte stirnrunzelnd zur anderen Seeseite, woher der kühle Wind kam und die Wasseroberfläche zum Zittern brachte und schließlich so aufkräuselte, als ob das Wasser von einer Gänse­­haut überzogen wäre. Michels Haut reagierte auch. Er fröstelte, und seufzend knöpfte er sich den Kragen seines Regenmantels zu. Er hatte heute Morgen etwas zu voreilig den Winter- gegen den Regenmantel getauscht. Getäuscht durch die Sonne, die noch keine Kraft hatte, obwohl sie an der felsigen Kante am Gebirge nördlich des Sees den Schnee schon genau soweit abgeschmolzen hatte, dass bereits A A R A U deutlich zu lesen war. Ein zufälliges Zusammentreffen von Gesteinsformen und Schneeschmelze ließ jedes Jahr für einen Moment deutlich diese Buchstabenfolge erscheinen – früher ein traditionelles Zeichen, dass die Mütter den Buben im Städtchen erlaubten, ab sofort kurze Hosen tragen zu dürfen – und den Mädchen Kniesocken.

    Durch den kühlen Wind hielt sich wenigstens der Schweiß in Grenzen, der gewöhnlich von seiner Stirn floss. Dennoch zog er gewohnheitsmäßig eines seiner windelgroßen Stofftücher aus der Manteltasche und wischte sich über Kopf und Stirn.

    Er ging einige Schritte durch den Sand, weg vom Wasser, und blickte um sich.

    Die Leiche lag am Sandstrand einer kleinen Badeanstalt, von dem nur wenige außerhalb des Dorfes wussten, deswegen war sie auch im Hochsommer keineswegs überlaufen. Er wusste das von Tanner, der in Sichtweite zum Strand wohnte und regelmäßig hier baden ging. Er hatte ihm schon öfter in den höchsten Tönen von diesem poetischen Ort vorgeschwärmt. Michel musste innerlich Abbitte leisten, denn er hatte immer gedacht, sein Freund übertreibe. Es war tatsächlich ein ungewöhnlich schöner Ort, altmodisch und wie aus der Zeit gefallen.

    Die dreiunddreißig Badekabinen, die fünfzig Meter vom Strand aufgereiht nebeneinanderstanden, waren durch ein langes, malerisch bemoostes Ziegeldach verbunden, unterbrochen nur durch einen Durchgang, durch den man auf die hintere Wiese blickte. Die grauen Kabinen hätten schon längst einen neuen Anstrich nötig, aber dass es sie in dieser Form überhaupt noch gab, grenzte an ein Wunder – vor allem, wenn man an all die Verschandelungen in der Gegend und an die unmäßige Bau- und Renovationswut der Zeit dachte.

    Michel brummte vor sich hin.

    Wenn Tanner wüsste!

    Er blickte zu der rund dreihundert Jahre alten Villa, die franzö­sische Architektur und ländliches Wohlbehagen vereinte und mit ihrem mächtigen Dach majestätisch über dem See thronte. Tanner würde erst in einer Woche zurückkehren. Er beneidete seinen Freund, der seit zwei Wochen in Marokko weilte. Da war es sicher wärmer.

    Er zog seinen Mantel enger.

    Sein Freund war vor Jahren als Persona non grata ausgewiesen worden. Letzthin hatte sich der jetzige König überraschend eines Besseren besonnen und ihn nach Marokko eingeladen, als Wiedergutmachung sozusagen. Das Ganze wurde jetzt als großes Missverständnis dargestellt.

    Stoffel, der sich Michel genähert hatte, stieß ihn leicht an die Schulter.

    Äh, können wir die Leiche jetzt aus dem Wasser holen, Chef?

    Er zeigte entschuldigend in Richtung des kleinen Hafens.

    Der Gerichtsmediziner ist im Anmarsch, und die Spurensicherung ist auch da.

    Ja, ja. Von mir aus. Wer kommt von der Gerichtsmedizin?

    Dr. Kramer.

    Gut. Das ist der Beste. Hast du das Gelände abgesperrt?

    Ja, Chef. Alles erledigt.

