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Am Ende siegt die Wahrheit
Am Ende siegt die Wahrheit
Am Ende siegt die Wahrheit
eBook318 Seiten4 Stunden

Am Ende siegt die Wahrheit

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Über dieses E-Book

1947
Die achtzehnjährigen Zwillinge Maria und Andreas helfen am elterlichen Hof, sind eng miteinander verbunden. Maria schwärmt im Geheimen für Andreas' Freund Markus. Sie ist eifersüchtig darauf, weil ihr Bruder Zeit mit ihm verbringt, was sie gerne täte. Der Tod ihrer Eltern wirbelt alles durcheinander. Auf einmal ist da ein reicher Onkel, der die Vormundschaft über die Geschwister trägt und als Bürge fungiert. Andreas fühlt sich um sein Erbe gebracht. Wird er sich Onkel Alfons fügen? Hat die Liebe zwischen Maria und Markus eine Chance? Und welches Ziel verfolgt Alfons tatsächlich?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Aug. 2021
ISBN9783753194349
Am Ende siegt die Wahrheit
Autor

Bridget Sabeth

Bridget Sabeth, Jahrgang 1977, ist gebürtige Österreicherin. Bereits im Alter von 3 Jahren waren die Schulsachen des Bruders nicht mehr vor ihr sicher. Sie sehnte sich nach der Magie der Buchstaben, die sich zu Wörtern zusammenfügten. Als sie Sätze bilden konnte, entstanden die ersten Geschichten, und brachte diese schließlich aufs Papier. Die Faszination von damals ist bis jetzt nicht in ihr erloschen.

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    Buchvorschau

    Am Ende siegt die Wahrheit - Bridget Sabeth

    Expo-Am Ende siegt die Wahrheit.2

    Am Ende siegt die Wahrheit

    Bridget Sabeth

    GESCHWISTER

    Juli 1947

    Steil und steinig stieg der Pfad vor Maria und ihrem achtzehnjährigen Zwillingsbruder Andreas Schneider an. Sie befanden sich auf dem zehn Kilometer langen Nachhauseweg, den sie zu Fuß zurücklegen mussten, und wofür sie etwa zwei Stunden benötigten. Verkürzen konnten sie die Wegstrecke nur, wenn sie den Steig durch den Wald wählten, an dem die Bäume meterhoch emporragten. Das wuchernde Gestrüpp auf beiden Seiten machte ein Nebeneinandergehen undenkbar. Der Gewitterregen der letzten Tage hatte den Pfad glitschig gemacht, was das Vorwärtskommen zusätzlich erschwerte. Es roch modrig feucht, da sich kaum Sonnenlicht durch die Äste, Blätter und Nadeln hereinverirrte, während sie die sengende Hitze aussperrten.

    Maria rutschte aus, der Dorn eines Hagebuttenstrauchs verhakte sich bei ihrer Bluse. »Ich hab dir ja gesagt, dass es keine gute Idee ist, bei dem aufgeweichten Boden die Abkürzung zu nehmen.« Vorsichtig löste sie den Widerhaken aus dem Stoff, schaffte es, ohne das Gewebe zu zerreißen oder einen Kratzer abzubekommen.

    »Sei nicht so zimperlich!«, kam es barsch von Andreas zurück, der sich nicht einmal umdrehte, sondern stur weiterging.

    »Bestimmt brauchen wir länger, als wenn wir gleich die Schotterstraße ausgegangen wären.« Verstimmt hob Maria mit ihren Händen die Lederriemen der Tasche an. Heute schnitten sie besonders schmerzhaft in ihre Haut, da sich etliche Bücher in ihrem alten Ranzen befanden, die sie ausnahmsweise mitnehmen durfte. Sie schielte zu den feinen Gurten. Die Riemen wirkten brüchig. Zum Glück hatte sie diese mit dem festen Garn verstärkt, sonst würden sie die Last nicht aushalten. So leistete der Tornister, der sie seit ihrem ersten Schultag begleitete, nach wie vor gute Dienste.

    Maria machte den nächsten Schritt, um dem Bruder nachzukommen. Sie musste aufpassen, dass sie nicht neuerlich mit ihren abgenutzten Schuhsohlen den Halt verlor.

