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Abbadon - Das Böse in Dir: Thriller
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Abbadon - Das Böse in Dir: Thriller
eBook417 Seiten5 Stunden

Abbadon - Das Böse in Dir: Thriller

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Über dieses E-Book

Newcastle upon Tyne, England
Geoffrey Flemming, ein erfolgreicher Privatdetektiv, hat alles, was zu einem sorglosen Leben gehört. Doch die Ermordung seiner Schwester wirft ihn aus der Bahn. Er macht ihren Lebensgefährten als einzig möglichen Täter aus. Die Verfolgung mündet in einer Serie brutaler Morde - und Flemming selbst wird zum Hauptverdächtigen.
Die dunklen Schatten seiner Vergangenheit holen ihn ein...

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Juli 2014
ISBN9783957641144
Abbadon - Das Böse in Dir: Thriller

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    Buchvorschau

    Abbadon - Das Böse in Dir - Ingo Blisse

    Prolog

    Der Traum quälte ihn seit Jahren. Immer wieder wachte er schweißgebadet auf und kämpfte schlaftrunken gegen die schrecklichen Bilder, die ihm sein Unterbewusstsein aufzwang.

    Er sah die Kegel der Scheinwerfer, die sich durch die Dunkelheit fraßen. Ziellos schwirrten Insekten in das Licht, bevor sie wieder in den Schatten verschwanden. Er trat aufs Gaspedal und der Motor seines Spitfires heulte auf. Die Landstraße war gut einzusehen und Kurven gab es nur wenige. Er kannte diese Gegend. Sie hatte sich in seinen Träumen nie verändert. Während die linke Seite von einem Weizenfeld begrenzt wurde, türmten sich zu seiner Rechten mächtige Kiefern auf, deren Kronen das spärliche Mondlicht brachen.

    Aus dem Radio tönte „Wonderwall" von Oasis. Er mochte das Lied und drehte den Lautstärkeregler auf. Rhythmisch klopfte er auf das Lenkrad und sang:

    „Today is gonna be the day

    That they're gonna throw it back to you

    By now you should've somehow

    Realized what you gotta do

    I don't believe that anybody

    Feels the way I do about you now ".

    Es war ein guter Abend.

    Wie aus dem Nichts erschien ein Schatten am Straßenrand. Er wankte aus dem uneinsichtigen Feld und stoppte mitten auf der Fahrbahn. Zuerst dachte er an ein verirrtes Tier, das den Schutz des Waldes aufsuchen wollte. Es waren nur wenige Meter. Die Gestalt trat einen Schritt in den Lichtkegel, beinahe so, als würde sie das Quietschen der Reifen gar nicht bemerken.

    Verdammt, geh aus dem Weg!

    Die Vorderräder blockierten und das Heck des Spitfires brach aus. Dem dumpfen Aufprall folgte eine gespenstische Stille. Er konnte nicht sagen, ob sie Sekunden, Minuten oder Stunden anhielt. Der Wagen stand quer zur Fahrbahn. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn.

    Nein, es war nur ein Tier. Nur ein großes, dämliches Tier. Ich muss hier weg!

    Er startete den Motor und rollte rückwärts zurück auf seine Spur. Seine Hände zitterten und er krallte das Lenkrad fester. Da sah er die Gestalt regungslos auf der Straße liegen. Ein unbeweglicher Haufen Fleisch. Er konnte nicht an ihm vorbeifahren. Der Körper versperrte die enge Landstraße. Er stieg aus und überlegte, ob er die Polizei alarmieren sollte. Aber was konnte er ihnen sagen?

    Entschuldigung, ich habe gesoffen und gerade einen Menschen überfahren, den ich dummerweise mit einem Tier verwechselt habe.

    Er stieg aus. Unbeholfen wankte er auf die Gestalt zu. Verrenkt lag sie vor ihm. Er griff ihr Bein und zog den schlaffen Körper über die Straße. Das Gesicht schleifte über den Asphalt. Er schleppte ihn einige Meter in das Feld und ließ ihn dort zurück.

    Er betrachtete seine Hände. Sie waren voll Blut. Übelkeit überkam ihn. Als er wieder anfuhr, blickte er noch einmal in den Rückspiegel. Er sah eine Silhouette im Mondlicht stehen. Sie war über und über mit Blut verschmiert. Er konnte die leuchtenden Augen erkennen. Ihre Augen und dieses eigenartige Lächeln. Sie winkte ihm nach.

    Er schreckte auf und fand sich in seine Decke vergraben in seinem Bett.

