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Mord auf Französisch: Bocquillons erster Kriminalfall
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eBook303 Seiten4 Stunden

Mord auf Französisch: Bocquillons erster Kriminalfall

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Über dieses E-Book

Sommer in Südfrankreich: Während sich das beschauliche Städtchen Anduze von seiner schönsten Seite präsentiert, muss Privatdetektiv Claude Bocquillon einen Fall lösen, der es in sich hat. Pascal Melot, mit dem ihn mehr als nur eine Freundschaft verband, ist auf grausame Weise ums Leben gekommen. Die Polizei will den Fall als Selbstmord zu den Akten legen, doch Claude gibt sich damit nicht zufrieden ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum8. Okt. 2012
ISBN9783867874694
Mord auf Französisch: Bocquillons erster Kriminalfall

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    Buchvorschau

    Mord auf Französisch - Laurent Bach

    Impressum

    Prolog

    Die Spiegelung des Wassers verzerrte die Umrisse der nackten Gestalten, ihre Haut wirkte aufgelöst, die Glieder schwebend. Auch ihre Gesichter waren hinter einer Gischt aus glitzernden Wassertröpfchen verborgen, die aus ihren Haaren spritzten. Das Einzige, was deutlich war: sie amüsierten sich köstlich. Das Lachen hallte von den Felswänden wider, abgehackte Worte überlagerten die Fließgeräusche des Gardon.

    Der Ast dort störte, an die Seite mit ihm, um besser beobachten zu können. Ein Rundumblick, um sicherzugehen, nicht selbst entdeckt zu werden in dieser sonnendurchfluteten Wildnis. Nun war das Paar gut zu sehen: es lag an einer sandigen Uferstelle. Die beiden küssten sich, umschlangen sich mit Armen und Beinen, rollten übereinander hinweg, bis sie erneut im Wasser lagen und sich wie spielende Hunde balgten. Einer von ihnen lehnte sich entspannt an einen Felsen, das Wasser reichte ihm bis an die Brust. Sein Begleiter strich sich kokett die feuchten Strähnen aus der Stirn, ließ die Zunge über die Schulter des Anderen gleiten und glitt nach einem bedeutungsvollen Blick direkt vor ihm in die Tiefe, sodass er ganz unter der Oberfläche des Wassers verschwand. Anfangs Stille, keine Regung, doch dann begann der Stehende zu stöhnen, er zuckte mit dem Kopf, warf ihn in den Nacken, die Augen geschlossen. Da tauchte die eben noch verschwundene Gestalt wieder auf, küsste ihn und verschwand noch einmal unter Wasser, wo das Spiel weiter ging. Einige Mal wiederholte sich die Szene, bis endlich der Stehende keuchte und einen Schrei ausstieß. Er griff nach dem Körper vor ihm und zog ihn heraus, drückte sich eng gegen ihn. Sie fielen gemeinsam in die Fluten hinein, trieben fort, Hand in Hand. Nur schnell jetzt, der Fluss nahm sie mit, um eine Biegung herum, sie gerieten außer Sicht. Es gab keinen verborgenen Pfad am Ufer entlang, man musste über Felsbrocken und im Sichtschutz dorniger Sträucher stolpern, um sie nicht zu verlieren. Da waren sie. Sie ließen sich vom Fluss tragen, auf dem Rücken liegend, die Genitalien schaukelten auf den Wellen. Nie endender, schriller Zikadengesang löste die Zeit auf. Nach dieser Pause schwamm das Paar wieder zu seinem Liegeplatz. Die Tropfen perlten an ihrer Haut hinab. Sie balancierten über die spitzen Kieselsteine zu ihren Handtüchern. Ihnen nach, wieder zurück, nur nicht aus den Augen lassen. Die Zweige wippten, als der Beobachter erneut seinen Platz wechselte.

    16. August

    »Bitte, Monsieur Bocquillon, ich weiß sonst nicht weiter. Sie müssen mir einfach helfen!«

    In diesem Moment nieste der Kater einen feinen Tröpfchenregen bis an die Fensterscheibe. Claude Bocquillon schrak auf und schüttelte den Kopf, bevor er das Gespräch fortsetzte.

