Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Verhängnisvolles Testament
Verhängnisvolles Testament
Verhängnisvolles Testament
eBook298 Seiten4 Stunden

Verhängnisvolles Testament

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das Testament schlägt im Dorf ein, wie eine Bombe. Zwanzig Millionen Euro für die dreihundertköpfige Bevölkerung. Fast ein Sechser im Lotto, wenn da nicht die Bedingung wäre:
Innerhalb eines halben Jahres muss ein Verbrechen aufgeklärt werden, das vor fünfzig Jahren geschah. Der Erblasser nennt es "Das Spiel". Während des Spiels werden Beteiligte ermordet. Wen wundert es, dass es im Dorf drüber und drunter geht?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Dez. 2014
ISBN9783738004977
Verhängnisvolles Testament

Mehr von Herbert Weyand lesen

Ähnlich wie Verhängnisvolles Testament

Titel in dieser Serie (4)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Verhängnisvolles Testament

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Verhängnisvolles Testament - Herbert Weyand

    Kapitel 1 (Juni)

    Das Dorf Grotenrath gibt es wirklich. Die Personen und Handlungen entspringen der Fantasie, es sei denn, das Einverständnis der Figuren, die in der Gegenwart wahrhaftig existieren, liegt vor.

    Die Handlungen basieren auf Zeitungsberichten, Erzählungen, Klatsch, Gerüchten etc. und wurden kreativ weitergesponnen.

    Natürlich gibt es in diesem Dorf nicht so viele böse Einwohner. Sie sind im Grunde normale Bürger ... jedoch ein wenig eigen. Die Menschen, die Landschaft und die Umgebung inspirieren zu spannenden Geschichten.

    Herbert Weyand

    Verhängnisvolles

    Testament

    Mörderkreuz

    Kriminalroman

    Sie fanden den Toten in den frühen Abendstunden. Rainer Sauber erreichte das sechsundfünfzigste Lebensjahr nicht mehr. Es war einfach absurd. Er trug die grüne Schützenuniformjacke, auf deren linker Brustseite die Orden eines bewegten Schützenlebens prangten. Mehr als fünfundzwanzig Jahre Mitgliedschaft und weniger als vierzig Jahre. Das konnte wer auch immer an den Blechplaketten ablesen. Zweimal König, und zwar 1995 und 2002. Er lehnte auf der Bank, die vor der Obstwiese stand. Jeder, der ihn dort sah, dachte, er schliefe. Der Schützenhut mit der Feder saß keck in die Stirn gezogen und verdeckte die Augenpartie. Das täuschte keineswegs über den roten Fleck hinweg, der sich auf dem blütenweisen Hemd, entlang des Revers der Jacke zeigte und unter der Krawatte verschwand. Das winzige Loch, unterhalb des Verdienstordens, konnte wohl nicht für den Tod verantwortlich sein. Oder doch?

    Sauber saß in Onkel Willis Hütte. Ein schlichter Verschlag, den vor Jahren Nachbarn zum siebzigsten Geburtstag für das Original des Dorfes fertigten. Eine kleine Plakette auf der Bank zeugte davon. Das Holz des Überbaus troff vor Feuchtigkeit. Denn der Mai dieses Jahr zeigte keinesfalls ein sommerliches Gesicht. Seit Tagen drückte feuchte kalte Luft auf das Gemüt und tief hängende Wolken waberten neblig über der Landschaft.