    Wo ist die Frau, die ihn entdeckt hat?

    Stoffel zeigte in Richtung Badehäuschen.

    Sie sitzt dort.

    Michel nickte.

    Wie heißt sie?

    Meer.

    Wie bitte?

    Michel blickte Stoffel verständnislos an.

    Ja. Ich kann nichts dafür. Sie heißt Meer, wie das Meer.

    Spricht sie Deutsch?

    Stoffel nickte.

    Michel wischte sich noch einmal über den Kopf und ging in Richtung der Frau. Er schätzte sie aus der Distanz auf knapp fünfzig. Sie war schlank, wirkte gleichzeitig bodenständig und attraktiv. Sie trug bequeme Kleidung, die in ihrem Understatement ziemlich teuer wirkte. Ihre Fingernägel waren in einem matten Rot lackiert.

    Sie hatte ein Taschentuch vor dem Mund. Jetzt blickte sie hoch, schnäuzte sich die Nase und erhob sich.

    Bleiben Sie ruhig sitzen. Mein Name ist Michel. Serge Michel. Ich bin von der Abteilung Leib und Leben, also ich meine, äh … also von der Polizei.

    Immer noch rutschte ihm aus Versehen die alte Bezeichnung für seine Abteilung heraus. Die Neue mit dem Wort Mord wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Er setzte sich neben die Frau auf die Treppe, die zu den Badehäuschen führte.

    Wohnen Sie hier in der Nähe, Frau Meer?

    Sie nickte und zeigte hinter sich in Richtung Kirche.

    Ich wohne dort im Pfarrhaus, also im ehemaligen Pfarrhaus. Es gibt ja hier keinen Pfarrer mehr. Ich wohne seit etwa fünf Jahren hier. Ich gehe jeden Morgen am See spazieren. Zum Abschluss sitze ich immer hier am kleinen Strand.

    Sie schnäuzte sich noch einmal.

    Entschuldigen Sie. Ich bin ganz durcheinander. Ich liebe diesen Ort und jetzt –

    Sie zeigte hilflos in Richtung der Leiche. Ihre Augen irrten unstet umher.

    Ja, das ist furchtbar. Schauen Sie nicht hin.

    Seine Leute hoben die Leiche gerade aus dem Wasser.

    Wann haben Sie ihn denn entdeckt?

    Sie richtete sich auf und versuchte, sich zusammenzunehmen.

    Es war so gegen acht Uhr. Ich bin dann sofort nach Hause ge­rannt und habe die Polizei angerufen. Ich nehme auf meine Spaziergänge mein Telefon nie mit.

    War sonst noch jemand am Strand?

    Sie überlegte einen Moment angestrengt und schob sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aber nicht bändigen ließ.

    Nein. Nicht, dass ich wüsste. Ah, doch. Jemand ist mit dem Fahrrad durchgefahren, also hinter der Badeanstalt. Aber das hat sicher nichts zu bedeuten, oder?

    Michel schüttelte den Kopf.

    Ich denke nicht, nein.

    Er erhob sich.

    Hier ist meine Karte. Falls Ihnen noch etwas in den Sinn kommt.

    Er verabschiedete sich von ihr. Sie erhob sich und ging zögernd ein paar Schritte. Dann wandte sie sich noch einmal um.

    Ich glaube, ich habe den Mann schon einmal gesehen. Ich bin mir aber nicht sicher. Das heißt, ich kann mich im Moment nicht erinnern.

    Sie blickte Michel hilflos an.

    Wenn es Ihnen wieder in den Sinn kommt, rufen Sie mich bitte an, Frau Meer.

    Sie nickte, wandte sich jetzt hastig um und ging eilig weg.

    Michel begrüßte den Gerichtsmediziner, der mit Stoffels Hilfe den Körper zur Seite drehte.

    Und, Kramer? Was ist der erste Eindruck?

    Aus dem Mund des Leichnams ergoss sich ein Schwall trübes Wasser.

    Na ja, nicht jeder, der im Wasser liegt, ist eine Wasserleiche.

    Er deutete auf den Rücken.

    Oh je.

