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Tod in Montmartre: Ein Fall für Claude Bocquillon
Tod in Montmartre: Ein Fall für Claude Bocquillon
Tod in Montmartre: Ein Fall für Claude Bocquillon
eBook365 Seiten5 Stunden

Tod in Montmartre: Ein Fall für Claude Bocquillon

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Über dieses E-Book

Was als romantischer Urlaub beginnt, wird schnell zu einem Albtraum: Privatdetektiv Claude Bocquillon und sein Freund finden eine brutal zugerichtete Frauenleiche im Pariser Montmartre-Viertel. Die Tote ist keine Unbekannte, sondern die lang verschollene Schwester von Bocquillons Freund Lambert. Frustriert über die Unfähigkeit der Polizei, beginnen der Detektiv und Lambert ihre eigenen Ermittlungen. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Die Spur führt ins Rotlicht- und Kunsthändlermilieu. Doch der Fall ist komplizierter als gedacht, und die Suche nach dem wahren Täter bringt Bocquillon selbst in Lebensgefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum27. Juni 2015
ISBN9783867878845
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    Buchvorschau

    Tod in Montmartre - Laurent Bach

    KAPITEL 1

    KAPITEL 1

    Das Mondlicht streifte die mattweiße Kuppel der Sacre Coeur und war im nächsten Moment wieder hinter schweren Regenwolken verschwunden. Trotzdem, das Blut auf dem Pflaster der Treppenstufen war gut zu erkennen gewesen. Er nickte. Sollte sie nur zu entkommen versuchen, es würde ihr nicht gelingen. Er hielt die Luft an, lauschte – die Geräusche der Nacht, das Summen des nächtlichen Verkehrs auf dem Boulevard Clichy, und dann konnte er sie deutlich hören, panisches Japsen, hastige Schritte, hoch zum Montmartre. Sie wimmerte, fast mitleiderregend, doch er musste es jetzt zu Ende bringen. Mit schnellen Schritten nahm er die Stufen, die schmale Seitentreppe zur Sacre Coeur war noch feucht, Regenwasser tropfte von den Büschen. Immer höher ging es hinauf, nur weiter, er musste sie bald erreicht haben. Jagdfieber packte ihn. Er blähte die Nasenflügel, wie ein Hund, der seine Beute hetzt. Sie würde nicht lange durchhalten, die Wunde an ihrem Bauch war zu tief, schließlich hatte er mit voller Kraft zugestoßen. Später würde er das Messer suchen müssen, das sie ihm aus der Hand geschlagen hatte. Er entdeckte ein abgebrochenes Stück Kantstein, ohne nachzudenken packte er es, wog es in der Hand, dann weiter nach oben, bis sich die Kirche in all ihrer Pracht vor ihm erhob. Die bronzene Jeanne d’Arc auf dem Vorbau streckte gebieterisch den Arm in den dunklen Himmel, zu ihren Füßen dehnte sich das glitzernde Paris.

    Erleichtert stellte er fest, dass niemand zu sehen war, der Regen hatte die Touristen verscheucht. Da – dort war sie. Sie lief, blieb mit dem Absatz in einer Lücke zwischen den Pflastersteinen stecken, knickte um, befreite sich wieder. Dann stand sie im Schatten des Portikus und hielt sich den Bauch. Er leckte sich die Lippen, umklammerte den Stein. Das hatte sie nun davon, von ihrer Naivität, ihrer Impulsivität. Sie schaute auf ihre Hand hinab, hob plötzlich den Kopf. Sie musste sein Keuchen gehört haben. Er kam mit langen Schritten auf sie zu, energisch, siegesgewiss. Sie hatte sich wichtig machen wollen. Er hatte sie eigentlich ganz gern gemocht, aber eine wie sie würde er immer finden. Sie hatte sich ihm in den Weg gestellt, dafür musste sie büßen.

    Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm hinüber, sie wusste, was nun kommen würde. Hatte sie tatsächlich geglaubt, ihm entkommen zu können? Sie stieß sich von der Wand ab, humpelte weiter, seitlich an der hell angestrahlten Kirche vorbei. Sie würde es nicht schaffen. Er fixierte sie. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die braunen Fensterläden in Richtung Place du Tertre geschlossen waren. Das Glück war mit ihm. Er folgte ihr in Richtung Square Blanchet. Wollte sie sich etwa zwischen den Büschen und Sträuchern verkriechen? Schnell jetzt! Schon hatte sie die Mauer des Parks erreicht, das Tor gab nach, sie hastete hindurch und drückte es hinter sich ins Schloss. Fast hätte er laut aufgelacht. Als könnte ihn das aufhalten! Er rannte los, damit ihr keine Zeit blieb, im Dunkel zu verschwinden. Immer näher kam er, sie war stehen geblieben, steif vor Angst. Adrenalin pulste durch seine Adern. Kurz streifte sein Blick vier glühende Punkte am Boden – Katzen, dann prallte er mit einem dumpfen Schlag gegen die Stangen, das Tor schnellte zurück. Sie schrie auf, hielt sich die Hände vors Gesicht, drehte sich halb zu ihm. Doch da war er schon über ihr. Er holte aus, traf ihren Kopf mit voller Wucht, ein knirschendes Geräusch, er fühlte Übelkeit aufsteigen. Sie sackte zusammen, sank auf die Knie. Jetzt, in dem Augenblick, in dem sie starb, war sie ihm doch noch entkommen. In ihrem Blick lag Erstaunen, als hätte sie eine Erscheinung. Blöde Kuh. Sie sollte doch spüren, wie er es ihr besorgte. Immer wieder schlug er der Knienden auf den Schädel, die Haare färbten sich mit ihrem Blut. Ihr Blick zeigte ihm, dass sie nichts mehr wahrnahm, dass sie sich den Bildern in ihrem Kopf überlassen hatte. Er trat ihr gegen die Brust, sie kippte nach hinten und blieb mit verrenkten Gliedern auf dem Boden liegen. Sollte sie doch an ihren Visionen krepieren. Ihre Lippen bewegten sich. Er beugte sich zu ihr hinunter, der Anblick war schrecklich, doch sie flüsterte etwas – er verstand nur »Fredy«. Wer sollte das sein? Endlich erlosch ihr Blick, sie wurde schlaff, ein Bündel Lumpen. Sein Herz raste, er spürte kalten Schweiß auf Rücken und Brust. Er hatte noch nie jemanden getötet und war erleichtert, dass es endlich vorbei war. Er schaute sich um. Hier lag die Leiche wie auf einem Präsentierteller. Die Katzen sprangen beiseite, als er sich bückte und die Tote unter den Achseln packte.

    * * *

    Claude war aufgekratzt, euphorisch. Paris, die Stadt der Liebe – und er mittendrin, mit Julien. Sie gingen zügig, Hand in Hand. Ganz geheuer war es ihm nicht auf den leeren Straßen, doch jetzt zeigte sich die Morgendämmerung als rötlicher, staubiger Schleier, sein Unbehagen verflog. Ihm schwindelte, rasch hielt er sich an Julien fest.

    »Merde, was war bloß in diesem Drink?«

    Julien hakte sich bei ihm unter. »Du verträgst eben nichts, du Landei. Kennst ja nur Lucas’ Bier und den Landwein deiner Mutter.«

    »Klar, und du erkennst den Cocktail natürlich schon am Schütteln des Barmanns, was?«