    »Ist das wirklich ernst gemeint?«

    »Ja, natürlich. Sie machen doch solche Ermittlungen. Hier, ich habe nicht viel Geld, aber nächsten Monat und übernächsten, dann kriegen Sie noch mehr.«

    Gegen die steinerweichenden Blicke seines neuen Kunden, der etwa zehn Jahre alt sein mochte, kam Claude nicht an. Er seufzte und betrachtete den zerknitterten 5-Euro-Schein, den der Kleine ihm entgegenstreckte. Einen Auftrag, der wenig Ehre und noch weniger Geld brachte, lehnte er eigentlich prinzipiell ab, doch dieser Junge setzte sein Vertrauen in ihn und damit lösten sich seine Prinzipien in Nichts auf.

    »Du musst deinen Hund sehr gern haben, wenn du drei Monate auf dein Taschengeld verzichten willst.«

    »Ja, das habe ich, Monsieur Bocquillon.« Der Junge nickte heftig.

    »Hast du ein Foto?«

    Der Junge zog ein portable aus seiner Hosentasche und zauberte ein Bild auf das Display: ein schwarz-weiß gefleckter Hund mit einem Stock im Maul.

    »Das ist aber ein großer Jack-Russell.«

    Sein Auftraggeber protestierte. »Quatsch, das ist ein Ratonero Bodeguero Andaluz.«

    Claude hob beschwichtigend die Hände »Oh, pardon.«

    Er erinnerte sich an den Hofhund seiner Kindheit. Nicht immer der gleiche, aber immer der gleiche Typ von struppiger Knurrigkeit. Er hätte für seinen Köter keinen Pfifferling gegeben. Da bemerkte er, dass sich Tränen in den Augen des Jungen festsetzten und – was schlimmer war – er ähnlich zu schnaufen begann wie der Kater. Claude fürchtete kein Handgemenge mit Ganoven in einer verlassenen Lagerhalle, doch die Gefühle des Jungen überforderten ihn. Er öffnete die Fensterläden und tröstete ihn unbeholfen:

    »Na komm schon, erzähl mal, was passiert ist.«

    Es gelang ihm tatsächlich, Geheule zu verhindern. Während der Junge nach Worten suchte, strömten mit der sommerlichen Morgenluft die Geräusche aus der Altstadt von Anduze ins erste Stockwerk hinauf: klappernde Absätze, Wortfetzen und Rufe, untermalt vom Plätschern des Brunnens auf dem Place Notre Dame, an dem das Mietshaus lag. Im Gebäude gegenüber lehnten sich zwei kleine Kinder gefährlich weit aus dem Fenster, um ihrer Mutter nachzusehen. Claude wandte schnell seinen Blick von den risikofreudigen Geschwistern ab. Sein neuer Kunde erzählte währenddessen, wie sein Hund ihm am vergangenen Nachmittag einfach in den Dampfzug gefolgt war. »Als ich in St. Jean du Gard ausstieg, war da ziemliches Gedrängel. Sie wissen ja, die Touristen.«

    »Klar«, sagte Claude, der sich im Lauf der Jahre mit den sommerlichen Besucherströmen abgefunden hatte.

    »Und da habe ich ihn nicht wieder gefunden. Vielleicht ist er mit zurückgefahren, aber zu Hause war er nicht. Und falls er in St. Jean oder am Bambuspark rausgesprungen ist, hat er sich jetzt bestimmt verlaufen.«

    Nun liefen doch Tränen die Wangen des Jungen hinab und hinterließen helle Spuren auf der dreckigen Haut. Claudes portable auf dem Tisch vibrierte. Verwundert blickte er aufs Display und nahm das Gespräch entgegen.