    Michel beugte sich über den Körper.

    Der ging direkt ins Herz, wenn mich nicht alles täuscht.

    Der Arzt nickte.

    Wenn es lang genug war. Genau werde ich es erst im Institut sehen können.

    Und wie lange liegt er schon im Wasser?

    Der Arzt wiegte seinen schmalen Kopf. Der See spiegelte sich in seiner Goldrandbrille.

    Ich schätze, nicht mehr als achtundvierzig Stunden, eher weniger.

    Er zog das Messer heraus und wog es in der Hand.

    Oh, so was hat nicht jeder zu Hause.

    Michel nickte und wandte sich an einen Mann von der Spurensuche.

    Nehmt ihr es mit und untersucht es auf Spuren, Herkunft und so.

    Der Arzt gab Anweisungen, den Leichnam einzupacken.

    Moment! Habt ihr die Taschen untersucht?

    Der Arzt griff sich an den Kopf.

    Oh, entschuldige Michel.

    Michel nickte und kniete sich seufzend neben den Toten. Das ziemlich bunte Hemd mit kurzen Ärmeln hatte eine Brusttasche, die aber leer war. Es handelte sich um ein Hawaiihemd mit ziemlich wilden Farben und Motiven. Die Hose war eine weiße Jeans. Die Schuhe waren blau und von einer einschlägigen Marke, die vor allem junge Leute bevorzugen. In der Gesäßtasche steckte ein schmales Portemonnaie. Die anderen Taschen waren leer.

    Michel erhob sich und durchsuchte das Portemonnaie. Es enthielt nur wenig Bargeld. Keine Kreditkarten und keinen Ausweis.

    Er pfiff durch die Zähne.

    Schaut euch das an.

    Er hob ein Bündel Visitenkarten hoch.

    Unser Mann heißt Beckmann, Dr. Karl Beckmann, wenn ich das richtig entziffere.

    Er übergab das Portemonnaie der Spurensicherung.

    Ich behalte eine der Visitenkarten.

    Der Mann nickte und gab ihm eine kleine Plastiktüte.

    Wenn es denn die seinen sind. Aber das wird sich ja bald herausstellen.

    Gut, dann Abmarsch.

    zwei

    Es war Zeit für ein zweites Frühstück. Michel verabschiedete sich von seinen Leuten, ging übers Bahngleis und schaute zum Pfarrhaus hoch, aber er sah niemanden.

    Meer? Wie kommt man zu so einem Namen?

    Er schüttelte den Kopf, setzte sich in seinen Dienstwagen und fuhr die kurze Strecke zum Bahnhofsrestaurant.

    Er war früher schon öfter mit Tanner hier gewesen und hatte es als äußerst gemütlichen Gasthof in Erinnerung. Vor allem im Sommer unter der Birnenpergola auf der Terrasse. Dazu war es jetzt allerdings noch zu kalt. Er trat in die Gaststube.

    Am Stammtisch saßen zwei alte Männer, mit Gesichtern wie verschrumpelte Äpfelchen, und starrten mit seligem Lächeln auf ihren Kaffeefertig. Michel grüßte und setzte sich an einen der leeren Tische. In der Gaststube war es mucksmäuschenstill. Nur in der Kaffeemaschine zischte dann und wann irgendein Ventil. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er außerhalb der Gaststube leichtfüssige Schritte, die im rhythmischen Galopp eine Treppe herun­terkamen. Kurz darauf war es wieder still, dann öffnete sich die Tür, und herein kam eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie ging eilig hinter die Theke und band sich anmutig eine schwarze Schürze um ihre schlanke Taille. Genauso geschwind stand sie am Tisch und begrüßte Michel.

    Wenn Sie mir Speck mit Rührei machen würden, würde ich ge­nauso selig lächeln wie die Herrschaften am Stammtisch. Und Kaffee natürlich.

    Sie lachte ein helles Lachen und meinte, das könnte sie versuchen, wenn es denn so wenig zu seiner Glückseligkeit bräuchte.

    So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden.

    Anhand ihres Ganges hätte Michel schwören können, dass sie Tänzerin war. Er lehnte sich zurück und dachte an den Toten im Wasser.