    »Eher am Geräusch im Shaker.«

    Sie gingen im Gleichschritt, waren auf dem Heimweg ins Hotel, nachdem sie sich in einer Bar im Marais mit einem netten schwulen Paar verplaudert hatten. Das hieß, eigentlich hatte er den Großteil der Unterhaltung bestritten, Julien hatte sich ziemlich zurückgehalten. Er hatte schon nachmittags merkwürdig abwesend und nachdenklich gewirkt. Aber gut, sie hatten ja auch einen langen Tag und eine lustige Nacht hinter sich. Und auch die Nacht davor war ziemlich intensiv gewesen, nicht nur, weil die Umgebung, die Stadtluft, das Hotel, das Bett so neu und ungewohnt waren. Als er Juliens Zucken spürte, stieg Vorfreude in ihm auf. Julien war so niedlich, wenn er seinen Schluckauf bekam. Nur noch einen halben Kilometer Fußmarsch – sie waren an der falschen Metro-Station ausgestiegen – dann würden sie zusammen ins Bett fallen und ... Scheißegal, ob Julien müde war oder nicht, er brauchte ja nur stillzuhalten. Er grinste. Paris – die Stadt der Liebe. Enger noch drückte er sich an Juliens warmen Körper, der Maimorgen war frisch. Rötliche Streifen schoben sich in den Himmel. Eine Kirchenuhr schlug sechsmal, dann stimmte eine weitere Glocke ein. Die Luft war rein und klar, die Stadt begann zu erwachen. Ein Auto ratterte über das Kopfsteinpflaster. Nun hatten sie die Treppe zur Sacre Coeur erreicht, deren Mauern bereits im Morgenlicht strahlten. Die Funiculaire lag noch still am Fuß des Hügels, die Blumen in den Beeten, die sich beiderseits der Treppe den Hügel hinaufzogen, trugen glitzernde Tautröpfchen.

    »Ist das nicht wunderschön, wenn alles noch so frisch und sauber ist?«

    Doch Julien verdrehte die Augen und seufzte. »Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Romantiker.«

    Wenn es wirklich Romantik war, war sie nach diesen Worten verflogen. Verärgert ging er weiter. Die wundervolle Stimmung war dahin.

    »Julien, jetzt lass mich doch ... «

    Sein Freund hielt inne, den Kopf gesenkt, und das war auch gut so. Sollte er sich ruhig eingestehen, was für ein Miesepeter er war.

    »Was ist denn los mit dir?« Claude legte ihm die Hand auf die Brust. Julien schaute auf, seine braunen Augen blickten ernst.

    »Was soll schon los sein? Ich bin einfach müde. Du nicht?« Er drehte sich weg, wollte weiter. Claude hielt ihn am Sakko fest.

    »Hör doch auf. Seit dem Nachmittag bist du stumm wie ein Fisch, seit diesem Anruf. Hast du Geld unterschlagen? Insidergeschäfte gemacht? Was wollte dein Chef denn von dir?«

    Julien riss sich los, ging zur Treppe hinüber und machte sich an den Aufstieg.

    »Du willst doch jetzt nicht über meine Arbeit reden, oder? Wir sind im Urlaub, Mann.«

    »Dann verhalte dich bitte auch so.« Claude folgte ihm. Über ihnen erhob sich in wuchtiger Anmut die Kirche. Selten hatte er ein so kitschiges und gleichzeitig so wunderschönes Bauwerk gesehen. Wie der Taj Mahal. Eine unbestimmte Angst riss ihn aus seinen Gedanken. Sie waren doch erst vorgestern angekommen – und schon war irgendwie der Wurm drin. War ihr lang geplanter Urlaub zum Scheitern verurteilt, noch bevor er so richtig begonnen hatte?

    »Warum willst du denn da hoch, Julien? Es ist doch einfacher, wir laufen die Straße runter, als jetzt noch diesen Hügel rauf.«

    »Wir setzen uns oben hin und genießen die Aussicht.« Julien war ziemlich ins Schnaufen gekommen. Das kam davon, wenn man immer nur am Schreibtisch saß und auf seinen Monitor mit den Aktienkursen starrte. Zum Glück hatte Julien noch keinen Bauchspeck angesetzt, sein Körper war noch genauso perfekt wie vor einem Jahr, als er aus den Fluten des Flusses plötzlich vor Claude aufgetaucht war. Sein Anblick hatte Claude umgehauen. Julien wartete auf ihn, die Hand ausgestreckt. Gemeinsam erklommen sie Stufe für Stufe der schier endlosen Treppe. Doch nicht nur deshalb klopfte Claudes Herz. Würde Julien jetzt endlich reden oder wollte er wirklich nur die Aussicht genießen? Als die Strapazen ein Ende hatten und sie oben angekommen waren, starrte Julien stumm auf die Bronzefiguren vor der Kirche.