    1

    Newcastle upon Tyne, England

    Eintönig hallten die Stimmen der Arbeiter über das Gelände des neuen Hafens. Der Nebel hatte sich trotz des auffrischenden Windes noch nicht verzogen. Die Feuchtigkeit kroch kalt in ihre Overalls.

    Mit einem kraftvollen Stoß schob Butch Wagner den schweren Riegel des Überseecontainers auf. Er spuckte einige Tabakkrümel aus und fluchte, als er einen ersten Blick auf den Inhalt des Containers warf. Die Ladung bestand aus schweren Hölzern und Wurzelresten, die notdürftig in Cellophan eingeschweißt worden waren. Das Löschen des Containers war die Arbeit für mindestens zwei Personen, aber sein Vorarbeiter Mr. Gallwey hatte ihn alleine für diese Aufgabe eingeteilt. Wie immer.

    „Willst du den ganzen Tag rumstehen oder bewegst du dich endlich?"

    Butch drehte sich um und sah Hank, der untätig auf seinem Gabelstapler saß. Ein schiefes Lächeln breitete sich auf dessen schwammigem Gesicht aus.

    „Halt dein Maul, Hank", giftete Butch und stieß die Tür des Containers mit einem Fußtritt vollends auf. Der Gestank von Schimmel stieg in seine Nase. Er versuchte ihn zu ignorieren, als er die ersten Stämme entlud. Hank zog an einer filterlosen Zigarette, bis die Asche von seinen Lippen abfiel. Hin und wieder kommentierte er Butchs Arbeit und grinste dabei geistlos.

    Erste Regentropfen fielen vom Himmel. Es dauerte nur wenige Minuten, bis aus dem Niesel ein gewaltiger Schauer entstanden war, der lautstark auf den Hafen Newcastles herunterprasselte. Die meisten Arbeiter suchten eilig den Schutz der mächtigen Lagerhallen auf. Butch lud weiter Hölzer aus dem Container. Ihm war bewusst, dass ihn Mr. Gallwey bei dem nächsten Fehler entlassen würde. Und Hank wäre der erste, der ihn ans Messer liefern würde, wenn sich die Möglichkeit dafür bieten würde.

    Fernes Donnergrollen paarte sich mit dem monotonen Getrommel der Regentropfen. Hank zündete sich eine neue Zigarette an. Er schnippte das Streichholz in den Container. Butch malte sich aus, wie er ihn mit einem Faustschlag in dessen aufgedunsene Fratze aus dem Gabelstapler beförderte, doch er wusste, dass ihn das ohne erneute Verhandlung wieder ins Gefängnis gebracht hätte. Die Auflagen, die ihm bei seiner Entlassung auferlegt worden waren, erlaubten keine Konflikte mit dem Gesetz – vor allem keine Form der Gewalt. Allein schon der Verlust seiner Arbeitsstelle könnte weitere Monate im Town Jail bedeuten, weitere Erniedrigungen, weitere Anfeindungen und weitere Vergewaltigungen. Gerade erst hatte er die Inhaftierung wegen bewaffneten Raubüberfalls abgesessen. Er lud eine Wurzel auf den Hänger und der Regen lief ihm unablässig über sein Gesicht.

    „Hey Butch, Dein hässlicher Schädel wird nass", grinste Hank. Butch sah ihn an und richtete sich auf. Er näherte sich Hank bis auf wenige Zentimeter.

    „Du wirst der Erste sein, um den ich mich kümmern werde. Vergiss das nicht, wenn du abends nach Hause gehst."

    Hank schluckte, gewann aber schnell seine Fassung zurück. Er setzte sein breitestes Lächeln auf, das Butch noch mehr provozierte, als es Hanks gedankenlose Bosheiten taten.

    „Es wird Zeit, dass dir mal wieder ein paar ausgehungerte Knackis eine verpassen. Er sah Butchs wütende Augen, doch er konnte einfach nicht davon ablassen, ihn zu reizen: „Komm schon, du willst mir doch eine reinschlagen. Tu dir keinen Zwang an! Ich kann’s kaum erwarten. Schlag zu, Feigling. Schlag zu! Er warf seine Kippe auf Butchs Overall.

    Butchs Finger ballten sich zu einer Faust. Für einen Moment verschwamm Hank zu einer formlosen Silhouette. Die Regenwand wurde von einem heftigen Blitz erhellt. Butch nahm den eigenen Schmerz kaum wahr, als seine Faust zuschlug.