    Das steilste Stück befand sich direkt vor ihnen, wo sie über einen kleinen Felsen klettern mussten. Maria hielt sich an einer Wurzel fest, die seitlich herausragte, hangelte sich daran hinauf, wobei ihr wadenlanger Rock sie behinderte. Andreas hatte es da mit seinen langen Beinen und den Hosen bedeutend leichter als sie. Er sprang hoch, als ob er in seinem vorherigen Leben ein Steinbock gewesen wäre. In seiner Eile trat er einen Stein los, der Marias Fußspitze streifte.

    »Au! Pass doch auf!«, maulte sie prompt.

    Andreas hielt an, schaute zurück. Hab ich sie arg erwischt? – Nein, sieht nicht so aus. »Beeil dich besser! Heute bist du wieder einmal in einem Schneckentempo unterwegs!«

    »Ich finde den Weg alleine! Geh doch vor, wenn du es gar so eilig hast!«

    »Mutter und Vater wollen nun mal nicht, dass du ohne mich gehst! Glaubst du, mir gefällt es, ständig auf dich warten zu müssen?«

    »Wegen der paar Minuten schimpfst du, die du mit mir länger brauchst? Wer steht denn meist eine Stunde vor dem Sägewerk herum, und muss warten, bis deine Schicht zu Ende ist?!« Maria schloss zu ihm auf, der Bruder überragte sie um einen Kopf. Sie ließ die Tasche von den Schultern gleiten, die hart auf den Boden plumpste.

    »Lamentier darüber nicht bei mir, sondern bei den Eltern! Trotzdem musst du dich an mich halten, immerhin bin ich der Ältere.«

    »Lächerliche zehn Minuten!«

    »Als ob ich das nicht selbst wüsste!« Er zog eine Fratze. »Du kennst den Grund, weshalb sie so einen Affentanz veranstalten, es geht um deine Sicherheit!«

    »Sicherheit?! Als ob ich mich nicht zu wehren wüsste!« Maria schöpfte nach Atem. »Vor den britischen Soldaten habe ich keine Angst! Dorli geht sogar mit einem zum Tanz!«

    »Deine Freundin Dorli ist ein gutgläubiges Ding. Ich traue keinem Besatzungssoldaten, ganz gleich, aus welcher Nation er stammt!«

    »Das sieht dir ähnlich, stur und voreingenommen. Die Engländer bringen wenigstens Geld ins Land, während die Russen Häuser besetzen und die Siegermacht heraushängen lassen. Und es waren alliierte Truppen, die uns aus dem schrecklichen Krieg befreit haben!«

    »Und was ist mit den Franzosen? Die hast du in deiner Aufzählung vergessen!«

    Maria zischte verstimmt. »Zu denen kann ich nichts sagen. Die meisten sind in Tirol, Vorarlberg und Wien stationiert. Dort habe ich nichts zu schaffen.«

    Andreas musterte die Schwester. Sie war nicht nur klug, sondern eine Schönheit mit den schwarzen Locken, leuchtenden hellgrünen Augen und Rundungen an den richtigen Stellen. Äußerlich war sie zur Frau herangereift, doch in Hinblick, wenn es um Männer ging, wirkte sie für ihn so naiv wie ein Kind. Er traute den Kerlen nicht, die in der Gegend herumschlichen. Besonders dem Briten Walter nicht, der nach jedem hübschen Mädchen schielte! Sogar seinem Freund Markus hatte die Schwester den Kopf verdreht. Der war wenigstens ein Ehrenmann und würde viel besser zu Maria passen! »Was soll das nun bedeuten? Dass alle englischen Soldaten ehrenwert sind? Wohl kaum! Hineinschauen kannst du in keinen, wie er ist! Oder hat ein Brite dich schon um den Finger gewickelt? Wie dieser Walter? Fährt mit dem protzigen Auto umher. Ich frag mich, wie er sich den leisten kann!«