    »Es geht um uns«, sagte er schließlich, in einem Tonfall, der Claude eine Gänsehaut bescherte. Was sollte man dazu sagen?

    »Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht«, fügte Julien hinzu.

    Ein Kloß stieg in Claudes Hals. »Jetzt hör auf, in Rätseln zu sprechen«, sagte er und räusperte sich.

    Julien starrte immer noch ins Leere, sodass Claude sein Profil betrachten konnte. Dann drehte er sich um und schaute hinunter auf Paris. Claude tat es ihm gleich. Die verschachtelten Flächen der Stadt wurden vom Licht ausgemalt. Am Horizont tauchte La Defense aus dem Dunst auf. Die Dächer des Gare du Nord glänzten und der Tour Montparnasse stand wie ein Phallus über dem Bauch der Stadt. Doch der umwerfende Anblick ließ ihn kalt. Seine Gedanken rasten.

    Es ging also um sie beide. Doch was hatte das mit Juliens Arbeit zu tun? Bisher war ihre Wochenendbeziehung doch ganz gut gelaufen.

    »Was hat dein Chef denn mit uns zu schaffen? Jetzt sag doch bitte was«, sagte er leise. Doch er war kurz vorm Platzen. Julien atmete tief ein. Als er sich dann über die Lippen leckte, konnte Claude konnte nicht anders, er musste einfach hinstarren.

    »Man hat mir angeboten, nach Genf zu gehen.«

    Claude blinzelte und schüttelte den Kopf. »Ist doch kein Problem. Und wann kommst du zurück?«

    Julien schaute auf die Straßen, die den Hügel hinab verliefen. Hier und da traten Menschen aus Türen, auf dem Weg zur Arbeit, zur Metro.

    »Ich werde nicht zurückkommen, Claude.«

    Sein Gesicht machte sich selbständig, es entglitt seiner Kontrolle und verzog sich vor Schmerzen. Ihm wurde kalt, schützend verschränkte er die Arme vor der Brust. Hatte er richtig gehört?

    »Wie bitte? Was jetzt?« Das konnte doch alles nicht wahr sein. Julien gehörte in den Süden, so wie er. »Ein Lehrgang oder sowas?«

    Da lächelte Julien und sah ihn an.

    »Nein. Für länger. Ich soll im Mutterhaus die Börsenkunden betreuen. Eine unglaubliche Chance für einen Frischling wie mich.«

    Claudes Knie gaben nach, er musste sich setzen, landete auf der obersten Treppenstufe. Julien hockte sich schweigend neben ihn. In Claudes Kopf tobte ein Sturm. Er verstand nichts, konnte nicht klar denken. Julien würde fortgehen, doch was das für sie beide bedeutete, konnte und wollte er sich nicht vorstellen.

    »Du wirst also an den Wochenenden nicht mehr zu mir kommen? Oder ich zu dir?«

    »Claude, hör zu ... «

    »Du willst Schluss machen? Einfach so, nach dieser tollen Zeit? Na ja, für dich war’s dann wohl nicht toll genug.«

    Die Sorge trieb ihn wieder auf die Beine. Er stand auf und lief unruhig hin und her.

    Julien erhob sich ebenfalls, griff nach seinem Arm, was Claude in Panik versetzte. Würde dies dann eine seiner letzten Berührungen gewesen sein? Einer seiner letzten Blicke?

    »Das wird sich zeitlich nicht immer einrichten lassen. Das war doch auch so schon schwierig, selbst von Nîmes aus. Wir würden uns sowieso auseinanderleben. Und das kann doch nicht Sinn der Sache sein, oder?«

    Dass Julien so ruhig und gefasst darüber sprechen konnte, gab ihm einen Stich. Doch Julien hatte ja auch genug Zeit gehabt, um über alles nachzudenken. Und hatte seine Entscheidung, wie es schien, längst getroffen. Wie lang das wohl schon so ging?

    »Hast du dich auf die Stelle beworben?« – und ohne mir Bescheid zu sagen?