    2

    Noch 16 Tage, 1 Stunde und 19 Minuten

    Flemming schaltete sein Notebook ab. Er sortierte die Aufzeichnungen sorgsam in die Ablage. Es war ihm zuwider, wenn er am folgenden Morgen seinen Arbeitstag an einem unaufgeräumten Schreibtisch beginnen musste. Er blickte auf seine Uhr. Es war exakt sieben Uhr abends. Er klappte sein Notebook zu und sah aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brachen durch die Wolken und tauchten das saubere, zweckgemäß eingerichtete Büro in ein warmes Licht.

    Flemming nahm seinen Blazer und schloss die Tür. Eingehend reinigte er seine Hände mit einem Taschentuch. Er ging die drei Etagen zur Parkgarage durch das Treppenhaus hinab. Er hasste Fahrstühle. Sie waren eng und unsicher. Er fühlte sich in ihnen wie in einem mechanischen Sarg.

    „Einen schönen Abend, Mr. Flemming", wünschte ihm Jeremy, der Parkhauswächter, als er mit seinem MG auf die Schranke zufuhr.

    „Ihnen auch, Jeremy. Ihnen auch", antwortete Flemming und drückte das Gaspedal tiefer.

    Der Verkehr war an diesem Novemberabend ungewöhnlich stark, aber das störte ihn nicht. Der Tag war erfolgreich verlaufen. Es kam nicht allzu häufig vor, dass er binnen weniger Stunden zwei Fälle abschließen und sofort seinen Saldo dafür entgegennehmen konnte. Beide Vorgänge hatten ihn über Wochen beschäftigt und er hatte viel Zeit mit umfangreichen Recherchen zugebracht. Doch die Auflösung der detailreichen Nachforschungen war ihm diesmal in den Schoß gefallen, ohne dass es einer besonderen Anstrengung bedurft hätte. Nun wusste er von den zwei Schecks in seiner Brusttasche, die es ihm schwarz auf weiß bestätigten, dass dreitausendfünfhundert Pfund alleine durch Beharrlichkeit und Fleiß zu verdienen waren. Sanft wischte er über das Lenkrad, um einige Staubkrümel zu entfernen. Die Schlange sich aneinanderreihender Fahrzeuge setzte sich träge in Bewegung.

    Flemming lächelte bei dem Gedanken, dass er vor vier Jahren beinahe nicht den Mut aufgebracht hätte, seine Arbeitsstelle bei der städtischen Polizei aufzugeben, um sich mit einer Detektei selbstständig zu machen. Lange hatte er mit seiner Frau Agnes diskutiert, ob ein solcher Schritt nicht zu riskant wäre. Obwohl das Gehalt, dass Agnes als Creative Director einer florierenden Werbeagentur verdiente, durchaus üppig war, galt es, ihr geräumiges Reihenhaus abzuzahlen. Sie hatten es vor sechs Jahren kurz vor der Geburt ihrer Tochter Deborah gekauft.

    Doch der Schritt in die Selbstständigkeit hatte sich als Glücksgriff erwiesen. Schnell hatten sich Flemmings Erfolge herumgesprochen und die Detektei warf rasch beträchtliche Gewinne ab. Er wusste, dass er nun an einem Punkt angekommen war, an dem er die anfallende Arbeit nicht mehr allein bewältigen können würde. In den nächsten Wochen musste er sich einen Angestellten suchen. Er würde ihm ein angemessenes Gehalt zahlen, denn es sollte jemand mit Routine, Intuition und Ausdauer sein. Flemming hatte ein Profil erstellt, in dem er die Erfahrungen, persönlichen Eigenschaften und Potenziale seines zukünftigen Kollegen detailliert niedergeschrieben hatte.

    Er parkte seinen Wagen neben Agnes Beetle Cabriolet. Als er die Garage verließ, stürmte bereits Deborah, seine Tochter, mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Ihre schulterlangen, welligen Haare waren durch ein Stirnband zurückgebunden und aus ihren tiefbraunen Augen strahlte kindliche Freude.

    „Daddy, komm schnell. Wir haben eine Überraschung für dich." Flemming nahm sie in die Arme, bevor sie ihn ungeduldig in das Haus zog.

