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Die Bücherwelt-Saga: Vereint!
Die Bücherwelt-Saga: Vereint!
Die Bücherwelt-Saga: Vereint!
eBook382 Seiten5 Stunden

Die Bücherwelt-Saga: Vereint!

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Über dieses E-Book

Tilda hat in Richard ihre große Liebe gefunden, doch dann muss sie ohne ihn in die Alpen reisen.
Die Swans stehen kurz vor einem Zugang in die Bücherwelt! Angekommen im verborgenen schloss der Swans, muss sie versuchen eine düstere Prophezeiung abzuwenden.
Gemeinsam mit neuen und alten Freunden schmiedet sie einen wagemutigen Plan, bei dem nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht...
SpracheDeutsch
HerausgeberISEGRIM
Erscheinungsdatum7. Aug. 2019
ISBN9783954528202
Die Bücherwelt-Saga: Vereint!
Autor

Stefanie Straßburger

Stefanie Straßburger, Jahrgang 1982, hat Germanistik und Vergleichende Kulturwissenschaften studiert und arbeitet seit 2007 als Texterin und Redakteurin – zunächst im Angestelltenverhältnis für Werbeagenturen, seit 2011 als freie Journalistin und Autorin für diverse Verlage und Firmenkunden. Autorin zu werden, war schon als Kind ihr Berufswunsch. Auch wenn der Schreiballtag nicht immer so einfach ist, wie sie es sich damals ausgemalt hat: Heute ist sie sehr glücklich, ihren drei Kindern beweisen zu kön¬nen, dass sich Träume erfüllen, wenn man an sie glaubt.

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    Buchvorschau

    Die Bücherwelt-Saga - Stefanie Straßburger

    erzählen.

    Prolog 

    Richard ließ sich auf dem Küchenstuhl nieder. Er hatte einen langen Tag hinter sich. Aber das war es nicht, was ihn so erschöpfte. Er war noch immer neu in dieser Zeit. Und so sehr die Swans ihm auch durch beschleunigtes Lernen dabei geholfen hatten, die letzten hundert Jahre aufzuholen, so fremd fühlte er sich doch oft im 21. Jahrhundert. Elektrische Geräte bediente er mittlerweile blind, an die Mode hatte er sich längst gewöhnt und auch die Musik dieser Zeit mochte er. Und dennoch erschien ihm alles manchmal wie durch einen Schleier, als wäre es nicht real, als gehöre er nicht hierher. Einzig Tilda konnte ihm das Gefühl geben, dass er hier zu Hause war. Sobald sie in seiner Nähe war, war jede Sorge vergessen. Mit ihr an seiner Seite war er glücklich und vergaß jegliches Heimweh.

    War es wirklich Heimweh, das ihn belastete? Nein, das war es nicht. Er hatte sich im London des beginnenden 20. Jahrhunderts nie wohl gefühlt, hatte nie wirkliche Freunde gehabt. Seine Mutter war ein einziger Scherbenhaufen gewesen und sein Vater ein Tyrann. Sein Leben hatte nur aus der Vorbereitung seiner Reise in die Bücherwelt bestanden. Er war für die Swans eine Art Messias. Der einzige, der es schaffen konnte, die Grenzen zu überwinden. Und er hatte versagt. Aber er bereute es nicht. Ganz im Gegenteil: Es hätte ihm nichts Besseres passieren können als seiner Vergangenheit den Rücken zu kehren.

    Aber da gab es auch noch Erika, seine kleine Schwester. Er erinnerte sich, wie sie mit acht Jahren ihre erste Vision gehabt hatte. Wie verstört sie gewesen war. Er war für sie da gewesen, hatte ihr geholfen, die Bilder in ihrem Kopf zu ordnen und einen Sinn daraus zu ziehen. Er hatte es ihr immer angesehen, wenn sich eine neue Vision ihren Weg bahnte und Erika dann geschickt aus der Öffentlichkeit gezogen. So stark und selbstbewusst sie sonst war – während ihrer Visionen war sie schwach und angreifbar. Und auch danach brauchte sie ein wenig Zeit, um sich zu erholen. Er hatte ihr immer zur Seite gestanden und die zum Teil schrecklichen Visionen mit ihr gemeinsam aus ihrem Kopf vertrieben. Das hatte natürlich nur solange funktioniert, bis sie ihre Visionen den Swans melden musste. Aber auch dann hatte sie immer seinen Trost gesucht und sich in seine schützenden Arme geworfen. Was sie wohl ohne ihn machte? Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, ihr zu schreiben.