    Julien nickte. »Anfangs nur so zum Spaß. Man muss ja hin und wieder seinen Marktwert testen.«

    »So, muss man das?«

    »Du kannst das natürlich nicht verstehen, du hast ja keinen Marktwert.«

    Claude starrte ihn an.

    »Also irgendwie jedenfalls. Du bist ja einzigartig in Anduze ... «, fuhr Julien fort, etwas versöhnlicher, doch seine Worte trafen Claude mitten ins Herz. Wieder lief er unruhig hin und her.

    »Was ich allerdings ganz gut verstehe, ist, dass Beziehungen für dich zweitrangig sind, sobald die Karriere ruft. Wirklich toll. Dein Marktwert ist dir also wichtiger als dein Freund. Weißt du was, Julien? Du kannst mich mal.«

    Er drehte sich weg und lief über den Vorplatz der Kirche. Nur weg von hier, von der Aussicht auf den einsamen Alltag in einer miefigen Kleinstadt. Genf – ja, Genf war natürlich der Nabel der Welt. Er schluckte seine Wut hinunter. Julien folgte ihm in einigem Abstand, Claude konnte seine Schritte hinter sich hören.

    »Claude, ich habe mich doch noch gar nicht entschieden. Es ist doch noch alles offen. Was soll ich denn machen?«

    »Lass mich mal überlegen – vielleicht vorher mit mir darüber reden?«

    Er stapfte weiter. In der Nähe sah er das geöffnete Tor eines kleinen Parks. Ein Parkpfleger leerte gerade die Mülleimer.

    »Ja, das hätte ich wohl tun sollen. Es tut mir leid.«

    Claude betrat den Park. Auf der Rasenfläche glitzerte Tau, geschotterte Wege verliefen entlang ordentlich gestutzter Hecken. Obwohl die Bank noch feucht aussah, setzte er sich hin. Seine Wut nützte nichts und würde nichts ändern. Er fühlte sich wie ausgekotzt und wollte nur noch schlafen. Und nie wieder aufwachen. Paris – Stadt des Grauens. In einer fremden, überwältigenden Stadt mit so einer Nachricht zu kommen, das war wirklich die Grenze des Erträglichen. Überall Mauern und Wände, kein Entkommen, kein Versteck. Julien, sein Julien, dieser Mistkerl mit dem dunklen, lockigen Haar und der markanten Nase. Der jetzt neben ihm stand, als hätte er Angst, näherzukommen. Claude stöhnte auf und rieb sich die Stirn.

    »Und du hast mich nicht einmal gefragt, ob ich mitkommen möchte.«

    Da hockte Julien sich vor ihm auf die Fersen und legte ihm die Hände auf die Knie. Es tat Claude fast körperlich weh, in seine traurigen Augen zu blicken.

    »Und? Wärst du denn mit in die Schweiz gekommen?«, fragte Julien.

    »Nein.«

    »Dann weißt du ja auch, warum ich dich erst gar nicht gefragt habe. Dabei wäre das die perfekte Lösung. Na ja, für mich jedenfalls.«

    »Klar, für dich. Und ich ... « Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Ach, ist doch scheißegal. Ich will ins Bett, verdammt.«

    Mit einem Mal sehnte er sich nach seinem eigenen Bett in seiner Wohnung in Anduze. Virenque würde auf seinem Bauch liegen und schnurren. Die Fensterläden wären geöffnet, und er könnte die ganze Nacht die Zikaden singen hören. Und dazu die Melodie dieses alten Kirchenliedes, das die alte Madame Barjac in der Wohnung unter ihm immer summte. Plötzlich fühlte er eine Bewegung an seiner Wade. Ein hoch erhobener Katzenschwanz ragte neben der Bank auf. Ein Grautiger ließ sich auf dem Schotterweg nieder und öffnete das Mäulchen zu einem Gähnen. Wie von selbst streckte Claude die Hand aus. Sofort war die Katze wieder auf den Beinen und kam zu ihm, um sich ihre Streicheleinheit zu holen. Ein paar Schritte weiter saß eine zweite, dreifarbige Katze, und auch die Zweige des Zierstrauchs hinter ihr bewegten sich verdächtig.