    Weiße Jeans und Hawaiihemd: Das erinnerte mehr an Sommer und Urlaub als an dieses frostige Vorfrühlingsklima.

    Er zog die Plastiktüte mit der Visitenkarte aus der Tasche, nahm eine Papierserviette und trocknete das durchweichte Stück Papier. Der Name war noch einigermaßen gut lesbar, die Adresse nur bruchstückhaft. Auf jeden Fall wohnte der Mann in der Hauptstadt, das war zu entziffern. Da sowohl eine Festnetz- und eine Mobilnummer draufstanden, musste der Mann ein Mobiltelefon gehabt haben. Lag das vielleicht auf dem Grund des Sees? Auch die Nummern waren nur noch teilweise lesbar. Wo war der Mann gewesen, als ihm jemand das Messer in den Rücken gestoßen hatte? Am Ufer? Auf einem Schiff?

    Michel fuhr sich mit dem Tuch über seinen Kopf.

    In diesem Moment ging die Tür auf, und die Tänzerin brachte einen Teller voller Speck und Rührei. Mit Schwung setzte sie den Teller auf den Tisch, holte mit demselben Schwung Besteck, eine Serviette und ein Körbchen mit Brot.

    So! Jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Reise in die Glückseligkeit. Ich hole noch den Kaffee. Portion oder Tasse?

    Eine Portion, bitte.

    Michel sog begierig den Duft des Bratspecks durch die Nase und brach ein Stück Brot, das noch warm war.

    Ach, wie das duftet.

    Die beiden Männer erwachten aus ihrer Starre und blickten lächelnd zu Michel. Er nickte ihnen zu und machte sich heißhungrig ans Essen.

    Nach dem Essen ging Michel kurz raus und telefonierte mit seinem Büro. Er gab den Auftrag, die Adresse des Toten ausfindig zu machen und einen Taucher zu schicken, um den Seegrund ab­zusuchen. Dann ging er zurück in die Gaststube und trank seinen Kaffee fertig. Er hatte den Eindruck, dass während seiner kurzen Abwesenheit die beiden Alten mit der Frau über ihn ge­sprochen hatten. Er spürte es an ihren Blicken.

    Sie kam dann auch sofort an seinen Tisch und räumte lächelnd Teller und Besteck weg.

    Und? Wissen Sie schon, wer der Tote ist?

    Er blickte sie an.

    Hat das schon die Runde gemacht?

    Sie lachte, und die beiden Alten spitzten die Ohren.

    Ja, was haben Sie denn gedacht? So ist das hier. Es passiert ja sonst nichts. Man weiß auch, wer Sie sind.

    So! Wer ist man?

    Sie machte eine vage Bewegung in die Runde.

    Ja, alle. Ich auch.

    Dann ist ja gut. Und wer sind Sie? Außer, dass Sie Tänzerin sind?

    Sie stutzte.

    Woher wissen Sie das?

    Serge lächelte vergnügt.

    Na ja, Berufserfahrung. Stimmt es denn?

    Sie errötete.

    Ja, schon. Aber ich wusste nicht, dass man das sofort sieht.

    Man vielleicht nicht …

    Sie wischte ihre Hand an der Schürze trocken und streckte sie ihm hin.

    Ich heiße Liliana Schwarz.

    Freut mich sehr. Serge Michel. Aber das wissen Sie ja offenbar.

    Sie nickte.

    Hat hier der Besitzer gewechselt? Früher hat der Chef selber bedient.

    Sie strich sich über die Haare.

    Ja, ja. Wir sind hier eine komplett neue Mannschaft, seit gut einem Jahr etwa. Die alten Besitzer sind weggezogen.

    Michel zog seine Brieftasche und legte eine Note auf den Tisch.

    Sie stützte sich einen Moment lang auf den Tisch.

    Ich arbeite hier, wenn ich gerade nicht in einem Projekt bin. Meine Mutter kocht.

    Sie nahm die Note und huschte hinter die Theke.

    Michel stand auf und zog seinen Mantel an.