    »Hallo? ... Ich fass es ja nicht. Pascal, der erfolgreiche Makler? Was verschafft mir die Ehre? … Nein, ich bin nicht gereizt. … Nein, ich will die alten Geschichten nicht wieder aufwärmen. Was willst du denn jetzt? … Meinen Rat brauchst du? Das kostet aber. … Ja, erzähl es später, ich habe jetzt keine Zeit. … Also gut, ich warte dann auf deinen Anruf.« Er legte das Telefon fort. »Entschuldige, das war ein alter Freund.«

    Claude klopfte seinem Kunden auf den Rücken. »Na, lass das Geld mal stecken.« Dafür kannst du dir ein anderes Haustier kaufen, dachte er, doch er sicherte zu: »Ich wollte heute ohnehin nach St. Jean. Und statt mit dem Rad fahre ich eben mit der Dampflok. Habe ich schon ewig nicht mehr gemacht.«

    »Und dann?« Die Augen des Kleinen leuchteten hoffnungsvoll.

    »Dann halte ich Ausschau nach deinem Ratero.«

    »Ratonero«, berichtigte der Junge.

    »Meinetwegen. Wie heißt er?«

    »Jules.«

    »Gut, nach deinem Jules.« Fürsorglich und kompetent, damit der Kleine kein Trauma fürs Leben erlitt, führte er ihn auf den Flur. Der Kater entwischte, doch Claude ließ ihn laufen. So konnte er wenigstens noch ein wenig warten, bis er das Katzenklo leeren musste.

    »Ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Deine Telefonnummer habe ich ja.«

    Getröstet nickte der Junge und rannte die alte Holztreppe hinunter, während er am Geländer stand und ihm nachschaute. Die Sonnenstrahlen platzten in den Hausflur, als sein erster Kunde seit zwei Monaten gemeinsam mit der geflüchteten Samtpfote auf den Place Notre Dame hinaustrat.

    »Dabei mag ich gar keine Hunde«, gestand Claude einen Augenblick später seinem Spiegelbild. Das Gesicht mit markantem Kinn und dunklen Augen machte keine Anstalten zu antworten. Als er prüfte, ob sich erste Fältchen blicken ließen, kam er zu dem Schluss, nicht mehr so oft Fahrrad in der prallen Sonne zu fahren – die Hitze schadete offensichtlich seinem Teint. Ein Grummeln in seinem Bauch erinnerte ihn an das Frühstück und unwillkürlich tastete er nach seiner Geldbörse, die leer an seinem Hintern klebte. Dann begutachtete er den Glanz seiner Schuhe und verließ das Haus mit leisem Bedauern, die fünf Euro nicht angenommen zu haben. Das Metallschild an der Wand war mit Taubendreck verunziert: »Claude Bocquillon, Ermittlungen aller Art«. War Vogelschiss nun ein böses oder gutes Omen? Aber Claude hatte noch nie etwas auf Omen gegeben und verspürte kein Interesse, nun, da seine Geschäfte praktisch am Boden lagen, damit anzufangen. Er seufzte, denn es kam ihm in den Sinn, dass seine Geschäfte so gut wie immer am Boden lagen. Trotzdem spuckte er in ein Papiertaschentuch und säuberte die Platte. Zuversichtlich und mit einer gewissen Lust glitten seine Finger über die eingravierten Buchstaben. Als das Metall endlich makellos im Licht blinkte, machte er sich auf den Weg in die Innenstadt. In seinem Stammcafé würde ihm schon jemand einen Kaffee und ein Croissant spendieren. Dort konnte er auch darüber nachdenken, mit welcher Art von Luxusproblemen sich sein Kumpel Pascal Melot herumschlug. Ein seltsames Telefonat war das gewesen, erinnerte er sich, als er in einen winzigen Raum eintrat und lässig einem Nachbarn und einem alten Schulfreund zunickte. Pascal, der sich als Immobilienmakler auf rasante Weise eine goldene Nase verdiente, hatte auf seine Sticheleien nur müde reagiert. Dabei ging er sonst keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Nun gut, er würde ihm eine ordentliche Rechnung präsentieren, Pascal konnte es sich leisten. Leise Musik dudelte, Chansons auf Kanal Nostalgie. Er setzte sich an einen Tisch und dachte an seinen Auftrag. Dieser blöde Hund. Warum hatte er dem Jungen überhaupt Hoffnung gemacht? Da ihn auch nach einer Weile niemand an seinen Tisch bat oder in ein Gespräch verwickelte, nahm er sich vor, bei Katherine anschreiben zu lassen, die gerade unaufgefordert eine Tasse Kaffee vor ihm abstellte.