    Das Wohnzimmer wurde durch den Schein einiger Kerzen erhellt. Noch während Flemming sich sein Jackett auszog, stieg ihm der appetitliche Geruch eines Wildgerichtes in die Nase. Der ovale Glastisch im Esszimmer war aufwendig eingedeckt. Agnes hatte ihn mit cremefarbenen Seidenblumen und Acrylsteinen dekoriert. Sie verstand es, mit wenigen Handgriffen aus einem unscheinbaren Tisch ein Kunstwerk zu schaffen. Aber warum hatte sie das getan? Er hatte doch nicht etwa den Hochzeitstag vergessen? Nein, sie hatten im Mai geheiratet und in den zurückliegenden acht Jahren hatte er nie verpasst, Agnes in das Sachins auszuführen, das phantastische indische Restaurant, in dem sie sich das erste Mal begegnet waren.

    Erst jetzt sah er das unscheinbare, in rotes Papier eingeschlagene Päckchen mit der doppelten Schleife neben seinem Teller. Agnes erschien in der Küchentür, ein silbernes Tablett mit tranchiertem Rehrücken in den Händen. Sie trug ein eng anliegendes, dunkelgraues Cocktailkleid und ihr sportlicher Körper sah hinreißend darin aus. Ihre Haare hatte sie streng zurückgebunden und Flemming erkannte, dass sie kürzlich Make-up aufgelegt haben musste. Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, noch bevor sie das Tablett auf dem Tisch abgesetzt hatte.

    „Habe ich etwas verpasst?", fragte Flemming, während Deborah aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfte.

    „Darf Papa endlich aufmachen?", drängte sie ungeduldig.

    „Lass uns erst setzen, grinste Agnes. „Auch du, junges Fräulein!

    Deborah sprang auf ihren Stuhl. „Nun mach schon, Daddy", drängte sie und rutschte erwartungsvoll auf der Sitzfläche hin und her.

    Flemming betrachtete das Päckchen, bevor er begann, sorgsam die Schleife zu entfernen. Er legte das Band neben den Teller, nachdem er es um drei Finger aufgerollt hatte. Deborah rollte mit den Augen. Ihr dauerte diese Prozedur viel zu lange. Am liebsten wäre sie ihrem Vater behilflich gewesen und hätte das Verpackungspapier von dem Paket gerissen. Sie war überzeugt, dass sie in dieser Disziplin in punkto Schnelligkeit und Effektivität gegenüber der Erwachsenenwelt, vor allem aber gegenüber ihrem Vater, einen gewaltigen Vorsprung besaß.

    Endlich hatte Flemming die Verpackung entfernt und öffnete vorsichtig den Deckel. Im Inneren fand er ein Paar Babyschuhe, einen Schnuller und einen Baby-Body, alles in Luftschlangen und Konfetti eingebettet. Er sah auf und blickte in die strahlenden Gesichter von Agnes und Deborah.

    „Heißt das, du bist schwanger?" fragte er. Sein Herz schlug heftiger.

    „Dad, was soll es denn sonst heißen?, kreischte Deborah. „Ich bekomme einen Bruder!

    Agnes lachte: „Es könnte auch eine Schwester werden."

    „Nein, eine Schwester will ich nicht. Die sind zickig und klauen meine Spielsachen."

    Flemming musste lachen und nahm seine Frau fest in die Arme. Er spürte ihre spitzen Brüste durch das Kleid, als sie sich an ihn drückte.

    „Seit wann weißt du es?"

    „Ich war heute Nachmittag bei Dr. Stiller. Er hat mir gesagt, dass ich in der fünften Woche bin."

    „Ich liebe dich", flüsterte Flemming und sah in ihre braunen Augen. Diesen Glanz hatte er nur bei zwei Menschen jemals beobachtet: bei ihr und bei seiner Tochter.

    Nachdem er das Kästchen sorgsam auf die Kommode neben dem Fernseher geräumt und den Tisch vom Einwickelpapier befreit hatte, aßen sie in ausgelassener Stimmung den Rehrücken mit Thymiankartoffeln und italienisch angemachtem Salat.

    Flemming brachte Deborah zu Bett und las ihr eine Geschichte über drei Bären vor, die eine neue Höhle suchten. Noch bevor er am Happy End angelangt war, schlief Deborah mit ihrem Stoffhasen im Arm. Flemming zog ihr vorsichtig die Decke über die Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Leise schlich er aus dem Kinderzimmer.