    Heute fand das Schützenfest statt. Im vergangenen September wurde eine, fünfzig mal fünfzig Zentimeter messende, Holzscheibe zu einem Vogelmotiv zurechtgeschnitten und mit Farbe bemalt. Das Holz musste trocken, jedoch nicht zu trocken sein und eine Stärke besitzen, sodass es mindesten einhundert Schuss, aus einem Kleinkalibergewehr, standhielt. Achtundvierzig Schützen wollten wenigstens zweimal auf die Scheibe schießen. Falls sie auf den Holzvogel schossen … denn sollte er fallen, wurde der Schütze König. Für ein Jahr König. Eine archaische Tradition, die womöglich aus der Steinzeit stammte. Die Neandertaler entdeckten, dass der Mann zu Mann Kampf wertvolle Krieger kostete. Sie fassten den Entschluss, Steine zu werfen. Wer am weitesten warf, wurde Häuptling. Deshalb Steinzeit. Das war heute nicht anders. Nur wurden die dicken Steine, sinnbildlich, durch kleine ersetzt. Wer genügend Kies besaß, konnte es sich leisten, nicht daneben zu schießen und wurde Häuptling. Zu Ehren dieses Stammesführers fand an diesem Wochenende das Fest statt.

    Aber gerade heute lief alles aus dem Ruder. Es fing blöd an.

    »Scheiße«, tönte es von der Hecke hinter dem Zelt. »Verdammte Scheiße.«

    »Was ist?«, rief Franz Schröder, der an einem Pflock des Zeltes hantierte.

    »Scheiße«, schrillte die Stimme. Aber so verzweifelt, dass er nachsehen ging. »Was ist los?«

    »Boah«, Gerd Klammer presste die Hände in den Schritt. »Irgendein Idiot hat einen Weidezaun in die Hecke gelegt und ich habe darauf gepisst.«

    »Autsch«, meinte Franz. »Das tut weh.« Er spürte, wie seine Hoden krampften. Ein elektrischer Schlag auf die Teilchen war alles andere, als angenehm.

    »Wenn ich den kriege, nagele ich seinen Schwanz auf den Boden«, brachte Gerd gepresst vor. Er nahm eine Hand von der Schamgegend und wischte die Tränen aus den Augen. »Es geht wieder«, murmelte er kläglich. Die andere Hand verschloss den Reißverschluss der Hose. »Ich geh zur Toilette.« Er schlich, die Oberschenkel weit auseinandergedrückt, um das Zelt herum.

    »Haste endlich einen hochgekriegt«, rief jemand, den er nicht ausmachen konnte.

    »Noch ein Wort und ich dreh dir den Hals herum.« Wer den Schaden hatte, brauchte für den Spott nicht zu sorgen.

    Klammer humpelte um das Torhaus herum und betrat die Toilette. Er sah auf einen Mann und eine Frau, die gespannt den Bildschirm eines iPad beobachteten. »Und was Neues«, fragte er. Beide schüttelten unisono den Kopf. Er trat an das Urinal und erleichterte sich. Der Schmerz des Stromschlags ließ fast sofort nach. Er kramte die Teilchen und wandte sich um, während er den Reißverschluss der Hose hochzog. »Bleibt am Ball«, meinte er und trat durch die Tür nach draußen.

    »Hände waschen, du Sau«, rief die Frau hinter ihm her. Er winkte ab.

    *

    Kapitel 2 (Mai/Dezember)

    Werner Böttcher zog fröstelnd die Jacke um den Körper. Die Eisheiligen machten ihrem Namen alle Ehre. Der gesamte Mai war beschissen kalt. Geranien und Begonien kümmerten vor sich hin. Aber die sollten sowieso erst ab dem Fünfzehnten nach draußen. Er sah zu den Heidbäumen hinaus. Je nachdem, wie die Wolken über den Bäumen zogen, konnte er ziemlich genau das Wetter für den Tag voraussagen. Er trat an den Rand der Terrasse und zündete eine Zigarette an. Bis vor wenigen Wochen rauchte er noch drinnen. Doch seitdem der Arzt seiner Frau die chronische Bronchitis attestierte, verzog er sich nach draußen. Werners Figur verschmolz mit der grauen Hauswand. Dafür sorgte die drei Viertel lange Jacke, deren Farbe mit dem Hintergrund verschmolz. Werner Böttcher war normaler Durchschnitt. Er sah weder gut noch schlecht aus. Das Auffallendste an ihm waren die grünen Augen, die er oft zusammenkniff. Insbesondere, wenn er etwas durchsetzen wollte. Mit Leib und Seele stand er der Schützenbruderschaft vor. Der Verein fraß die gesamte Freizeit, insbesondere seit der Sache mit dem beknackten Testament.