    »Bonjour Claude, was macht dein Vater?« fragte sie. Katherine, drall und hübsch, stammte aus Ribaute, seinem Heimatdorf.

    »Nicht viel Neues. Hängt am Tropf«, sagte Claude und lächelte ihr zu.

    »Hoffentlich muss er nicht so lange leiden.«

    Er nickte. Weil er diesem Wunsch nur beipflichten konnte, schämte er sich ein wenig und versteckte sich hinter der bunten Titelseite des Midi Libre.

    * * *

    Am Bahnhof von Anduze herrschte reges Treiben, es war Mittag und der Zug längst von seiner ersten Tour nach St. Jean du Gard zurückgekehrt.

    »Salut, Olivier«, begrüßte Claude den Schaffner, der aus dem Fenster des kleinen Warteraumes schaute, der mit Souvenirs und Kitsch überfüllt war.

    »Claude, wie immer aus dem Ei gepellt«, antwortete Olivier. Blödmann, das ist schließlich nicht einfach, dachte Claude, lächelte aber besonders freundlich. Wie erwartet lotste sein Freund ihn diskret an der Kasse vorbei, nicht nur, weil er wusste, dass Claude in der Regel abgebrannt war, sondern auch, weil der alte Monsieur Bocquillon von Beginn an im Vorstand der Dampflok-Vereinigung der Cevennen gesessen hatte. Claude hatte den Eindruck, dass die Touristen gleichermaßen die Bahnlinie wie die ganze Stadt am Leben erhielten. Gleichwohl war die Fahrt zwischen Berg und Tal stets ein Genuss für das Auge.

    »Was macht die Kunst? Hast du einen neuen Fall?« Olivier scheuchte ein Mädchen von der Bahnsteigkante weg. Die zahlreichen Passagiere bestaunten die Dampflok, vor allem die kleinen Jungs, was Claude an seinen Kunden erinnerte.

    »Ach, nicht wirklich. Ist dir gestern Nachmittag so ein Köter aufgefallen?« fragte Claude und erschrak, als die Lok ihren Pfeifton ausstieß. Olivier zuckte mit den Schultern und achtete darauf, dass die Fahrgäste geordnet einstiegen.

    »Ja, kann sein, so ein kleiner schwarz-weißer Fiffi ist mit eingestiegen. Aber ich habe ihn nur einmal gesehen. Hör mal, ist das etwa dein Fall?« Oliviers Augen wurden groß, das Grinsen breitete sich auf seinem braun gebrannten, faltigen Gesicht aus.