    Richard seufzte tief. Erika war längst tot. Das einzige, was er tun konnte, war ihr Grab zu suchen. Aber das wollte er nicht. Er hatte seine kleine Schwester verlassen, als sie 17 Jahre alt war. Und genau so wollte er sie in Erinnerung behalten.

    Doch da war auch noch der Gedanke an Anna, der ihn belastete. Seine Frau, die ihn über alles geliebt hatte. Er hatte diese Liebe nie erwidern können. Für ihn war Anna eine nette junge Frau gewesen, die ihm die arrangierte Zweck-Ehe, wie sie bei den Swans üblich war, enorm erleichtert hatte, weil sie ihn tatsächlich von Herzen liebte. Er hatte schon immer ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber gehabt, weil er ihr niemals hatte geben können, was sie ihm gab. Doch das hatte sie nicht gekümmert. Solange er da gewesen war, war sie glücklich. Jetzt war er fort und es versetzte ihm einen Stich, sie vollkommen alleine zu wissen. Aber was sollte er tun? Es stand nicht in seiner Macht, die Dinge zu ändern. Er war nun einmal hier. Und hier war er glücklich – zumindest, wenn Tilda da war.

    Tilda. Heute Abend war sie bei ihrer Schwester Emi. Ein längst überfälliges Treffen, das wusste er. Und er gönnte ihr diesen Abend. Gleichzeitig quälte ihn ein Gedanke, der schon seit Längerem an ihm nagte: Er musste Tilda von Anna erzählen. Aber er hatte es bisher nicht übers Herz gebracht. Tilda würde am Boden zerstört sein, wenn sie erfuhr, dass er bereits verheiratet war. Ihm bedeutete diese Ehe nichts. Aber das würde Tilda nicht verstehen. In seiner Zeit waren Swan-Ehen reine Zweckgemeinschaften gewesen, hatten mit normalen Ehen nicht das Geringste zu tun. Für ihn war Anna eine Freundin, mehr nicht. Zugegeben: Eine Freundin, mit der er im Bett gewesen war. Aber auch das bedeutete Richard nichts. Doch er wusste, dass es für Tilda wichtig war, dass sie maßlos enttäuscht wäre. Deshalb würde er weiter schweigen, um sie nicht zu verletzen. Er seufzte abermals tief. Er hatte nicht die geringste Lust, Tilda zu belügen. Aber er konnte sie nicht mit der Wahrheit belasten. Sein Leben spielte sich hier und jetzt ab. 1908 war Vergangenheit. Er hatte mit seinem alten Leben abgeschlossen. Er musste seinen Fokus nun auf das richten, was vor ihm lag. Die Prophezeiung, die irgendwann eintreten würde, nagte an seiner Seele. Er durfte nicht zulassen, dass Tilda starb. Wenn er doch nur wüsste, wie …

    Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Der Portier meldete eine Besucherin an. Mia. Wenige Augenblicke später öffneten sich die Aufzugtüren und Mia kam mit versteinerter Miene herein.

    »Hi«, sagte sie missmutig und ließ sich neben ihm auf dem freien Stuhl nieder.

    »Hallo«, erwiderte Richard und versuchte sich an einem Lächeln.

    »Was ist denn los?«

    »Meine Oma ist gestorben«, meinte Mia tonlos.

    Richard setzte einen mitfühlenden Blick auf. »Das tut mir leid.«

    »Danke. Wir hatten kaum Kontakt. Und ehrlich gesagt konnte ich sie nicht leiden.« Mia verzog das Gesicht.

    »Aber jetzt fehlt sie dir trotzdem, hm?«, fragte Richard.

    »Nein, das ist es nicht«, brummelte Mia. »Ich habe etwas von ihr bekommen. Für dich.« Sie zog einen braunen Umschlag aus ihrer Tasche und schob ihn über den Tisch.

    In schwungvoller Handschrift stand Richards Name darauf und erinnerte ihn an etwas. Richard sah sie verwirrt an. Er kannte Mias Oma nicht. Was sollte er mit dem Umschlag?