    Maria presste unwillig die Lippen aufeinander, sie massierte sich die verspannten Schultern. Walter wollte ihr erst letztens einen Strauß roter Rosen schenken. Beim Dorfwirt, wo ihre Freundin Dorli arbeitete, hatte er sie abgepasst. Heimlich war er ihr bis zum stillen Örtchen gefolgt. Maria empfand ihn als zu aufdringlich. Noch dazu kamen ihr die Rosen übertrieben und unpassend vor. Dorli kam gerade recht, als sie ihm den Strauß vor die Füße geworfen hatte. Ohne zurückzublicken war sie mit ihrer Freundin in die Stube gegangen. Ob sie ihn zu schroff abgewiesen hatte? Er sollte sich keinesfalls Hoffnungen machen, denn ihr Herz würde er nie entflammen, da war sich Maria sicher. »Was soll ich mit einem Kerl, der kaum Deutsch spricht und ich mit dem bisschen Englisch.«

    »Das klingt nicht wie ein klares Nein!«

    »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, dass er hinter jedem Rockzipfel her ist! So einen will ich ganz sicher nicht.«

    »Dann hoffe ich, dass das so bleibt.« Es raschelte in der Nähe, ein Eichhörnchen kletterte einem Baumstamm entlang, ehe es aus Andreas’ Sichtfeld entschwand. »Wenn wir doch so frei wie das kleine Nagetier sein könnten«, sinnierte er. »Aber nein, unsere Befreier sind zu Besatzer geworden.«

    »Ach komm, man spürt kaum, dass die Soldaten da sind. Kein Vergleich zum Krieg! Jammern hilft uns nicht weiter. Wir haben überlebt, eine Landwirtschaft und ein Dach über dem Kopf. Was sollen die anderen sagen, die in zerstörten Gebäuden hausen oder in Schuppen leben. Viele stehlen und plündern aus purer Verzweiflung und Hunger. Die benötigen unsere Hilfe.«

    »Plündern, stehlen, und Frauen vergewaltigen, … So etwas kann ich niemals gutheißen!«, bemerkte Andreas impulsiv. »Es gibt reichlich Arbeit, wenn sie wollen würden, auch bei uns am Hof! Aber dieses Pack klaut, was es kriegen kann! Und denen willst du unter die Arme greifen? Kein Wunder, dass die Eltern dich mit solchen Ansichten nicht allein heimgehen lassen! Hast du vergessen, was mit Zenzi passiert ist? Soll dir dasselbe passieren? Irgendwo läuft der Kerl frei herum. Hockt vielleicht in einem Wirtshaus, trinkt und sucht nach einem neuen Opfer!«

    Maria zuckte zusammen. Gut, dass Andreas bei ihr war! Sie mochte es nicht, wenn die Kerle ihr gierig hinterherglotzten! Ein Bursch hatte Zenzi, der Müllers Tochter, brutal Gewalt angetan. Seit zwei Jahren traute sie sich kaum mehr auf die Straße. Sie besuchte nicht einmal den sonntäglichen Gottesdienst! Gefasst hatte man den Kerl bisher nicht. Manchmal, wenn Maria vor dem Sägewerk auf den Bruder wartete, sah sie das Mädchen bleich durch den angrenzenden Garten huschen, wo es mit den Eltern wohnte. Dass der Vorfall Zenzi gebrochen hatte, war unverkennbar. Maria gruselte es kalt den Rücken runter. Ob der Kerl noch in der Gegend war? Unwahrscheinlich – zumindest gab es keinen weiteren bekannten Fall. »Das mit Zenzi ist unsagbar schlimm, und gleichzeitig ist sie ein Beispiel dafür, dass Menschen unverschuldet in Not kommen können. Ich bin dankbar, dass du an meiner Seite bist und mich beschützt. Es fällt mir allerdings schwer, deine Hilfe anzunehmen. Mir gegenüber gibst du dich gerne hart und kalt. Genauso, wie Vater zu unserer Mutter ist!«

    »Spinnst du? Mich mit dem alten Herrn zu vergleichen? Von seinem Jähzorn bin ich weit entfernt. Bei ihm gibt es bloß raue Töne, während er die Arbeit schleifen lässt, vermehrt zum Most greift und in sich reichlich Essen reinstopft. Bei sich selbst, da kennt er keinen Geiz! Aber ich muss schaffen, im Sägewerk und daheim!« Andreas setzte sich grollend in Bewegung. Wie konnte Maria es wagen, ihm so etwas an den Kopf zu werfen! Zimperlich war er gewiss nicht. Arbeitete wie ein Erwachsener, konnte mit Waffen umgehen, schoss Rehe, Hirsche oder Hasen, und machte die Hausschlachtungen ohne Hilfe des Vaters! Doch jemanden geschlagen, wie es der alte Herr gerne tat, hatte er nie! Andreas konnte sich gut an dessen Hiebe erinnern, ob mit der Hand oder einer Gerte. Erst seit er ihn überragte und stärker war, hielt sich der Vater zurück, obwohl Andreas oft ein gefährliches Glitzern in dessen Augen entdeckte.