    Claude presste die Lippen zusammen und stieg ein. Oliviers Lachen saß ihm noch in den Ohren, als der Zug den Bahnhof verließ und in den Tunnel einfuhr. Er rümpfte seine Nase vor dem Rauch, der durch das Dunkel wirbelte. Für eine Weile herrschte tiefe Nacht, ungefähr achthundert Meter lang. Die Stampfgeräusche der Lok hallten bedrohlich laut, ein Kind begann zu weinen, doch die übrigen Fahrgäste unterhielten sich angeregt. Sobald der Tunnel passiert war, ertönte ein vielstimmiges »Ahhh!« im Wagon, und auch Claude ließ den Anblick der Landschaft auf sich wirken. Anduze lag rechter Hand, der Gardon d’Anduze leuchtete mit dem Himmel um die Wette, sein Wasser bildete einen hübschen Kontrast zu den hellen Kalkfelsen, die sich zu beiden Seiten der Stadt erhoben und sie in die Zange nahmen. Ein wenig melancholisch ließ Claude seine Blicke schweifen. Die Brücke, die schmalen Häuser an den Ufern mit ihren bunten Fensterläden, die immergrünen Büsche, die sich in die Hänge klammerten. Die ganze Fahrt war ein sinnliches Vergnügen: die Zikaden, deren schriller Gesang die Luft füllte, der unvergleichliche Geruch nach Wacholder, Kräutern und heißen Steinen, das einschläfernde Rattern der Räder. Er betrachtete die Mitreisenden. Touristen aus allen Regionen Frankreichs, einige hochgewachsene Niederländer, die stets den Eindruck machten, als kämen sie frisch geschruppt aus der Badewanne. Zwei hagere Gestalten mit Dreadlocks, Leinenrucksäcken und Sonnenfalten im Gesicht. Der Zug folgte seinem Weg durch die flirrende Landschaft, kreuzte immer wieder den blauen Fluss, der sich durch die Täler schnitt. Fotoapparate klickten, Kameras wurden aus dem Fenster gehalten. Die Kinder ließen sich den Fahrtwind um die Nase wehen, während ihre Eltern aufpassten, dass sie den Felsen nicht zu nahe kamen. Claude hatte eigentlich nicht vorgehabt, nach St. Jean du Gard zu fahren, aber da er sich den Tag einteilen konnte, wie er wollte … Seine Schultern sackten herab, als er sich dabei ertappte, sein Leben schöner zu reden als es tatsächlich war. Mit diesem Ausflug schlug er lediglich Zeit tot, Zeit, die ihm im Übermaß zur Verfügung stand und die ihn manchmal zu ersticken drohte. Die Aussicht, wenigstens morgen Mittag wieder zu etwas nutze zu sein, war der einzige Lichtblick des heutigen Tages, auch wenn es sich nur um seinen Kellnerjob im Chez moi handelte. Da kam bereits die Haltestelle La Bambouseraie de Parfranc in Sicht, flankiert von den namensgebenden Bambusgewächsen. Die Bremsen quietschten, einige Touristen stiegen aus den Wagons aus und liefen auf einem schattigen Weg dem Eingang des weitläufigen Parks entgegen. Claude besann sich auf seine Pflichten. Er nutzte die Haltezeit, um hinauszuspringen und zur Lok zu laufen. Dort lehnte sich Henri aus dem Fensterchen, das Abbild eines Lokführers aus einem vergangenen Jahrhundert.

    »Salut, Henri, darf ich den Rest der Strecke mit auf die Lok? Ich suche was in der Gegend.«

    Henri rückte seine dunkle Kappe zurecht und nickte. Ein wenig ungeschickt kletterte Claude in den Führerstand hinein und suchte sich einen Platz, an dem er nicht stören würde. Er achtete darauf, dass sein Jackett nicht an die dreckigen Metallgriffe, Räder, Manometer und Bügel stieß, deren Funktion er sich kaum erklären konnte. Durch die Türausschnitte und Fenster hatte man einen rundum ungehinderten Ausblick. Er hielt Ausschau nach dem Hund Jules. Der Zugang zum Park war voller Menschen, doch kein Ratonero wuselte zwischen ihren Beinen herum. Wahrscheinlich hatte man die Töle längst aufgegriffen und sie in eine der Tötungsstationen für Straßenhunde gebracht, überlegte Claude. Er nahm sich vor, als nächstes in Erfahrung zu bringen, wo das nächste Tierheim war. Vielleicht hatte er Glück. Mit seinen Kunden sollte man sich gut stellen, man musste langfristig denken. Dieser Junge kam bei erfolgreich erledigtem Auftrag vielleicht in fünf Jahren wieder, um sein geklautes Mofa suchen zu lassen, und Claude hoffte, dass sich sein Taschengeld entsprechend dem Lebensalter steigern würde.

    Nachdem Henri, der gleichzeitig die Aufgaben des Heizers übernahm, das lodernde Maul der Lok mit einigen Schaufeln Kohle gefüllt hatte, fuhr diese mit einem Ruck an. Claude genoss das Beben unter seinen Füßen. Nach einer Weile merkte er, dass er dem Spiel der Dampfwolken, die aus dem Schornstein in den Himmel stiegen, mehr Beachtung schenkte als seinem Auftrag. Aufmerksam betrachtete er das Tal, das unter der Brücke lag, die sie gerade überquerten. Kieselsteine am Flussufer, dichtes Gebüsch, doch kein Jules, der aus dem Gardon soff oder sich im Sand wälzte.