    Agnes hatte bereits den Tisch abgeräumt und stand mit zwei Sektkelchen, einer davon mit Orangensaft gefüllt, vor der Couch und zwinkerte ihm liebevoll zu. Trotz der achteinhalb Jahre, die sie nun schon verheiratet waren, hatte sie noch immer eine magische Anziehung auf Flemming, vor allem, wenn das flackernde Licht der Kerzen kleine Schatten auf ihr ebenmäßiges Gesicht warf. Langsam ging er auf sie zu und nahm die beiden Gläser aus ihren Händen, um sie auf dem Tisch abzustellen. Seine Finger glitten unter ihr Kleid und legten sich auf ihre trainierten Schenkel. Sie schloss die Augen und genoss seine zärtlichen Küsse auf ihrem Hals. Flemming streifte ihr Kleid ab und zog sie vorsichtig in das Schlafzimmer.

    Sie genoss seine rhythmischen Bewegungen, die noch vorsichtiger waren als sonst, wenn sie miteinander schliefen. Ihr Mann war ein einfühlsamer Liebhaber. Ihre Finger krallten sich fest in das Fleisch seines Rückens, als sie spürte, dass sein Höhepunkt sich näherte.

    Es war ruhig im Haus seiner Familie, als Flemming leise aus dem Schlafzimmer ging. Weit entfernt konnte er das Quietschen bremsender Reifen vernehmen und schloss für einen Moment die Augen. Er duschte sich ausgiebig und spülte die beiden Sektgläser, die noch immer auf dem Esstisch gestanden hatten.

    Flemming fühlte sich sauber und er schlief schnell ein.

    3

    Butch atmete erleichtert durch, als er die Bahn an der Fawdon-Station verlassen konnte. Es war nicht die Haltestelle, die der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die er mit Jenny und ihrer Tochter Pia bewohnte, am nächsten lag. Er hatte kein Interesse daran, sie direkt nach der Arbeit zu treffen. Er brauchte ein Bier, und das möglichst ohne störende Fragen.

    Als er die Stufen der brüchigen Bahnhofstreppe hinaufgestiegen war, konnte er erkennen, dass der neue Supermarkt eröffnet hatte. Seit Monaten hatten sie an ihm gebaut. Bunte Luftballons hingen vor den Schaufenstern und man hatte für diesen Anlass ein kleines Karussell aufgestellt, auf dem die Kinder sich übermütig auf Feuerwehrwagen, Pferden oder Polizeimotorrädern drehten. Sie kreischten ausgelassen. Einige Eltern standen daneben und beobachteten ihre Jüngsten voll Stolz.

    Butch spuckte auf die Straße. Sein Overall war von der Nässe des Regens getrocknet. Trotzdem waren die dunklen, öligen Flecken unverkennbare Zeugen eines harten Tages an den Docks.

    Es war kurz vor acht, als Butch die namenlose Gaststätte neben dem Supermarkt betrat. Durch einen Zufall war dieser den ausgedehnten Umbau- und Abrissarbeiten nicht auch zum Opfer gefallen. Viele kleine Geschäfte mussten in den letzten Monaten umziehen oder schließen, um Platz für das neue Gebäude zu schaffen. Butchs Weg führte ihn regelmäßig hier her, wenn seine Arbeit beendet war und ihn nichts nach Hause trieb.

    Er öffnete die Tür und der beißende Gestank kalten Rauches, billigen Fusels und nicht beseitigter Fäkalreste stieg ihm in die Nase. Er nahm es kaum wahr und setzte sich vor den Spielautomaten. Die wenigen Gäste schenkten ihm keine Beachtung, obwohl sein abstoßendes Äußeres genügend Anlass für einen zweiten Blick gegeben hätte. Sein breiter Kopf mündete in einem kräftigen Stiernacken. Sein muskulöser Oberkörper wies zahlreiche Narben auf, die nur zum Teil fachgerecht behandelt worden waren. Eine Unmenge Tätowierungen zierten seine Arme. Es waren Bilder von Kreuzen mit R.I.P.-Beschriftungen, Fabelwesen mit leeren Augen und einige Messer, von denen eines einen unlesbaren Namen auf der Klinge trug.

    Butchs Figur war gedrungen, trotzdem zeugte seine Erscheinung von einer unberechenbaren Kraft.

    Das monotone Blinken des Automaten wurde von einem kurzen Tonsignal unterbrochen, nachdem Butch einen Schein in den schmalen Schlitz geschoben hatte, der diesen gierig in sein Innerstes sog. Die Spielräder begannen sich zu drehen. Er gewann einige kleinere Beträge, die er ebenso schnell wieder verlor. Seine Augen richteten sich auf den Tresen. Gedankenverloren starrte er auf ein zerbrochenes Whiskeyglas, das noch nicht die Aufmerksamkeit des gelangweilten Barkeepers auf sich gezogen hatte. Wahrscheinlich stand es seit Stunden dort.