    Der Rest ist für Sie.

    Zum Abschied hob sie die Hand und schenkte ihm ein ent­zückendes Lächeln.

    Die beiden alten Männer waren mittlerweile eingeschlafen. Das selige Lächeln auf ihren Gesichtern war einem tiefernsten Ausdruck gewichen, der den beiden etwas Würdevolles verlieh.

    drei

    Michel beschloss, zu Fuß zurück zum Strandbad zu gehen. Nach dem exzellenten zweiten Frühstück fand er die Frische des Morgens sehr angenehm und fröstelte nicht mehr. Zufrieden schritt er aus.

    In solchen Momenten erfüllte ihn sein Beruf mit einer tiefen Zufriedenheit. Er fühlte sich wie ein Schreiner, der die Aufgabe hatte, einen schönen großen Tisch zu zimmern – und das war das Entscheidende – der genau wusste, wie man das machte. Er kannte und liebte sein Handwerk. Oder wie ein Künstler, der vor einer leeren Leinwand stand, den Pinsel in der Hand und zum ersten Pinselstrich ansetzte.

    Er musste schmunzeln.

    Auf seinem Bild war bereits ein Toter im Hawaiihemd, im Wasser liegend. Und seine Aufgabe würde nun daraus bestehen, das ganze Bild bis in alle Details fertigzustellen. Innerlich rieb er sich die Hände. Er freute sich auf die Aufgabe. Zudem würde es – je nach Verlauf – bedeuten, viele Tage oder gar einige Wochen nicht nur im Büro sitzen zu müssen und Akten zu wälzen. Da sein Privatleben wieder einmal auf die wenigen Kontakte zu seiner Ver­mie­terin geschrumpft war, die ihn nach wie vor treu jeden Tag mit leckeren Broten versorgte und seine Wohnung reinigte, war ein frischer Toter, noch dazu mit einem Messer im Rücken, eine willkommene Aufgabe. Zudem trieb in den Büros ein neuer Polizeichef sein Unwesen. Erst jetzt kapierten alle, wie pflegeleicht der alte gewesen war, trotz seiner Schrullen. Der neue war einer mit einem von im Namen. Er kam aus einem dieser Uraltgeschlechter der Hauptstadt, dessen Urgroßtante die Alte mit dem Hörrohr gewesen sein soll, die einst mit ihrem Rudel russischer Windhunde durch die Altstadt zu stolzieren pflegte. Außerdem war er Angehöriger dieser furchtbaren Partei, die glaubte, alles besser zu wissen, und für deren Verhalten sich das ganze Land schämen musste. Er hatte nichts, aber gar nichts von den gepflegten Manieren und der seriösen humanistischen Bildung, auf die der Alte so stolz gewesen war. Der Neue hatte zwar studiert, war aber ein Flegel und benahm sich wie einer. Intern nannte man ihn Baron Rumpelstilzchen. Man lachte über ihn, aber die meisten hatten Angst vor ihm.

    Michel rieb sich die Hände.

    Ja, diese Woche hat gut angefangen. Tanner ist auch noch nicht da, also muss ich mir nicht auch noch seine Kommentare zum neuen Fall anhören.

    Er überquerte das Bahngleis und sah, dass die Seepolizei gerade am langen Schiffslandungssteg anlegte.

    Das läuft ja wie am Schnürchen, dachte er, beschleunigte seine Schritte und erreichte das Boot nach wenigen Augenblicken.

    An Bord waren zwei Beamte der Seepolizei. Sie stellten sich als Schaller und Bodmer vor. Der dritte war Luisier, der Taucher. Er war gerade dabei, sich für den Tauchgang bereitzumachen.

    Michel stieg ins Schiff und erklärte den Kollegen die Sachlage. Schaller, der die drei Seen hier schon seit Jahrzehnten befuhr, meinte, dass es nicht die Strömung im See gewesen sein konnte, die den Leichnam ans Ufer des Strandbads gespült hatte. Die Strömung des Sees hat mit dem Durchfluss der Flüsse zu tun und verläuft grundsätzlich in dieser Richtung.

    Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm den Strömungsverlauf.