    Zusätzlich liefen seit Tagen, nein seit Wochen, die Vorbereitungen für die Frühjahrskirmes. In einer Zeit, wo die katholische Kirche, die Kirche insgesamt, in der Kritik stand, wurde es immer schwieriger dem christlichen Anspruch an ein solches Fest, gerecht zu werden. Hinzu kam die Vereinsmüdigkeit. Hinzu kam auch eine Spannung, die über dem Dorf lag und nichts mit dem Fest zu tun hatte.

    Der Brief kam um die Weihnachtszeit des vergangenen Jahres und er dachte an einen Scherz. Die Schützen wurden Testamentsvollstrecker eines Witzboldes. Dazu wurde der Vereinsvorsitzende, als Vertreter der Schützen, von einem Düsseldorfer Notar zu der Testamentseröffnung gebeten. Das Anschreiben verlangte absolute Diskretion, weil diese Auflage vom Nachlasspfleger verlangt wurde. Der Rückruf ergab, dass tatsächlich jemand, in seinem Letzten Willen, die Schützen bedachte. Aber Verschwiegenheit … wie sollte er das machen?

    Die Vorstandsversammlung, die er einberief, schlug hohe Wellen. Unmöglich, dass der Vorsitzende den Termin alleine wahrnahm. Dafür war das Misstrauen zu groß, er könne sich selbst bereichern. Alle Versuche die Mannschaft klein zu halten, schlugen fehl. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde für Mittwoch zwischen den Feiertagen ein Kleinbus gemietet. Der gesamte Vorstand, sage und schreibe sechzehn Mitglieder, begab sich in erwartungsvollem Optimismus auf den Weg nach Düsseldorf. Die Anspannung, unter der sie standen, lag auf ihren Gesichtern. Niemand besaß das kleinste Zipfelchen Ahnung, wer wohl der Gönner war. Sie gingen wieder und wieder die Verstorbenen der letzten Monate und Jahre durch. Doch da war nichts, zumindest nicht für die Bruderschaft. Der Nachlass von denen ging an die Familien.

    Nach gut einer Stunde drängelten sie im Vorraum des Notariats.

    »Wer ist der Vorsitzende?«, fragte die junge Frau aus dem abgeteilten Bereich heraus. Fünf Schreibtische wurden durch einen Tresen von dem Vorraum abgetrennt. »Den stellvertretenden Vorsitzenden und den Kassierer benötige ich auch.«

    Werner Böttcher und die beiden Kollegen traten vor. Sie nannten ihre Namen. Die Notariatsgehilfin bat um die Ausweise und verglich die Daten mit dem Vereinsregisterauszug, der ihr vorlag. »Die Personalausweise bekommen Sie gleich von Herrn Brück zurück.« Sie trat in den Vorraum. »Darf ich Sie bitten.« Die junge Frau öffnete eine Tür. »Bitte.« Werner Böttcher, Günter Franke und Siegfried Boll betraten den Raum … und die Mannschaft drängte nach.

    »Meine Herren, so geht das nicht. Der Vorstand wurde einbestellt, nicht die gesamte Bruderschaft.«

    »Wir sind der Vorstand«, sagte Jakob Senden aufgeregt. »Ich bin der zweite Kassierer.«

    »Ich bin der Hauptmann«, meinte Heiner Giersch. »Ich habe das Sagen, wenn wir außerhalb unseres Dorfes agieren. Das sind wir schließlich. Lassen Sie mich durch.« Er stotterte bei der Missachtung seiner Person.