    Butch dachte an die Auseinandersetzung am Pier. Beinahe wäre es diesem großmäuligen Hank gelungen, ihn in seiner Rage zu einer Unüberlegtheit zu provozieren. Aber Butch hatte seine Wut nicht an ihm ausgelassen. Stattdessen hatte er eine Delle in den stählernen Mantel des Gabelstaplers geschlagen und seine Arbeit dann fortgesetzt. Er hatte Hank nicht die Genugtuung geben wollen, sein persönliches Schicksal beeinflussen zu können. Es waren noch zwei Tage, verdammte zwei Tage, bis das Gericht über die Aussetzung seiner Bewährungsstrafe entscheiden würde. Zwei Tage bis zur endgültigen Freiheit. Er steckte einen weiteren Schein in den Automaten und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Das Ale schmeckte nach Spülmittel und sein Guthaben versickerte hinter den sich drehenden Rädern. Seine Hand schmerzte.

    Blitzlichter der letzten Jahre jagten durch seine Gedanken. Es waren verschwommene Bilder, vergangene Augenblicke. Noch einmal fühlte er die beklemmenden Nächte in der kleinen Zelle, die Hofgänge, die gesichtslosen Insassen. Er sah die weit aufgerissenen Augen des alten Mannes und hörte dessen letzte Worte: „Was tun Sie hier?".

    Butch kniff die Augen zusammen. Er musste in die Realität zurückkehren. Der Spielautomat blinkte und registrierte ein Sonderspiel. Butch trank das seifige Bier und bestellte ein neues.

    Es war bereits nach elf, als er die Tür seiner Wohnung öffnete. Er hörte den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Immer, wenn Butch nach Hause kam, sah Jenny fern. Ihre Tochter Pia schlief. Nur selten bekam er sie zu Gesicht. Morgens verließ er die Wohnung, bevor sie erwachte und abends schlief sie. Manchmal bedauerte er das.

    Jenny sah kaum auf, als er das Zimmer betrat. Sie kannte den Gestank von Schweiß und Alkohol, den er verströmte. Meist ging es darum, den Abend möglichst ruhig geregelt zu bekommen.

    „Hab Hunger", knurrte er.

    „Das Essen ist im Kühlschrank."

    Butch ging in die kleine Küche und sah, dass der Abwasch den dritten Tag in Folge nicht gespült war. Die Pfanne hatte eine dicke Kruste angesetzt und einige Fliegen machten sich über die Reste her. Er öffnete den Kühlschrank und fand einen Teller mit einer undefinierbaren Mischung aus Erbsen, Püree und Gulasch. Butch nahm den Teller und schmiss ihn gegen den maroden Wandschrank.

    „Soll ich diesen Dreck etwa essen?", brüllte er und sah, dass Jenny bereits in der Küchentür stand.

    „Bitte schrei nicht so laut. Die Kleine wird sonst wach."

    „Das interessiert mich einen Scheißdreck!" fluchte Butch und trat gegen die Tür, die krachend zuschlug. Jenny sprang zur Seite. Müdes Kindergebrüll drang aus dem Schlafzimmer.

    „Warum hast du nicht abgewaschen?" Butch näherte sich Jenny. Sie wich einen Schritt zurück.

    „Du weißt, dass Pia krank ist. Seit Tagen kümmere ich mich um sie und nicht um den Haushalt. Kannst du das nicht verstehen?"

    In Butch stieg eine unbändige Wut auf.

    „Was soll ich verstehen?, brüllte er. „Soll ich verstehen, dass ich hier nicht mal was Vernünftiges auf den Tisch bekomme? Oder dass ich deine Faulheit finanziere?

    „Du bist ungerecht!" Jenny schossen Tränen in die Augen. Butch holte aus und sie schlug ihre Hände vor dem Gesicht zusammen. Jenny machte einen Schritt zurück und stieß gegen das Waschbecken. Das Geschirr klirrte. Kaum hatte sie ihre Augen wieder geöffnet, sah sie Butch auf sich zukommen. Weiße Ränder hatten sich in seinem Mundwinkel gebildet. Die Adern an seinem Hals pochten.

    „Und jetzt? schrie Butch sie an, als er plötzlich hinter sich ein flehendes „Nein aus einem Kindermund vernahm. Er fuhr herum und sah Pia in ihrem zu großen Nachthemd. Sie stand in der Tür der Küche. Mit verängstigten Augen sah sie zu Butch auf, als sie leise sagte:

    „Nicht schreien, Daddy."