    Es muss der nächtliche starke Wind gewesen sein. Und deswegen kann man unmöglich sagen, wo der Tote in den See gelangt ist. Im Prinzip von Nordosten, denn der Sturm gestern blies aus nordöstlicher Richtung.

    Er zuckte mit den Achseln.

    Tut mir leid, aber mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir werden systematisch den Grund absuchen und melden uns dann.

    Michel verabschiedete sich und verließ das Boot. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als erst mal ins Büro zu fahren.

    Kaum saß er an seinem Schreibtisch, kam der Polizeichef ins Büro gestürmt. Er klopfte wie üblich nicht an und fragte in seinem hochnäsig-näselnden Ton, ob es schon Erkenntnisse vom Toten aus dem See gäbe.

    Michel gab sich außerordentlich beschäftigt.

    Nein! Noch keine besonderen Erkenntnisse. Die Leiche wurde schließlich erst vor … – er schaute auf die Uhr – vor vier Stunden und siebenunddreißig Minuten entdeckt. Was erwarten Sie da?

    Von der Werdt, so hieß der neue Polizeichef, ignorierte die Frage.

    Was haben Sie denn die ganze Zeit gemacht?

    Michel starrte ihn an.

    Wie meinen Sie das?

    Der neue Chef verschränkte seine Arme vor der Brust.

    Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt. Was haben Sie in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht? Ist die Frage so schwer zu verstehen?

    Michel musste erst mal Luft holen.

    Sie wollen wissen, was ich in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht habe?

    Ja, wenn Sie die Güte hätten.

    Michel verschränkte nun seinerseits seine Arme vor der Brust.

    Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, was ein leitender Kommissar in so einem Falle tut?

    Auf der Stirn des neuen Polizeichefs bildete sich diese schon amtsbekannte kleine Zornfalte, ein Zeichen, bei dem die Untergebenen normalerweise sofort einlenkten. Michel dachte nicht im Traum daran, sondern hielt dem Blick stand.

    Doch, ich kann es mir schon vorstellen, aber ich hätte es gerne von Ihnen gehört.

    Jetzt gab Michel irgendein kleiner Teufel die Sporen.

    Da Sie es sich vorstellen können, brauche ich Ihnen das professionelle Prozedere in so einem Fall ja nicht aufzuzählen. Sobald wir Erkenntnisse haben, werden Sie es als Erster erfahren. Reicht das?

    Nein, das reicht nicht. Das hat bis jetzt vielleicht gereicht. Jetzt nicht mehr.

    Aha. Und warum nicht?

    Michel spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und er verfluchte sich innerlich.

    Weil ich glaube, dass ihre Methoden veraltet sind. Zu langsam, zu konventionell.

    Ach, so ist das? Heißt das, ich gehöre zum alten Eisen?

    Rumpelstilzchen lächelte, das heißt, sein Mund verzerrte sich ein wenig.

    Nein, nein. Nicht, wenn Sie lernfähig sind.

    Aha.

    Michel richtete sich auf.

    Und von wem soll ich lernen?

    Auch diese Frage ignorierte der Polizeichef.

    Wissen Sie schon, wie der Tote heißt?

    Dr. Karl Beckmann.

    Er lehnte sich an den Türrahmen und steckte die eine Hand lässig in eine Hosentasche.

    Wissen Sie auch, wer Karl Beckmann ist?

    Michel sah sich jetzt wohl oder übel gezwungen, zu einem Tuch zu greifen, um sich Kopf und Gesicht abzutrocknen.

    Nein. Ich bin erst gerade ins Haus –

    Von der Werdt unterbrach ihn.

    Sehen Sie! Das meine ich: Sie sind langsam.

    Er richtete sich auf und wippte auf den Füssen.

    Karl Beckmann ist ein angesehener Finanzmann und arbeitet als Treuhänder. Ich habe Ihnen die Adresse rausgesucht. Hier ist der Zettel.

    Michel stand auf und holte sich das Papier.

    Sie meinen: Er war.

    Ja, natürlich. Er war ein angesehener Finanzmann.