    »Das mag sein.« Die Gehilfin nickte betrübt. »Aber hier geht es um den gesetzlichen Vorstand und der wird durch diese drei Herren repräsentiert. Sie werden nicht gebraucht.«

    »So haben wir nicht gewettet.« Heiner Giersch packte die Frau an der Schulter.

    »Halt«, rief Werner Böttcher mit gedämpfter Stimme. »Fass die junge Dame nicht an. Wir sind der gesetzliche Vorstand. So ist das nun mal. Ihr setzt euch am besten in das Restaurant, dort, wo der Bus parkt und nehmt ein Frühstück auf den Verein.« Er baute die gar nicht mal so imposante Figur resolut vor den anderen auf.

    »Das habt ihr euch gedacht.« Jakob Senden trat nach vorn. »Ihr könnt uns nachher erzählen, was ihr wollt.«

    »Bevor wir einen Aufstand machen«, meinte Siegfried Boll, »verzichten wir auf das Erbe oder was immer es sein mag. Dann werden wir wieder normal. Ich hab keine persönlichen Aktien hier.« Er trat zwischen die Männer. »Außerdem stinkt mir das Misstrauen, das ihr uns entgegen bringt.«

    »Genau«, meinte Günter Franke, der an und für sich nie viel sagte.

    »Gut«, Giersch gab nach. »Da können wir nichts machen.« Jeder sah, wie schwer ihm die Worte fielen. Der Hauptmann redete ansonsten ein gewichtiges Wort mit. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die satzungsgemäße Regelung vor der gesetzlichen keinen Bestand hatte. »Wir treffen uns später im Restaurant.« Der verkniffene Gesichtsausdruck besagte alles.

    »Guten Tag meine Herren.« Notar Brück betrat das Büro. Die drei Schützen saßen um den runden Tisch, der acht Personen Platz bot. »Sie haben sich bei meiner Mitarbeiterin ausgewiesen.« Er schob die Personalausweise in eine Reihe, bis sie exakt ausgerichtet vor ihm lagen. »Ihre Bruderschaft, die durch Sie vertreten ist, wurde von Herrn Beatus Basketmaker zur Testamentsvollstreckerin seines Nachlasses erklärt.«

    Die drei Schützen sahen sich verständnislos an und schüttelten leicht den Kopf. Den Namen kannte niemand von Ihnen.

    »Ich muss gestehen, vor mir liegt das ungewöhnlichste Testament, das mir je untergekommen ist.« Das Gesicht des ungefähr sechzigjährigen Mannes trug einen bekümmerten Ausdruck. »Aber das habe ich nicht zu beurteilen.«

    *

    Kapitel 3 (Juni)

    Es war zum Mäusemelken. Am heiligen Sonntag und auch noch zu einer saublöden Zeit ein Mord. Das fehlte noch, dass er den Tatort im Fernseher verpasste. Heute kam sein Lieblingsteam: Klara und Perlmann vom Bodensee. Seitdem er vor einigen Jahren die Insel Mainau besuchte, liebte er dieses Team, das um Konstanz herum ermittelte. Aber er konnte sich die Sendung ja später auf dem PC reinziehen.

    Oberkommissar Ägidius Habakuk Schmitt, Schmitt ohne Zusatz, das war bei diesen Vornamen nicht nötig, betrachtete aus einiger Entfernung den möglichen Tatort. Schmitt sah aus, wie der Ritter von der traurigen Gestalt. Eins neunzig, hager, fast dünn, die Schultern ein wenig nach vorn gebogen, als trüge er eine unbekannte Last. Die kupferfarbene, nicht zu bändigende Haarpracht stand wirr vom Kopf. Viele kleine Locken ringelten in die hohe Stirn. Unter buschigen Augenbrauen musterten grüne Augen die ach so unwürdige Welt, mit der er auskommen musste. Unter der geraden, fast römischen Nase verzog sich der Mund, mit den vollen Lippen, missmutig nach unten. Nicht etwa, weil es der Situation entsprach, nein, dies war der übliche Ausdruck. Das breite Kinn trug eine senkrechte Kerbe.