    Butch kam auf sie zu.

    „Fass sie nicht an! schrie Jenny hinter ihm. Butch beugte sich zu Pia hinunter. Er sah ihre Angst. „Nenn mich niemals wieder Daddy. Hörst du? Dein Daddy ist tot!

    Er verließ die Küche und schlurfte in das enge Schlafzimmer. Ohne sich umzuziehen, schlief er ein. Er hörte nicht mehr, wie Jenny und Pia wenig später in ihre Betten schlichen.

    4

    Der Ostwind hatte ein Fenster des Büros aufgeweht. Flemming schloss es behutsam, nachdem er von der Befragung eines ehemaligen Mitarbeiters der Firma L&S Communication zurückgekehrt war. Das Gespräch hatte ihn ebenso gelangweilt wie stundenlange Observationen es taten. Aber sie waren ein notwendiger Bestandteil seines Jobs, seines Lebens, und sie sicherten ihm sein Einkommen. Sein schmächtiger Auftraggeber, dessen Ausführungen er gerade zu folgen gezwungen war, hatte vor wenigen Wochen unter einer fadenscheinigen Begründung seine Arbeitsstelle bei L & S Communication verloren. Nun investierte er seine Ersparnisse darin, nachzuweisen, dass seine Position durch einen Verwandten eines Mitgliedes der Geschäftsführung besetzt werden sollte. Wenn es Flemming gelingen würde, hierfür den Nachweis zu erbringen, hätte sein Klient gute Aussichten, eine stattliche Abfindung vor Gericht zu erstreiten. Sollte er keine Beweise finden oder sein Klient sich in eine abwegige Theorie verrannt haben, so würde dieser für die geleisteten Nachforschungen eine erhebliche Summe aufbringen müssen, so dass Flemming letztendlich der Ausgang dieses Verfahrens egal war.

    Er legte einige Papiere, die der Wind hinuntergeweht hatte, zurück auf den Schreibtisch. Anschließend wusch er sich die Hände und trocknete sie sorgfältig.

    Eigentlich hatte Flemming geplant, sich heute um die Anwerbung des neuen Mitarbeiters zu kümmern. Es galt, einen aussagekräftigen Anzeigetext zu entwerfen. Er malte sich aus, wie er eintönige Aufträge wie den heutigen an seinen Angestellten übertragen könne, um sich selbst wichtigeren und interessanteren Fällen zu widmen. In manchen Momenten vermisste er die Polizeiarbeit trotz der Routine, die er auch dort zur Genüge erlebt hatte. Aber es war ein undankbarer, schmutziger und nur durchschnittlich bezahlter Job gewesen.

    Flemming zog seinen Blazer aus und hing ihn sorgsam an die Garderobe. Gerade als er sein Notebook eingeschaltet hatte, klingelte sein Telefon.

    „Detektei Flemming. Jeff Flemming am Apparat."

    „Nicht so förmlich, Detective. Gestern warst du ja auch nicht so verklemmt", lachte Agnes in den Hörer. Flemming freute sich über ihren Anruf.

    „Wie geht es dir und unseren beiden Kindern heute?"

    „Deborah tobt im Garten und der geschlechtslose Punkt in meinem Bauch rückt und rührt sich nicht – wahrscheinlich ein ebenso ruhiger Charakter wie seine Mutter."

    Das erwartete Lachen blieb aus. Flemmings Blick haftete auf einem Familienfoto, das ihn, Agnes und Deborah zeigte. Debbie war noch ein Baby, als das Bild entstanden war. Flemming stellte beunruhigt fest, dass sich inzwischen einige Falten in seinem Gesicht gebildet hatten. Zwar hielt er noch immer das Gewicht wie zum damaligen Zeitpunkt, aber die letzten Jahre hatten doch schleichend ihre untrüglichen Spuren hinterlassen. Ihm war bewusst, dass er für seine zweiundvierzig Jahre als überdurchschnittlich attraktiv galt. Seine ergrauten Schläfen ließen ihn reifer, aber nicht älter wirken. Der üppige Rest seiner Haare hatte noch immer sein natürliches Schwarz erhalten und seine graugrünen Augen strahlten unter dem Scheitel hervor. Häufige Waldläufe hielten seinen trainierten Körper in Form. Die ausgewogene Ernährung trug ihr Übriges dazu bei.

    Agnes war die einzige Person auf dem Foto, der die Zeit nichts anzuhaben schien.