    »Henri, ist dir gestern ein herrenloser Hund aufgefallen, der in den Wagons war?«

    »Ein Hund? Natürlich bringen die Leute auch Hunde mit.«

    »Nein, ich meine so einen kleinen schwarz-weißen mit kurzem Fell, ohne Leine und ohne Herrchen.«

    »Suchst du etwa einen Hund? Ist das dein neuer Auftrag?«

    Henris Schnurrbartspitzen zitterten, als er laut lachte. Claude wandte sich ab, kniff die Augen zusammen und schwieg. Immer noch prustend konzentrierte der Lokführer sich auf die Strecke, denn eine enge Kurve nahte.

    »Vielleicht habe ich ihn ja über den Haufen gejagt«, spottete Henri.

    »Sehr witzig.«

    Als die Biegung fast genommen war, zwinkerte Henri Claude zu, der sich keine Blöße geben wollte und sich nicht festhielt, obwohl der vorbeisausende Schotterstreifen ihm Respekt einflößte. Als Claude seinen Blick wieder nach vorn richtete, entdeckte er etwas, das die eisernen Linien der Gleise unterbrach. Es dauerte einige Sekunden, bis er erkannte, was sich vor ihnen befand.

    Er schrie auf: »Henri, da liegt was! Brems! So brems doch!«

    Henri beugte sich aus der Tür, blickte nach vorn und blieb mit offenem Mund stehen. Claude machte einen langen Schritt und stieß ihm heftig in die Rippen.

    »Da liegt jemand, Henri, tu doch was! Halt diesen verdammten Zug an!«

    Die Lok näherte sich einer Gestalt, die zusammengesunken auf den Schienen lag, quer über der Trasse, reglos, leblos, der Rücken war der Lok zugekehrt. Henri kam zu sich, seine Hände sprangen hin und her, als ob sie nicht sicher wären, welches Rad zuerst gedreht und welcher Griff zuerst gezogen werden sollte. Schließlich riss er mit einem Ruck eine Stange zu sich heran, die Lok bebte und quietschte. Claude hielt sich fest, als die Räder blockierten und der Zug abbremste. Das Geschehen im Führerhaus erschien ihm quälend langsam, während draußen die Zeit raste. Wann stand der mächtige Koloss endlich still? Zu seinen Füßen sausten immer noch Sträucher und Steine vorbei. Dankbar nahm er wahr, dass der vordere Teil der Lok ihm nun die Sicht versperrte. Der Körper verschwand aus dem Blickfeld. Die Lok rumpelte unmerklich, sodass Claude für diesen entsetzlichen Moment die Augen schloss und sich wie ein Henker fühlte. Er mochte sich nicht vorstellen, was soeben mit dem Mann direkt unter ihm geschah. Er schaute wieder in Henris angespanntes Gesicht, dieser biss sich auf die Lippen und raunte »Sacré.« Nach unerträglich langer Zeit kam der Zug zum Stehen, das Kreischen der Bremsen verhallte im Tal. Dann herrschte Stille, bis sie nach einer Weile den Gesang der Zikaden und den Wind wahrnahmen.

    »Wir sind voll drüber«, murmelte Henri. Claude wusste nun, wie ein betrunkener Totschläger sich nach der Ausnüchterung fühlen musste. Verdammt, er hatte gerade einen Menschen überfahren. Sie zögerten, auszusteigen, doch dann befreite Claude sich aus seiner Starre. »Komm, vielleicht lebt er noch.«

    »Du weißt, dass eben zweiundfünfzig Tonnen Stahl über ihn rüber sind, oder? Merde, warum musste der Arme sich gerade mich aussuchen?«

    Henri nahm seine blaue Kappe ab und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken, bevor sie hintereinander die Stufen von der Lok zur Gleisböschung hinabkletterten. Da die Hände des Lokführers zitterten, bückte sich Claude zu dem Körper, der in grotesker Stellung unter den Rädern der Lok klemmte und dessen obere Hälfte ein wenig über die Gleise herausragte. So sah man also aus, wenn man von einer tonnenschweren Dampflok bis zum Stillstand mitgeschleift worden war, dachte er und versuchte, die Fassung zu bewahren.