    Das Gesicht zeigte abweisende blasierte Züge, die so gut wie jeden davon abhielten, ihn anzusprechen. Ägidius trug Jeans, aber kein Modell von Mustang oder Wrangler, sondern die Arbeitshose von van Cranenbroek, die es dort schon für unter fünfzehn Euro gab. Die Hose schlackerte um die Beine. Dazu ein blau kariertes Hemd, eben ein Arbeitshemd aus dem gleichen Laden. Die ausgelatschten Sportschuhe hatten auch schon einige Jahre auf dem Buckel.

    Im Grunde war der Oberkommissar kein schwieriger Mensch. Wer ihn und seine Art zu nehmen wusste, kam gut klar. Aber wehe nicht. Wenn Zeit für den Job war, dachte er ausschließlich daran und in der Freizeit, eben an die Freizeit. Es war ganz einfach.

    Mit einigen Dingen im Leben konnte er nichts anfangen. Dazu zählten vor allen Dingen Menschen. Nicht, dass er sie hasste. Nein. Sie waren ihm gleichgültig. Schon manch einer fragte sich, weshalb er Polizist wurde und für die Allgemeinheit arbeitete. Das war ganz einfach. Wenn er mit Menschen nichts anfangen konnte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht studierte. Das gehörte zu seinen Prinzipien. Den Sachen auf den Grund gehen. Das führte dazu, dass er als junger Mensch zunächst Lehramt studierte. Für ihn war das eine Möglichkeit, die Fehler, die Lehrpersonen, nach seinem Dafürhalten, an ihm begangen hatten, für weitere junge Menschen auszuschließen. Bis zu seinem Referendariat. Er würde wohl, zumindest im Bundesland Nordrhein Westfalen, nie mehr als Lehrperson eingestellt werden.

    Es war fast genauso, wie zu der Zeit, als er in einer Supermarkt Filiale einen Ferienjob annahm und das Warenordnungssystem in den Verkaufsregalen revolutionierte. Er setzte seine Vorstellung von Ordnung und Verkaufsstrategie um. Beim Supermarkt Süd hatte er Hausverbot.

    Mehr zufällig geriet er in die Polizeilaufbahn. Jetzt stand er in diesem Heidedorf und musste sich mit diesem Fall beschäftigen. Schmitt kam aus Düsseldorf, weil die Aachener Kollegen eine seltsame Urlaubsregelung praktizierten. Das gesamte Kommissariat zum gleichen Zeitpunkt ausgeflogen. Beknackt.

    »Halte den Penner dort auf.« Schmitt schreckte hoch. Der uniformierte Kollege wies einen anderen Beamten an, der sich dem Oberkommissar prompt in den Weg stellte.

    »Schmitt«, sagte er kurz und drückte den Mann zur Seite.

    »Haben Sie noch alle Tassen im Schrank. Das ist ein Tatort und außerdem … lege dich zu deinen Kollegen dort hinten«, er zeigte auf eine kleine Baumgruppe an der Ecke Waldstraße und Panzerstraße. Der Küfenweg, auf dem sie sich befanden, endete ebenfalls dort. In dem Wäldchen, an der Kreuzung, ,rasteten‹ schon mal Obdachlose, die unterwegs waren.

    Ägidius musterte den Wicht, er war nicht mehr als eins siebzig, ausdrucklos. Seine Hand schoss nach vorn und packte das linke Ohrläppchen. Er drückte fest zu und drehte es leicht. »Hat deine Mama dir nicht beigebracht, zu Fremden und insbesondere Vorgesetzten, freundlich zu sein?« Sein Bass rollte und brachte die Luft zum Vibrieren. Er fasste mit der linken Hand in die Gesäßtasche und zückte den Dienstausweis. »Schmitt«, sagte er, wobei er das Ohr festhielt. »Oberkommissar, Mordkommission.« Er drückte noch einmal zu und stieß den Polizeibeamten zurück. Ohne ihn weiter zu beachten, näherte er sich dem Toten. »War die Spurensicherung schon hier?«, fragte er.