    Von der Werdt hustete vor Ärger. Er hasste es, wenn ihm auch nur der kleinste Fehler passierte.

    Es ist also höchste Diskretion angesagt, wenn Sie verstehen, was ich meine.

    Nein, das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?

    Alle Erkenntnisse gehen über meinen Schreibtisch. Ich allein bestimme, was an die Presse geht.

    Er drehte sich auf dem Absatz und verschwand.

    Michel kochte vor Wut.

    Dieser arrogante Schnösel. Der verhält sich genauso wie seine Partei in der Öffentlichkeit. Haben keinen Respekt vor gar nichts, verhalten sich wie durchgedrehte Elefanten im Porzellangeschäft. Tun alles, damit ihnen ihre frustrierte und bornierte Wählerschaft zujubelt. Keine andere Partei fordert so lautstark und beharrlich die härtere Bestrafung von Kriminellen. Sie beklagt sich über Kuscheljustiz und fordert Opferschutz statt Täterschutz. Als ob es das nicht gäbe. Und wenn es um Ausländer geht, ihre sofortige Abschiebung, auch in Krisenregionen. In großflächigen Zeitungsinseraten wirbt sie derzeit damit, die sogenannten Fakten zu präsentieren. Ein ganz besonderes Ärgernis sind ihre dümmlichen Plakate zur Ausländerproblematik. Vor lauter Abschiebung und Durchsetzung vergessen sie die kriminellen Inländer, und zwar die in ihren eigenen Reihen, die – wären sie Ausländer – vielfach des Landes verwiesen werden müssten. Die Skandalchronik dieser Partei war bereits endlos: Unterschlagung, Drohung, Betrug. Die Liste der in Strafverfahren verwickelten Parteikollegen des Polizeichefs wurde über die Jahre länger und länger.

    Michels Wut steigerte sich unaufhaltsam.

    Und dann dieser weißhaarige Vaterlandsfanatiker, der aus jeder Rede geifernde Nationalfeier-Wutausbrüche machte und behauptete, er sei der Einzige, der den Leuten reinen Wein einschenkte. Ganz zu schweigen – und bei dem kam ihm nun wirklich die Galle hoch – von dem schmallippigen Totenköpfchen mit den starr blickenden Augen, der gegen die Ausländer hetzte und mit einer Asiatin verheiratet war.

    Und jetzt saß vor seiner Nase ein Chef, der sich stolz brüstete, Teil dieser Bande zu sein. Der will uns hier rumkommandieren, dabei geraten die selber andauernd mit dem Gesetz in Konflikt. Ehemalige und amtierende Politiker, und zwar auf jedem politischen Niveau. Und jetzt müssen ausgerechnet wir hier so einen Querkopf vor der Nase haben, der keine Ahnung von der Polizeiarbeit hat.

    Kurz darauf tauchte der Kopf Sommers im Türrahmen auf.

    Ist die Luft rein?

    Michel nickte.

    Sommer war so was wie der Bürochef der Abteilung und zu­ständig für alles. In den ersten Jahren seiner Anstellung war er fürchterlich begriffsstutzig gewesen, das hatte sich in den Jahren allmählich etwas gebessert. Er war alleinstehend, und sein Beruf war sein Ein und Alles.

    Hier ist alles zusammengestellt, was man über Beckmann weiß.

    Er reichte Michel ein dünnes Mäppchen.

    Darin sind auch die Telefonnummern und die Adresse.

    Danke, Sommer.

    Er blieb stehen.

    Ist noch was?

    Äh, wir kriegen einen neuen Assistenten, äh … also, ich meine, eine Assistentin.

    Michel schnaubte ärgerlich.

    Ich brauche keine Assistentin. Was soll das? Ich habe keine beantragt.

    Sommer sprach nun ganz leise und lispelte vor Aufregung.

    Ja, Rumpelstilzchen hat sie extra für Sie engagiert. Hat er das nicht gesagt?

    Michel schüttelte seinen Kopf.

    Nichts hat er mir gesagt. Also, ich habe jetzt keine Zeit für solche Fisimatenten. Ich habe einen neuen Fall.