    »Pass auf, die sehen ziemlich verwildert aus.«

    »Sind aber sehr zutraulich«, sagte Julien und streichelte den Grautiger. Wie oft hatte Claude Virenque so gestreichelt und beschmust. Die Katzenliebe seines Freundes war mit ein Grund gewesen, dass er sich in Julien verliebt hatte. Und nun würden sie also bald wieder allein sein, Virenque und er. Ob Julien sie wenigstens vermissen würde? Hatte er sie in Nîmes vermisst? Claude wusste von Juliens One-Night-Stands. Na ja, er selbst hatte auch nicht wie ein Mönch gelebt, wenn sie sich mal länger nicht sehen konnten. Trotzdem, die Beziehung zu Julien war etwas Besonderes. Etwas Einmaliges.

    »Die hat gerade was Blutiges gefressen. Das Fell ist ganz fleckig.«

    Claude runzelte die Stirn. »Was die da wohl gefunden hat?« In diesem Moment sprangen die Katzen auf und liefen zurück ins Gebüsch, in dem sich, wie es schien, noch mehr ihrer Artgenossen aufhielten. Claude erhob sich, um nach dem Rechten zu sehen. »Komm, lass sie doch in Ruhe«, hörte er Julien sagen. Doch er war dankbar für die Ablenkung von seinen wirren Gedanken. Er ging aufs Gebüsch zu und schob sich mit hoch erhobenen Armen durch die Zweige. Sofort stoben die Katzen auseinander und gaben den Blick frei auf eine am Boden liegende Gestalt. Im ersten Moment dachte er, dass es sich um einen Obdachlosen handeln müsse, denn unter den Zweigen war von dem dunklen, nassen Etwas nicht viel zu erkennen. Doch dann fielen ihm die Schuhe auf. Lacklederne Schnürsandalen, in denen schlanke, blutbefleckte Füße steckten. Er schob die Blätter zur Seite. Ein seidiges Kleid mit roten und schwarzen Mustern, dann Arme, über der Brust gekreuzt. Da lag eine Frau, lang auf dem Rücken ausgestreckt.

    »Madame!«, rief Claude. Was für ein Quatsch. Was redete er mit einer Toten? Denn tot war sie, da gab es keinen Zweifel. Etwa dreißig Jahre alt. Ihr Körper war schlaff und seltsam verdreht. Was er zuerst für rote Muster auf dem schwarzen Kleid gehalten hatte, waren Blutflecken. Auch ihre Stirn war blutbefleckt, die dunklen Haare verklebt und der Hinterkopf – nein, besser nicht hinsehen, ermahnte er sich. Ihre braunen Augen waren noch offen. Als Claude sich dann doch hinabbeugte, um die Frau näher zu betrachten, zuckte er zusammen.

    »Amélie!«

    Julien drängte sich durch das Gebüsch und stand schließlich hinter ihm. »Was hast du?«

    Claudes Hand zitterte, als er auf die Leiche zeigte. »Das – das ist Amélie!«

    »Blödsinn!« Julien schob ihn rüde zur Seite, sodass er fast gegen die Parkmauer geknallt wäre, die mitten durch das Gebüsch lief. Als Julien die Leiche in Augenschein genommen hatte, drehte er sich zu ihm um – blass und mit schreckgeweiteten Augen.

    »Unglaublich.«

    Gemeinsam betrachteten sie noch einmal die Frau. Die ovale Form ihres Gesichts, die gerade Nase, der kleine und doch volle Mund, die Farbe der Augen, all das ähnelte verblüffend ihrer Anduzer Freundin. Claude fummelte seine Sonnenbrille aus der Jackentasche und kniete sich neben die Tote.

    »Was machst du denn da? Komm da weg, Claude. Ruf die Polizei. Das kann nicht Amélie sein.«

    Julien hatte recht – natürlich war das eine andere Frau. Amélie war etwas zierlicher, kleidete sich gepflegter, hatte eine andere Frisur. Immer wenn er an sie dachte, trat ihm ihr Bild vor Augen: Ihr keckes Gesicht mit den kurzen, braunen Haaren, wie sie an ihrer Töpferscheibe saß und ihre Keramiken herstellte, für die nächste Touristensaison in Anduze.