    »Wir sind fertig.« Die Frau trug einen weißen Overall und kam von der Obstwiese, deren Eingang rechts von der Hütte lag. Sie beobachtete den Vorgang mit dem uniformierten Kollegen kopfschüttelnd. »Den Bericht bekommen Sie morgen«, meinte sie kurz angebunden. Der Grobian konnte warten. »Wenn der Arzt den Tod festgestellt hat, wird die Leiche abgeholt und kommt in die Rechtsmedizin nach Köln. Aber ich bin mir sicher, da braucht man keinen Mediziner. Toter geht nicht.«

    Schmitt nickte kurz und nahm die Szene mit dem Toten auf. Er konnte immer wieder auf das zurückgreifen, was er jemals gesehen hatte. Sein Gehirn besaß eine visuelle Aufzeichnungsfunktion, die jedoch nur bei Bildern funktionierte. Bei Texten klappte das überhaupt nicht. Ein Gedanke drängte sich nach vorn: Weshalb kam der Mediziner nach der Spurensicherung? Klar …, der war tot, das sah jeder. »Gibt es Augenzeugen?«, fragte er niemand Bestimmtes. Keine Antwort. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er alleine vor der Bank stand. Die anderen hatten sich abwartend hinter die Absperrung zurückgezogen. Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal. Da musste er durch.

    Eine Bewegung hinter ihm ließ ihn dorthin schauen. Eine Frau in Joggingkleidung hob die Absperrung und schritt, ohne ihn zu beachten, zu dem Toten. Ein graubrauner Dackel zockelte hinter ihr hier.

    Was sollte das schon wieder? Er fasste sie an die Schulter und wirbelte unversehens durch die Luft. Er landete unsanft auf der Schulter und vermied eine schwerere Verletzung, weil er den Körper während des Flugs automatisch entspannte. Damit hatte er nicht gerechnet, sonst wäre es ihm nicht passiert. Denn er war ein passabler Sportler, auch Kampfsportler. »Das war unnötig«, stellte er fest, indes er auf Hände und Füße rollte. Dabei verdrehte er die Augen. Wie blöd. Klassisch aufs Kreuz gelegt und dazu von einer Frau. »Verlassen Sie bitte den abgesperrten Bereich.« Er saß noch immer auf dem Boden und machte eine vage hilflose Bewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Dackel schnüffelte an ihm und der Schwanz drehte wie ein Propeller.

    Die Kollegen der Spurensicherung und Technik beobachteten das Schauspiel. Immer mehr Menschen kamen hinzu und kicherten.

    Ägidius entwirrte die Knochen und stand umständlich auf. Er zückte den Dienstausweis. »Schmitt, Kriminalpolizei. Treten Sie bitte hinter die Absperrung.« Er musste keine besondere Kraft aufbieten, um sachlich zu bleiben. Auf Deutsch gesagt, ging ihm die Episode am Arsch vorbei.

    Die Frau studierte die Plastikkarte und nickte. Wortlos stellte sie sich zwischen das technische Personal der Kripo und schüttelte leicht den Kopf, als jemand sie ansprechen wollte. Sie trug einen belustigten Zug in den Mundwinkeln.

    Der Dackel wich nicht von den Füßen des Oberkommissars, was ihn sichtlich nervte. Er hob den Fuß.

    »Unterstehen Sie sich«, rief die Frau, mit einer ausgesprochen weiblichen Stimme, in mittlerer Tonlage. Die blöde Kuh, die ihn vorhin aufs Kreuz legte. Er ignorierte den Hund.

    »Ihren Namen bitte.« Seine Stimme grollte. Schmitt besaß, von Geburt an, einen leichten Sehfehler. Die Augen musterten einen älteren Mann, der gegen sein Fahrrad lehnte und auf den Leichnam starrte. Dabei hatte er die Frau im Visier.