    Sommer trat verlegen von einem Fuß auf den andern.

    Sie ist aber schon hier.

    Er deutete auf den Nebenraum.

    Und ER will, dass sie bei dem Fall mitarbeitet.

    Michels Kopf lief rot an.

    Verdammt! Das hat mir gerade noch gefehlt.

    Sommer hob hilflos die Hände.

    Tut mir leid. Soll ich sie holen?

    Michel rieb sich das Gesicht trocken.

    Wenn es unbedingt sein muss.

    Die gute Laune von heute Morgen gehörte nun restlos der Ge­schichte dieses Tages an. Er schlug unwillig die Akte Beckmann auf und überflog die biografischen Daten, die am Anfang zusammengefasst waren.

    Beckmann war 59 Jahre alt, verheiratet. Hatte zwei erwachsene Kinder. Stammte ursprünglich aus dem östlichen Teil des Landes. Die Frau, geborene von Wyttenbach, aus einem ortsansässigen Geschlecht also.

    Michel seufzte. Die müsste er jetzt gleich aufsuchen. Er hasste diese Gänge.

    Hallo? Darf ich reinkommen?

    Michel guckte verärgert hoch. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen braunen Haaren, einem schönen und ebenmäßigen Gesicht und einer großen schwarzen Brille. Sie trug eine schwarze Hose und ein weites Jeanshemd. Im Arm hielt sie einen zerknautschten Reportermantel.

    Was willst du?

    Die Angesprochene hob linkisch die Hand zum Gruss.

    Also, ich bin die Assistentin. Lena Steiner.

    Michel lehnte sich zurück.

    Dass ist jetzt aber ein Witz. Schickt man mir jetzt Kinder?

    Ich bin 27 Jahre alt.

    Oh, pardon. Welch hohes Alter. Ich hätte Sie deutlich jünger ge­schätzt.

    Sie winkte ab.

    Ach, das kenne ich. An der Uni hat man das auch immer gesagt. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?

    Nein, nein. An der Uni? Was haben Sie denn studiert?

    Ich habe einen Master in Informatik und Kriminologie.

    Was Informatik ist, kann ich mir so vage vorstellen, aber was ist Kriminologie?

    Sie hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und lächelte verschmitzt.

    Na ja, das habe ich die letzten Jahre auch versucht zu begreifen. Sagen wir so: Ich habe etwas über Untersuchungsmethoden und Verhaltensweisen von Verbrechern gelernt.

    Michel hob seine Augenbrauen.

    Ach ja. Interessant. Sind Sie denn schon einmal einem Verbre­cher begegnet?

    Sie lachte.

    Sie meinen in freier Wildbahn? Nein, noch nie. Zum Glück.

    Michel nickte.

    Das habe ich mir gedacht. Das heißt, Sie wollen jetzt das praktische Leben kennenlernen.

    Ja genau. Fangen wir an? Ich habe gehört, dass wir seit heute Morgen einen neuen Fall haben.

    Sie blickte ihn hoffnungsvoll an.

    Michel wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte sie eben wir ge­sagt?

    Hm. Was mach ich nur mit Ihnen?

    Er reichte ihr die Akte, die er gerade angefangen hatte zu lesen.

    Da! Studieren Sie die Akte. Ich bin gleich –

    Lena Steiner unterbrach ihn.

    Entschuldigung, aber die habe ich ja für Sie zusammengestellt.

    Michel starrte sie hilflos an. Dann gab er sich einen Ruck.

    Gut. Dann begleiten Sie mich in Gottes Namen.

    Sie schlüpfte in den Mantel und strahlte ihn mit großen Augen an.

    Wohin gehen wir?

    Wir besuchen die Frau des Toten.

    vier

    Warum haben wir uns nicht telefonisch angemeldet?

    Lena fragte es flüsternd.

    Sie standen schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem grünen Eingangstor der Wyttenbach-Villa.

    In so einer Situation ist es besser, unangemeldet zu kommen.

    Warum?

    Weil, äh … –

    Jetzt knackte es in der Gegensprechanlage.

    – das erkläre ich Ihnen später.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1