    „Hallo, ist noch jemand am anderen Ende?"

    „Oh, entschuldige. Ich war gerade etwas in Gedanken versunken", antwortete Flemming.

    „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du heute pünktlich nach Hause kommst."

    „Wenn nicht noch irgendein Wirtschaftsverbrecher nach meiner Hilfe verlangt, werde ich um sieben Uhr das Büro schließen. Wie immer."

    „Das ist in fünf Minuten, Darling."

    „In sechs Minuten. In sechs."

    Er legte auf und schaltete das Notebook wieder ab. Das Inserat musste warten. Er schloss die Bürotür und versicherte sich zweifach, dass sie nicht mehr zu öffnen war.

    Der Mittelgang der Tiefgarage wurde durch mehrere Neonröhren beleuchtet. Die Betonsäulen warfen lange Schatten über die hinteren Parkbuchten. Flemming griff in seine Hosentasche, um den Fahrzeugschlüssel herauszuziehen. Plötzlich sah er im Halbdunkel eine Gestalt an seinem MG lehnen. Es war ihm auf eine Entfernung von etwa acht Metern nicht möglich, mehr als nur deren Konturen zu erkennen. Flemming näherte sich und stellte seine Aktentasche ab.

    „Entschuldigen Sie. Sie lehnen an meinem Fahrzeug."

    Die Gestalt nickte. Flemmings Finger tasteten nach seiner Beretta 92, einer zuverlässigen und leisen Waffe. Ungebetene Gäste in Tiefgaragen machten ihn skeptisch.

    „Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte er den Fremden in scharfem Ton.

    „Ich denke nicht." Die Stimme des Mannes klang monoton. Er trat einen Schritt aus der Dunkelheit. Flemming schätzte ihn auf etwa 1,70 Meter, also fast einen Kopf kleiner als er selbst. Der Fremde trug gelocktes, blondes Haar, das ungepflegt bis auf seine Schultern hing. Sein schmaler Mund bewegte sich kaum, wenn er sprach. Die ausgeprägten Wangenknochen ließen eine slawische Herkunft vermuten. Er trug eine verwaschene Jeanshose und einen zugeknöpften Mantel mit Fellbesatz. Was Flemming jedoch am meisten auffiel, waren die stahlblauen Augen, deren Blick sich direkt in seinen Kopf zu bohren schien.

    „Haben Sie auf mich gewartet?", fragte Flemming, noch immer bereit, im Notfall seine Waffe zu ziehen und sich zu verteidigen.

    „In gewisser Weise habe ich das. Ja, ich glaube schon, dass ich auf Sie gewartet habe."

    „Und warum?"

    Ein Lächeln bildete sich um die Mundwinkel des Fremden. „Sie können die Hand von der Waffe nehmen, Sir. Sie werden sie nicht brauchen."

    Flemming ließ sich nicht beirren und beließ seine Hand dort, wo sie war. „Was wollen Sie von mir, Mister?"

    „Nennen Sie mich Soule. Alle nennen mich so."

    „Okay, Soule, was wollen Sie?"

    „Sie brauchen einen Partner. Und wenn nicht jetzt, dann sehr bald."

    Verblüfft starrte Flemming ihn an. „Ich brauche einen Angestellten, keinen Partner. Und was haben Sie damit zu tun?"

    „Sie werden mich brauchen." Soule steckte sich eine Zigarette an.

    Flemming lachte überheblich, bevor er antwortete: „Sie besitzen ja ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Was führt Sie zu der Annahme, dass ich Hilfe bräuchte? Und dann gerade auch noch sie?"

    „Sie werden mich brauchen."

    „Haben Sie denn Erfahrung aus dem Polizeibereich?"

    „Nein."

    „Haben Sie bereits in einer Detektei gearbeitet?"

    „Nein."

    „Wie also könnten gerade Sie mir helfen?"

    „Weil viel geschehen wird. Sehr viel."

    Flemming schüttelte abfällig den Kopf: „Sie sind ein komischer Kauz, Soule."

    Er nickte: „Überrascht mich nicht, dass Sie so denken, Mister ..."

    „Mein Name ist Flemming."

    „Ich weiß."

    Flemming schob sich an Soule vorbei zu seinem Wagen. Noch einmal drehte er sich um und betrachtete ihn eingehend.

    „Wissen Sie, Soule, Sie mögen ja ein netter Kerl sein, aber ich kann Sie nicht brauchen. Es gibt zu viel, was ich Ihnen

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