    »Meinen Sie mich?«, fragte der Mann und bestieg das Rad und radelte davon.

    »Clarence«, flüsterte jemand verständlich, wobei die älteren lachten und die jüngeren verständnislos schauten. Daktari, mit dem schielenden Löwen, war eine andere Zeit.

    Äußerlich unbeeindruckt ging der Hauptkommissar zur Absperrung. »Ich meine Sie«, sagte er zu der Frau mit dem Hund.

    »Claudia Plum.«

    »Sie wohnen in diesem Dorf?«

    »Ja.«

    »Kennen Sie den Toten?«

    »Ja.«

    »Hat er einen Namen?«

    »Ja.«

    »Können Sie mir den sagen? Stopp«, er hob eine Hand, »mein Fehler. Sagen Sie mir den Namen des Toten … bitte.«

    »Rainer Sauber.« Claudia Plum überlegte, ob sie dem aufgeblasenen Ochsenfrosch sagen sollte, wer sie war. Aber nein. Das konnte warten.

    »Danke«, murmelte Schmitt abwesend. Die Gedanken richteten sich auf den Toten.

    »Er ist faktisch ein Ureinwohner«, fuhr Claudia fort und holte den Oberkommissar zurück. »Im Dorf ist diese Woche Schützenfest. Deshalb die Uniform.« Der Typ tat ihr leid. Was konnte er dafür, dass die Mordkommission in Aachen verwaist war. Sie zückte ihre Plastikkarte, die sie auch im Urlaub bei sich trug. »Ich befinde mich im Urlaub. Normalerweise wäre dies mein Fall.«

    »Ich weiß«, entgegnete Schmitt. »Sie glauben doch nicht, dass Sie ansonsten ungeschoren davon gekommen wären, nachdem Sie mich aufs Kreuz gelegt hatten.« Er grinste und zeigte seine perlweißen Zähne, bei denen zwei Schneidezähne im Oberkiefer überflüssigerweise vorstanden. »Bevor ich vorhin hierher fuhr, habe ich natürlich Erkundigungen eingezogen. Der Tote ist tot. Also hatte ich Zeit.« Er stockte und musterte ihre Erscheinung. Was er sah, gefiel ihm. Auch, wenn der Jogginganzug, den sie trug, großen Muts bedurfte. Zumindest nach seiner Meinung. Ein knalliges Gelb mit je drei roten Streifen an den Seiten. Sie konnte es tragen.

    Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Zu ihrer sportlichen Figur gehörte ein normal großer Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das war Geschmackssache. Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig und eins siebzig groß. Die grauen Augen musterten ihn spöttisch. Aber das kannte er und wiederholte sich bei den vielen Springereinsätzen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er über sie wusste.

    Die Hauptkommissarin wurde vor etwa zwei Jahren nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie zu diesem Zeitpunkt auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin fehlte die entsprechende Planstelle. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen. Das war die offizielle Geschichte. Schmitt lächelte innerlich, hielt diese Gemütsbewegung jedoch verschlossen. Ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte das, belustige Funkeln im Hintergrund der Augen, bemerkt. In Wahrheit uferte das Verhältnis zu einem verheirateten, vorgesetzten Kollegen aus, sodass es angebracht schien, den Berufsstandort zu wechseln.

    Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, traf sie, im platten Hinterland Aachens, auf einen Menschen namens Kurt Hüffner, der die Liebe ihres Lebens wurde.

    Er wusste, dass Frau Plum stets um Distanz bemüht war und viele schreckte, die sich ihr näherten. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie, sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden Unsicherheiten perfekt. Das Dossier, das ihm zu ihrer Person zur Verfügung gestellt wurde, enthielt Hinweise auf eine emphatische Veranlagung, was sie als hinderlich ansah. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn ihr Bauchgefühl zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus, nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle, zu erfolgreichen Ergebnissen fügte. Schmitt wusste, dass sie sich keinesfalls aus dem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1