    »Warte. Sieh doch.«

    Claude schob, obwohl ihm nicht ganz wohl dabei war, seine Sonnenbrille ins halblange Haar der Toten, so wie Amélie es immer tat. Er versuchte, den Anblick des eingeschlagenen Schädels auszublenden. Die Gläser verdeckten halb das blutige Haar. Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen. So, mit Brille im Haar, war sie fast Amélies Ebenbild. Er nahm die Brille wieder an sich.

    Die Erkenntnis kam ihm, als er an die Polizei dachte. Er zuckte zusammen, seine Handflächen wurden feucht. »Weißt du, wer das ist?«

    »Wie sollte ich? Jedenfalls nicht Amélie. Aber die Ähnlichkeit ist schon unglaublich.«

    »Das ist Francine.«

    Er brauchte die Richtigkeit seiner Vermutung nicht lange zu hinterfragen. Das stand fest, definitiv, Irrtum ausgeschlossen. Aussehen und Alter passten, sein gesamtes Inneres schrie ihm zu: Du hast sie gefunden. Claude wurde heiß, wahrscheinlich bildeten sich unter seinen Achseln schon Schweißflecken. Hektisch griff er in seine Jackentasche.

    »Francine? Frederics Schwester? Die damals verschwunden ist?«

    Claude holte das Handy aus der Tasche und nickte. »Genau, Francine. Weißt du nicht mehr? Frederic hat sich doch in Amélie verknallt, weil sie seiner Schwester so auffallend ähnlich sah.« Frederic Lambert hatte viele Jahre nach seiner vermissten Schwester gesucht, war nicht zuletzt deswegen als junger Mann zur Kriminalpolizei gegangen. Claude war ihm dann auf der Polizeischule über den Weg gelaufen, und Frederic hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn wegen seiner Homosexualität zu mobben. Claude hatte ihn nicht gerade in bester Erinnerung gehabt – bis vor einem Jahr, als sie dann gemeinsam einen Fall gelöst hatten und fast so etwas wie Freunde geworden waren. Eine unausgesprochene Freundschaft, die Frederic, diesen Blödmann, allerdings nicht daran gehindert hatte, Claude in ihrem zweiten Fall als Verdächtigen quer durch die Gegend zu jagen. Und Amélie? Die hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich in Frederic zu verlieben, mit seiner Bodyguard-Figur, dem kantigen Kinn und den kurz rasierten Haaren. Eigentlich war das ganz praktisch gewesen, denn Amélie hatte sich heimlich immer Hoffnungen auf Claude gemacht. Und mit Frauen, selbst den nettesten, konnte er einfach nichts anfangen.

    »Wen rufst du denn an?«

    Claude lauschte auf die Wahlgeräusche des Telefons.

    »Frederic natürlich.«

    Da riss Julien ihm das Gerät aus der Hand. »Du spinnst wohl. Du hast doch überhaupt keine Beweise. Das kann sonst wer sein.«

    »Ich bin mir hundertprozentig sicher.«

    »Ja, klar, du Super-Spürnase. Du und dein untrüglicher Instinkt.« Julien schnaufte und wandte sich kopfschüttelnd ab, als Claude auf seinem Smartphone erneut die Nummer von Frederic Lambert eintippte, dem Kommissar der Kriminalpolizei von Nîmes. Sollte Julien doch spotten – er würde sich ja sowieso bald vom Acker machen, auf Nimmerwiedersehen. Seine Lippen zitterten, er suchte nach Worten, mit denen er Lambert die traurige Nachricht überbringen konnte. Aber gab es für sowas überhaupt die richtigen Worte?

    Eine heisere Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, doch die Stimme kam nicht aus dem Telefon.

    »He, was soll das, was machen Sie denn da? Raus aus den Büschen, aber ein bisschen plötzlich! Ihre perversen Spiele können Sie woanders treiben, hier kommen gleich Schulkinder!«

    Claude verdrehte die Augen, drückte auf das Symbol mit dem roten Hörer und schob die Zweige der Büsche beiseite, damit sie wieder hinaus auf den Rasen treten konnten. Frederic würde sowieso noch schlafen.