    Maria nahm die Tasche seufzend hoch, sie schien ihr schwerer als zuvor. »Du weißt, dass es um Vaters Gesundheit nicht zum Besten steht, und er sich laut dem Arzt schonen muss. Außerdem bist du bei den Arbeiten nicht allein. Mutter melkt die beiden Kühe, ich füttere die Schweine sowie die Hühner, und unser Knecht Georg mistet die Ställe aus. Sei froh, dass das Vieh im Sommer meist auf der Weide ist. Sonst könntest du weniger häufig zu deinem Freund Markus laufen. Die harte Zeit hat bei Vater Spuren hinterlassen, jeder geht anders damit um, das kannst du ihm nicht vorwerfen. Zum Glück wurde er wegen seiner kriegsgewichtigen Tätigkeit nicht eingezogen. Die hohen Abgaben haben Mutter und ihm alles abgefordert. Wenigstens sind die beiden noch da, nicht so wie Jakob, der in den Kampf ziehen musste, und nie mehr heimgekehrt ist!«

    Jakob! Es stach schmerzhaft in Andreas’ Brust als er an den älteren Bruder dachte. Er beschleunigte den Schritt. Wie es sich anfühlt, mit erhobener Waffe einem Menschen gegenüberzustehen, den Finger am Abzug? Er erschauderte. Erst nach dem Kriegsende hatten sie erfahren, dass Jakob im Dienste des Staates gefallen war. Eine Granate hatte sein Leben ausgelöscht. Nach ungewissen Monaten, in denen es keine Nachricht von ihm gegeben hatte, wirkte die Mitteilung von seinem Tod beinahe erleichternd. Denn der Gedanke, Jakob könnte in Gefangenschaft sein, oder verletzt dahinvegetieren, war noch unerträglicher. So wurden ihr Bangen und Hoffen von einer schmerzhaften Gewissheit abgelöst. Doch eine schlüssige Erklärung, wo der Bruder über die Zeit abgeblieben war, in der es keine Mitteilung gab, erhielten sie nicht. Andreas sah zurück zu Maria. »Was ist jetzt? Willst du Wurzeln schlagen?«

    Maria verkniff sich eine Entgegnung. Auch sie wollte endlich heim. Wartend klopfte Andreas mit dem rechten Fuß auf den Boden, bis sie aufgeschlossen hatte. »Gib schon her, du keuchst ja wie eine Dampflok!«

    Perplex betrachtete Maria ihn. Unter dem Hemd des Bruders zeichneten sich die harten Muskeln ab. Seine braunen Augen blitzten belustigt. »Mach schon, bevor ich es mir anders überlege.«

    »Auf eigene Gefahr, die Tasche ist schwer. Ich nehme dafür deine.« Maria hängte sich seine um. Das Werkzeug darin wirkte wie das reinste Fliegengewicht. Was für eine Wohltat für ihre Schultern!

    »Mein Gott, hast du Steine eingepackt?«, kam es von Andreas, als er durch die Lederriemen schlüpfte.