    »Mach schon auf. Er ist wirklich für dich.«

    Richard nahm das Kuvert, das offenbar sehr alt war, an sich. Das Papier war bereits verblichen. Aber es war noch versiegelt. Mia hatte noch nicht hineingesehen. An ihren angespannten Gesichtszügen erkannte er, dass sie neugierig war. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass er den Brief öffnete.

    Mit zitternden Fingern zerstörte er das rote Siegel, öffnete den Umschlag und zog ein Blatt daraus hervor, auf dem in ordentlicher Handschrift etwas geschrieben stand. Es dauerte nicht lange, bis er die Zeilen gelesen hatte. Sie wühlten ihn innerlich auf, aber er ließ sich nichts anmerken. Mit unbewegter Miene schaute er zu Mia hinüber. »Sagst du mir jetzt, wie du an diesen Brief gekommen bist?«

    »Was steht denn drin?«, fragte Mia neugierig.

    »Das geht dich nichts an«, antwortete Richard entschieden.

    »Schön«, sagte Mia trotzig. »Dann sage ich dir auch nicht, woher ich den Brief habe.«

    Richards Ausdruck wurde flehend. »Bitte Mia. Das ist wirklich wichtig. Ich muss es wissen.

    Mia seufzte. »In Ordnung. Es geht mich wohl wirklich nichts an, was drinsteht. Also gut. Meine Oma hat jedem Familienmitglied etwas hinterlassen. Ich habe eine kleine Kiste bekommen, in der drei Dinge waren: Ein Brief für mich, dieser Umschlag und … ein Foto von dir.«

    »Ein Foto von mir?«, schnaubte Richard.

    »Ein sehr altes Foto«, ergänzte Mia. »Es stand die ganze Zeit in ihrer Wohnung. Als ich noch klein war, habe ich sie einmal danach gefragt. Sie sagte, das sei der Mann, der kurz davorstand, die Welt zu befreien. Mehr habe ich nicht erfahren. Aber als ich dich zum ersten Mal in Tildas Wohnung sah, habe ich dich sofort wiedererkannt. Und jetzt habe ich dieses Foto geerbt.«

    »Das ist nicht möglich!« Richard fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Wie konnte Mias Oma an ein Foto von ihm gelangen?

    »Doch, das ist es«, sagte Mia leise. »Meine Oma hat es von ihrer Mutter bekommen, also von meiner Urgroßmutter. Sie hieß Anna. Anna Brandt.«

    Richard brachte kein Wort mehr heraus. Anna? Seine Anna? Sie sollte Mias Urgroßmutter sein?

    »Sie hat dich geliebt, Richard«, fuhr Mia fort.

    »Ich weiß«, war das einzige, das Richard herausbrachte.

    »Weiß Tilda davon?«, fragte Mia mit gesenkter Stimme, als könne jemand zuhören.

    »Nein!«, entfuhr es Richard. Mit gequältem Gesichtsausdruck fügte er hinzu: »Bitte sag ihr nichts davon. Sie würde das nicht verstehen.«

    Mia nickte. »Jedenfalls«, sprach sie weiter, »hat meine Oma veranlasst, dass ich diese Dinge sofort nach ihrem Tod bekomme.«

    »Aber woher…?« Richard hatte sich noch immer nicht gefangen.

    »Eine Vision hat es ihnen verraten. Von deiner Schwester. Sie lässt dich grüßen. Stumm öffnete sie die Innentasche ihrer Jacke, zog ein Blatt Papier daraus hervor und reichte es ihm.

    Liebe Mia, stand dort in derselben geschwungenen Handschrift, die er sofort wiedererkannte. Es war Annas Handschrift. Daran gab es keinen Zweifel.

    Ich muss dich um etwas bitten, was dir sehr ungewöhnlich erscheinen muss. Und dennoch ist es ungeheuer wichtig, dass du alles tust, was du hier liest. Denn nur so lässt sich die Katastrophe vielleicht noch aufhalten.

    Sieh dir das Foto an, das du hoffentlich unversehrt bekommen hast. Es zeigt einen Mann, den du kennst. Richard. Er ist mein Ehemann. Oder besser gesagt: Er war es, bis er mich und diese Zeit verlassen hat, um in die Bücherwelt zu gelangen. Ich weiß nicht wie und ich weiß nicht warum, aber er ist irgendwie in der Zukunft gelandet.