    »Hast du ein portable

    Henri nickte und verzichtete darauf, das Opfer seiner geliebten Lok genauer zu betrachten. Während er Polizei und Notarzt anrief, kniete Claude sich nieder und versuchte, einen Menschen in diesem geschundenen Rumpf mit den grotesk abstehenden Gliedmaßen zu erkennen. Er blickte kurz in das blutverschmierte Gesicht, dann legte er mit einigem Widerstreben die Hand auf den Oberkörper und spürte die Kanten und Beulen der gebrochenen Rippen. Der Mann war tot, daran konnte niemand rütteln. Plötzlich stutzte Claude. Diese Haare, die Form des Gesichtes – konnte er es wirklich sein? Er holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte vorsichtig Stirn, Wange und Kinn des Toten vom Blut frei. Ebenmäßige Züge kamen zum Vorschein und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Diesen Mann kannte er gut, sehr gut. Sein Taschentuch fiel zu Boden. Ein saurer Kloß setzte sich in seinem Hals fest.

    Henris Schritte knirschten im Kies hinter ihm.»Sie kommen sofort. Da vorn gibt es einen Feldweg, von dort können sie rankommen.«

    Claude räusperte sich und stieß ein leises »Merde« aus.

    »Kennst du ihn?« fragte Henri, ohne näher als nötig an die Leiche heranzutreten.

    »Pascal Melot.« Claude brachte den Namen kaum heraus, ein eiserner Ring aus Bestürzung lag um seine Brust. »Ich habe heute Vormittag noch mit ihm telefoniert.«

    »Der Immobilienmakler? Wie kann der sich umbringen?«

    Claude rappelte sich auf und klopfte seine Hosenbeine sauber, eine instinktive Handlung, die ihm wieder einen halbwegs klaren Kopf bescherte.

    »Du siehst doch, wie.«

    »Ja, aber ich meine, warum? Der hat doch alles. Mon Dieu

    Anscheinend setzte der perplexe Henri Geld mit Glück gleich. Im Paradies gab es nun mal Schlangen, niemand wusste das besser als Claude. Er schüttelte den Kopf, dann fiel ihm auf, dass der Lokführer mit einem Mal blass wie eine Gipsmaske wurde. Der Schock. Claude hielt ihn am Arm fest. »Geht es?«

    Henri schwankte bedenklich. »Muss mich nur eben hinsetzen. Halt du bitte die Meute zurück.«

    Einige Reisenden waren ausgestiegen, andere hingen gaffend in den Fenstern. Claude schlüpfte in die Rolle der Autoritätsperson, es tat ihm gut, barsch und streng die Situation zu erklären und zu fragen, ob ein Arzt anwesend war, weniger für den Toten als für Henri. Da dies nicht der Fall war, forderte er Geduld, bis die Polizei eingetroffen war, was sicher nur eine Verzögerung von einer halben Stunde bedeuten würde.

    »Können wir denn nicht weiter fahren?«

    »Das kann ja noch ewig dauern. Wollen Sie nicht einen Bus anfordern?«

    »Wer leiht mir mal ein Telefon? Ich muss meiner Frau Bescheid sagen.«

    Das Selbstmitleid der Wartenden war schwer zu ertragen, also stieg Claude die Böschung hinab, um das Tal in Augenschein zu nehmen. Blöde Touristen, dachte er. Kein Respekt vor dem Toten. Automatisch richtete er seinen Blick auf den Boden. Vielleicht fand er etwas, das ihn vom Anblick des blutverschmierten Körpers ablenkte – im günstigsten Fall ein weggeworfenes portable, ein in einem Strauch flatternder Abschiedsbrief oder ein abgestelltes Auto. Die Strecke bis zum Gardon de Mialet war nur kurz. Das Licht brach sich an den Wellen, das Wasser floss gleichgültig unter der Brücke hindurch, die sie vorhin überquert hatten. Claude schlenderte eine Weile am Ufer entlang, setzte sich auf einen schattigen Felsen und starrte in eine tiefe Gumpe, die der Fluss ausgewaschen hatte. Fingerlange Fische zuckten im Sonnenlicht durch das Becken, mal synchron im Schwarm, mal als Einzelgänger. Pascal war tot. Seit zwei Jahren hatten sie sich nur

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