    »Nein, Bücher.«

    »Seit wann habt ihr Bücher an der Schule?«

    »Vom Pfarrer Ludwig.« Maria strich sich eine gelockte Strähne hinter ihr Ohr. »Er war in Graz, und hat an uns gedacht.«

    »Wie nett von ihm.«

    »Die Bildung der Kinder ist ihm eine Herzensangelegenheit.«

    »Herzensangelegenheit.« Andreas runzelte unwillig die Stirn. »Rede nicht so geschwollen daher.«

    »Spinn nicht herum. Du weißt, dass ich gerne als Betreuerin in der Dorfschule arbeite. Ich habe versprochen, Fragebögen für die Geographieprüfung der Kinder auszuarbeiten. Außerdem bekomme ich dafür einen Lohn. Ich freu mich auf die ersten richtigen Tanzschuhe, die ich mir davon kaufe. Mutter ihre, die ich sonst nehme, sind ziemlich abgetragen. Und dann spare ich auf eine richtige Ausbildung.«

    »Was soll dir Bildung bringen? Über kurz oder lang wirst du daheimsitzen, bei einem Mann und einer Stube voller Kinder.«

    »Da täuschst du dich!« Aufgebracht stapfte Maria an ihm vorbei. Die Arbeit mit den Kindern gefiel ihr, doch lieber wäre sie Krankenschwester! Aber Vater hatte weder das Geld für die Ausbildung in Graz, noch wäre er damit einverstanden, dass sie den Hof verließe. Jede Arbeitskraft würde fehlen, obendrein so billige, wie sie es als Kinder waren, wo er keinen Lohn zu zahlen brauchte.

    Maria steuerte auf das Ende des schmalen Pfades zu, die Hitze verstärkte sich, als sie aus dem Schatten trat. Vor ihr erstreckte sich die Wiese, eingebettet mit den verschiedensten Blumen und Kräutern. Bald würden die Tiere in diese Weide kommen, und sich über das saftige Grün freuen. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, hatten sie sich trotz der Abkürzung verzettelt. Oberhalb auf dem Weg entdeckte sie Georg, der auf dem Heurechen lehnte, und ihnen freudestrahlend zuwinkte. Er musste Gras vom Abhang herunterbefördern, und dieses dann mit einem Schubkarren heimwärts bringen.

    Maria lächelte ihm zu. Sie mochte den einzig verbliebenen Knecht am Hof. Für seine Arbeiten brauchte er lange, da er gerne und häufig Pausen machte, die Natur beobachtete, oder ausgiebig die Hofkatzen streichelte. Nicht einmal der Vater schaffte es, ihn anzutreiben. Doch wichtig war das Endergebnis, und da gab es nichts zu meckern.

    »Grüß dich Georg, schon fertig? Oder soll ich dir nachher helfen kommen?«, rief Andreas ihm zu.

    »Nischt nötig, hab nur mehr ein kleinesch Stückschen vor mir.« Durch seine Zahnlücken klangen die Wörter immer etwas zischend. Georg humpelte weiter, tat sich an den Steilhängen schwer. Seit der Kinderlähmung, die ihn in jungen Jahren befallen hatte, zog er das linke Bein nach. Lesen, Rechnen und Schreiben hatte er nie gelernt, dafür besaß er ein großes Herz für alle Tiere.

    »Seinen Gleichmut würde ich gerne haben.« Andreas blickte zu seiner Zwillingsschwester.

    »Am Tag schon, aber in der Nacht, da holen Georg seit dem Tod seiner Schwester Anna die Dämonen ein, und er trinkt dann viel zu viel.« Maria seufzte.

    »Hier muss ich Vater wenigstens zugutehalten, dass er sich für ihn eingesetzt hat. Ohne seine Fürsprache wäre Georg längst tot, vergast wie andere Behinderte, oder zwangssterilisiert.«

    »Daran mag ich gar nicht denken. – Wie viele Männer wohl im verdammten Krieg gestorben sind? So sinnlos. Jakob hat den Tod ebenso wenig verdient! Manchmal erträume ich mir, dass er irgendwo anders ein neues Leben beginnen durfte! Obwohl, mit dem Schrecken des Krieges im Nacken, ist da ein Tod nicht besser?« Eine einzelne Träne löste sich aus Marias Augenwinkel, folgte der Schwerkraft, tropfte ins Gras.

    »Eine gerechte Welt wird es niemals geben.« Andreas blieb an ihrer Seite, als sie dem Wiesenpfad folgten. Das Gras säuberte die matschigen Schuhe. Noch etwa dreihundert Meter hatten sie bis zu ihrem Heimathaus zu bewältigen.