    Erika hatte eine Vision, die genau dies besagt. Und Erikas Visionen stimmen immer. Du fragst dich sicher, wer Erika ist. Sie ist Richards Schwester. Ihre Art, mit den Visionen über Richard umzugehen, ist die, alles danach sofort wieder zu löschen. Sie will sich nicht damit belasten und meint, es falle ihr auf diese Weise leichter, mit dem Verlust umzugehen. Vorher aber erzählt sie mir alles und ich bewahre es in meiner Erinnerung auf. Zumindest eine Weile noch. Am liebsten hätte ich meinem Leben sofort ein Ende gesetzt, als klar war, dass Richard nie wieder zu mir zurückkehren wird. Aber als Erika mir erzählt hat, dass du, meine Urenkelin, einmal auf ihn treffen wirst (ich hoffe, sie hat deinen Namen richtig verstanden), wusste ich, dass ich noch eine Weile durchhalten muss.

    Ich will dich nicht mit meiner Trauer belasten. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich Richard von Herzen geliebt habe. Ich tue es noch immer. Und dennoch ist er mein Untergang, weil er mich verlassen hat.

    Genau davor möchte ich dich bewahren. Die Prophezeiung sagt voraus, dass Richard dein Glück wird, aber auch dein Untergang. Genau wie bei mir. Ich weiß nicht, in welcher Beziehung du zu ihm stehst. Aber ich hoffe inständig, dass du dich nicht in ihn verliebt hast. Denn falls es so ist, wird die Geschichte dasselbe schreckliche Ende nehmen wie bei mir. Ganz egal wie sehr du ihn liebst: Lass los und werde ohne ihn glücklich. Du hast noch die Chance dazu. Eine Chance, die ich niemals hatte. Erika hat mir vorhin gesagt, sie sieht dich bei einem klärenden Gespräch mit ihm. Kurz nachdem meine Tochter verstorben ist. Und sie sieht ihn zu diesem Zeitpunkt in einer Beziehung mit einer anderen Frau. Das ist der richtige Moment, um den Kontakt zu ihm abzubrechen. Für immer.

    Sag ihm, was du noch zu sagen hast. Und gib ihm den Umschlag. Er wird verstehen, dass ihr keinen Kontakt mehr haben dürft. Dann kehre ihm den Rücken, so schwer es dir auch fallen mag. Das ist die einzige Möglichkeit, deinem Untergang zu entgehen.

    Deine Uroma Anna 

    Richard schluckte schwer. Seine Vergangenheit holte ihn gerade ein, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Aber er verstand nicht ganz, was Anna mit diesem Brief sagen wollte.

    »Mia! Du bist doch nicht wirklich …« Er wagte es kaum auszusprechen.

    »Nein.« Mia schüttelte energisch den Kopf. »Du Dummkopf. Ich verliebe mich doch nicht in den Freund meiner besten Freundin!«

    Richard fiel ein Stein vom Herzen und er lächelte Mia dankbar an. Aber was war es dann? Anna hatte sich ganz offensichtlich getäuscht mit ihrer Vermutung. Erikas Vision konnte nicht falsch sein. Sie hatte gesehen, dass er Mias Glück und Untergang zugleich sein sollte. Er verstand nur nicht, was damit gemeint war.

    Tilda war wütend. Sie liebte das Lesen. Wenn sie las konnte sie abtauchen in fremde Welten, Teil von ihnen werden, Abenteuer an der Seite der vielfältigsten Protagonisten erleben und trotzdem immer sie selbst bleiben. Seit sie ihr Lebensbuch gefunden hatte, war ihr fast all das tatsächlich passiert: Sie war abgetaucht in eine fremde Welt, sie war Teil von ihr geworden und hatte fantastische Abenteuer erlebt. Der entscheidende Unterschied lag darin, dass sie das Buch nicht einfach zuklappen und ihr Leben weiterleben konnte. Das Buch hatte ihr Leben verändert. Sie war Teil einer Geschichte geworden, in der sie noch nicht ihren Platz gefunden hatte. Einer Geschichte, in der sie sich manchmal nicht zu Hause fühlte. Einer Geschichte, in der sie sich oft nutzlos vorkam.