    »Was glauben Sie denn, was wir hier machen?«, rief er dem Parkpfleger zu, der sich mit aufgerichtetem Spieß vor ihnen aufgebaut hatte. Das Wägelchen mit seinen Gerätschaften stand auf dem Schotterweg.

    »Na, ist doch klar. Der da kniet sich vor Ihnen hin und dann verziehen sie sich zusammen ins Gebüsch. Soll ich deutlicher werden?« Der graue Schnurrbart des Mannes zitterte vor Empörung. »Und die Kinder ...«

    »So? Fallen die tot um, wenn sie das hier sehen?«

    Claude riss Julien am Revers zu sich heran und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Überrascht gab Julien nach, guckte zuerst etwas verblüfft, legte dann aber die Nase an Claudes Wange und strich ihm über den Nacken, ein wundervolles Gefühl, das Claude ein Kribbeln in den Unterleib sandte. Seine Hände wanderten hinab zu Juliens Hosenbund. Vielleicht sollten die Kinder doch besser einen anderen Weg nehmen. Wer weiß, wie oft Julien ihn noch so berühren würde.

    »Ich rufe jetzt die Polizei! Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses!« Der Mann zog ein altertümliches Handy aus der Tasche seines Blaumanns.

    Da drehte Julien sich zu ihm um und sagte: »Ja, tun Sie das bitte. Hier liegt eine Leiche. Wir haben sie gefunden.«

    Claude seufzte. Julien war definitiv ein Stimmungskiller. Doch dann riss er sich zusammen. Ein bisschen mehr Ernst. Er konnte ja schlecht Julien abschlabbern, während sie über die Beine einer Leiche stolperten. Er blickte in ihre Richtung. Niemand hatte sie beschützt, sie war in die Falle gegangen. Niemand verdiente es, so zu sterben. Und schon gar nicht Francine. Wer wusste schon, was sie seit ihrem Verschwinden hatte durchmachen müssen.

    »Was?« Die Stimme des Parkpflegers kippte. Er eilte zu ihnen, linste durch die Büsche und hielt sich die Hände vor Mund und Nase, als würde Francine schon riechen. Dann wich er zurück, schüttelte den Kopf. »Mon Dieu, mon Dieu!«

    Mit einem Mal riss er die Augen auf und starrte ihn und Julien an, sein Kopf wanderte hin und her. Claude wusste genau, was in ihm vorging. Er hob die Hand.

    »Wir haben sie bloß gefunden, nicht umgebracht. Wir sind eben erst in den Park gekommen, und Sie haben uns doch keine Sekunde aus den Augen gelassen, oder irre ich mich?«

    Der Mann atmete auf. »Ja, stimmt. Sie sind eben erst rein. Zut, was für eine Scheiße. Ich ruf die Flics.« Er hob warnend seinen Zeigefinger. »Aber Sie bleiben hier, laufen Sie mir bloß nicht weg! Das war Erregung öffentlichen Ärgernisses.«

    Claude wandte sich ab und wollte zurück ins Gebüsch. »Bleib doch hier, du verwischst doch nur die Spuren«, sagte Julien. Der Mann hatte endlich die Polizei erreicht und begann nun, die Sachlage zu erklären.

    »Warte«, flüsterte Claude und holte wieder sein Handy hervor. Er drängte sich durch die Büsche und richtete es auf die Tote, hielt jedoch Abstand und zoomte den Kopf der Frau heran. Nein, das konnte er Frederic nicht antun. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose, befeuchtete es mit Spucke und versuchte, die Blutflecken auf ihrer rechten Wange zu entfernen, bevor er endlich auf den Auslöser drückte. Er würde der Polizei erklären müssen, was seine DNA an der Toten zu suchen hatte, doch das war ihm jetzt egal. Er kehrte zu Julien zurück und betrachtete das Bild auf dem Display. Ob er Frederic dieses Foto senden konnte? War es nicht zu schrecklich, ihn auf diese Art mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren?

    »Du willst ihm doch nicht etwa das Foto schicken?«, fragte Julien sichtlich

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