    Gerechte Welt? Es schmerzte in Marias Brust, als sie an die Kinder dachte, die häufig mit hungrigen Bäuchen in der Schule saßen. Viele bekamen keine Jause mit, sodass mittags die Suppe oder das Gulasch wie ein Festmahl wirkten. Maria zweigte von daheim mitunter Eier, Gemüse und Salat ab, um es aufzuteilen. Vater durfte das niemals bemerken! Nicht einmal ein Stück Brot hatte er übrig, wenn sich mal ein Bettler auf den Hof verirrte! Seine Hartherzigkeit konnte sie schwer nachvollziehen. Ob er womöglich Angst davor hatte, die Russen würden wiederkommen? Wenn die Soldaten damals im Krieg die Höhle gefunden hätten, in der sie Schweine und Hühner verborgen hielten, wäre das für die gesamte Familie ein Todesurteil gewesen! Maria schielte zu ihrem Bruder. Andreas hatte als Junge, bei seinen Streifzügen durch den Wald, die Höhle aufgespürt und Vater als Versteck vorgeschlagen.

    »Es ist eine schwierige Zeit.« Andreas wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Zukunft ist ungewiss. Wir befinden uns im Aufbau, die Wirtschaft soll angekurbelt werden. Mit was, frage ich mich. Zwar haben wir wieder den Schilling, aber man munkelt darüber, dass uns eine weitere Geldentwertung bevorsteht.« Er war bei seinem Lieblingsthema angelangt: Politik.

    »Wir können das nicht ändern.«

    »Das will ich nicht glauben! Nie mehr will ich einen Krieg miterleben! Die anderen dürfen nicht so über unsere Köpfe hinweg entscheiden. Wir sind die Generation von morgen! Schau dich um. Gleich dort drüben ist der Bombenkrater zu sehen, auch wenn inzwischen Gras darüber wuchert! Im Ort sind viele Häuser zerstört. Dachstühle, Fassaden, Fenster – da gibt es genug zu richten. Es scheitert nicht an der Arbeit, sondern an der Bezahlung, dem fehlenden Material und den Maschinen!«

    »Wir haben eine funktionierende Dorfgemeinschaft, das ist besser als nichts. Viele helfen sich gegenseitig, tauschen, was sie grad entbehren können. Wie man hört, haben wir es im Vergleich zu den Städten gut.«

    Unwillig presste Andreas die Lippen aufeinander. »Du siehst immer alles zu positiv.«

    »Nein, du bist zu pessimistisch. Warum kannst du nicht dankbar sein? Wir leben.«

    »Und Jakob ist tot.«

    Maria überkreuzte die Finger oberhalb ihres Herzens. »Gott möge mit ihm sein. – Weißt du noch, wie wir auf seinem Schoß sitzen durften. Tausend Nachtgeschichten hat er uns erzählt, oder mehr. Wenn wir Albträume hatten, kam er, um uns zu trösten.«

    Andreas ergriff die Hand seiner Schwester. »Wie könnt ich das vergessen. Acht Lebensjahre haben uns getrennt. Du warst seine Prinzessin und ich der kleine Prinz.«

    Ein dumpfer Schmerz loderte in Marias Brust. Sie erinnerte sich daran, als Jakob sich verabschiedete, um in den Krieg zu ziehen. Maria hatte sich an seinem Hemd festgekrallt, wollte ihn nicht gehen lassen! Auch seine Augen schimmerten feucht. Das hatte sie sich nicht eingebildet, obwohl er es vehement abstritt. Nie würde sie vergessen, wie sie getobt, geschrien und geweint hatte! Tagelang. »Was für ein Entsetzen musste er durchstehen? Schmutz, Kälte, Läuse, der Kampf ums nackte Überleben, und dem Gedanken, dass jede Sekunde die letzte sein könnte.«

    »Wer ist nun pessimistisch?« Andreas strich zärtlich über das schwarze Haar der Schwester.

    Maria hatte Andreas zuvor Unrecht getan, als sie ihn als kalt bezeichnet hatte, denn im Grunde genommen war er sanft und liebevoll. »Wir haben nicht einmal ein Grab, um zu trauern«, sprach sie erstickt.

    »Wir haben den Ahorn, den wir für ihn gepflanzt haben.« Andreas deutete zum Baum, den sie fast erreicht hatten. Hoch war er geworden, stark und gerade gewachsen. »Ganz gleich, ob wir draußen sind, oder aus dem Fenster schauen, er steht da. Unablässig können wir beobachten, wie er wächst und sich in den Jahreszeiten verändert. Das ist unsere Gedenkstätte für Jakob.«

    Maria wischte sich über die feuchten Wangen. »Du hast recht. Verzeih, ich weiß auch nicht, weshalb ich heute so rührselig bin.«

    »Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen. Ich vermisse Jakob ebenso. Wir alle mussten Verluste erleiden. Denk an Markus. Die Brüder meines Freundes sind im Gefecht gefallen, und vor einem halben Jahr hat ein Brand das Leben seiner Eltern ausgelöscht und gleichzeitig das Heimathaus zerstört, während er fernab im Holzschlag schuftete. Plünderer haben ihn ins Unglück gestürzt, zu einem Vollwaisen gemacht, alles abgefackelt, wohl aus Frust, weil es nichts zum Holen gab, was sich lohnte. Ich bewundere ihn dafür, dass er sich so tapfer hält.«

    »Ja, Markus.«

    »Warum sprichst du seinen Namen so seltsam aus?« Andreas musterte die Schwester. Ob er ein bisschen Liebesbote spielen sollte? Die beiden würden gewiss ein hübsches Paar abgeben!

    »Tu ich nicht!«, wiegelte Maria ab. Andreas brauchte nicht zu wissen, dass sie auf diese Freundschaft eifersüchtig war! Ständig lief er zu Markus, und verbrachte seine Freizeit bei ihm. Er hatte einen Zufluchtsort, während Dorli kaum mehr Zeit für sie erübrigte. Zuhause wurde es dazu immer unerträglicher. Vater war dauernd gereizt, scheuchte Mutter und sie umher, während er in seinem Sessel neben dem Herd thronte und sich nur erhob, um die Arbeiten zu überwachen. Früher, da hatte er geschuftet! Nun bedauerte er sich selbst, klagte, wie knapp das Geld wäre und wie ungerecht das Leben einem mitspielen konnte! »Wir sollten weiter, ehe die Eltern über unser verspätetes Kommen sauer werden. Bestimmt können sie uns schon aus dem Fenster sehen, und schimpfen, wenn wir so langsam gehen.«

    ONKEL ALFONS MIT GESCHENKEN

    Schmucklos und schlicht war das elterliche Haus, ein zweigeschossiger Bau aus schwarzgrau verwittertem Holz. Einen Keller gab es nicht. Wenn man näherkam, sah man, dass einiges einer Renovierung bedurfte, wofür das Geld fehlte. Die kleinen Fenster ließen kaum Licht in die Innenräume fallen. Eine Scheibe war gerissen und notdürftig mit Zeitungspapier und Kleister verklebt, sowie mit dickem Stoff verhangen.

    Im oberen Stockwerk standen Eimer und Krüge bereit, die bei Regen das Wasser auffingen, das durch die losen Schindeln tropfte. Der angrenzende Stall war dick gemauert, sodass die Tiere – Kühe, Schweine, Pferde, Schafe und Hühner – einen guten Unterstand hatten, der Schutz vor Wind und Wetter bot. Doch beim aufgesetzten Holzteil fehlten Bretter, machten durch die vielen Lücken die Tenne, in der das Futter für das Vieh lagerte, zugig. An das Stallgebäude angebaut, verbarg sich Georgs Unterkunft, eine Holzbaracke.

    »Was ist das für ein Auto?« Andreas bemerkte zuerst den Wagen, der vor dem Anwesen abgestellt war. Dunkelblauer Lack glitzerte ihnen entgegen, der durch die Sonne reflektiert wurde. Im Dorf gab es drei Familien und diesen Briten, die sich einen fahrbaren Untersatz leisten konnten. Die kannte er. Aus der Gegend stammte der Wagen nicht!

    Maria versuchte, mit den eiligen Schritten des Bruders mitzuhalten. Ob das Walter ist? Hoffentlich bekommen die Eltern keine Probleme, weil ich ihn abgewiesen habe!

    In der Hofeinfahrt wurden sie beide von Mutter abgefangen. »Halt, nicht so

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