    Sie beneidete alle Personen, die ein Buch einfach nur lesen durften, ohne es Herr über ihr Leben werden zu lassen. Sie fühlte sich dem, was war, und dem, was noch kommen würde, hilflos ausgeliefert. Sicher, sie hatte ihren Traummann gefunden und eine Luxuswohnung bekommen. Trotzdem hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, es wäre nicht richtig. Am meisten ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hatte sich von einer lebensfrohen, selbstsicheren Person in eine Marionette verwandelt. So sehr sie auch an den Fäden zog und so sehr sie versuchte sich einzureden, dass sie losgelöst war und damit selbst über ihr Leben entscheiden konnte: Sie hatte immer das Gefühl, dass da eine Macht war, die ihr Schicksal bestimmte, ohne dass sie es beeinflussen konnte. Mehr noch: eine Macht, die sie Dinge tun ließ, die sie selbst nicht an sich leiden konnte.

    Und sie vermisste Titus so sehr, dass es wehtat. Dieser kleine Kerl, der innerhalb kürzester Zeit zu ihrem engsten Freund geworden war, der ihr Leben inund auswendig kannte und der ihr für alles eine Antwort oder Erklärung liefern konnte: Er war verschwunden seit er und Richard aufeinander getroffen waren.

    Immer wieder sah sie ihn vor sich, wie er das Gänseblümchen – ihre einzige Verbindung zueinander – zwischen seinen rundlichen Fingern zerrieb, die Lippen vor Wut fest zusammengekniffen. Sie wusste, dass Bücherwesen und Swans die ärgsten Feinde waren. Aber Richard und Titus waren beide ihre Freunde – konnten sie da nicht eine Ausnahme machen?

    Tilda hielt den Anhänger, der für eine Zeit das Gänseblümchen bewahrt hatte, bevor Titus es aus eigenem Wunsch zerstört hatte. Immer und immer wieder redete sie sich ein, sie könnte auch ohne Gänseblümchen Kontakt zu Titus aufnehmen. Sie schniefte. Na toll, jetzt verfiel sie auch noch in Selbstmitleid. Sie wusste, dass Titus irgendwo da draußen war. Sie musste es nur irgendwie schaffen, wieder eine Verbindung zu ihm zu bekommen.

    Die Tür ging auf und Richard kam herein. Sofort wurde Tilda leichter ums Herz. Sobald Richard in ihrer Nähe war, fühlte sie sich geborgen. Er küsste sie liebevoll auf die Stirn, setzte sich neben sie und fragte: »Was ist los mit dir? Du siehst besorgt aus.« Tilda kämpfte mit den Tränen. Immer, wenn sie kurz davor war, über das zu sprechen, was sie bedrückte, wollten sich die Tränen vordrängen und schneller an die Oberfläche sprudeln als ihre Worte. Während Richard sie fragend ansah und auf eine Antwort wartete, tobte in Tilda ein stummer Kampf zwischen ihren Worten und ihren Tränen. Wieder einmal gewannen die Tränen: Eine von ihnen kullerte aus Tildas rechtem Auge und lief über ihre Nase, wo sie von der Nasenspitze heruntertropfte. Richard fing sie mit seiner Hand auf und nahm Tilda fest in seine Arme. Das gab Tildas Tränen noch mehr Kraft. Mit aller Macht wollten sie aus ihren Augen sprudeln. Gleichzeitig aber kamen auch die Worte und deshalb schniefte sie und sagte unter Tränen, was sie belastete. Sie hasste ihre Stimme, wenn sie vom Weinen belegt war und schämte sich. Aber Richard gab ihr mit jedem Blick und jeder Geste zu verstehen, dass sie keinen Grund dazu hatte. Er hörte ihr geduldig und aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie geendet hatte, stand er auf, ging durch den Raum ihres wunderschönen gemeinsamen Wohnzimmers und blickte aus dem Fenster. Die Blätter an den Bäumen waren alle braun geworden. Mit jedem Windstoß segelte eine weitere Gruppe von ihnen auf den kalten Boden.

    Richard fuhr sich mit einer Hand durch die dichten braunen Haare und dachte einen Moment nach. Dann kam er zu Tilda zurück, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, begann er. »Es ist für keinen von uns eine leichte Situation. Auch ich fühle mich so oft wie eine Marionette. Aber ich weiß ganz tief in mir, dass all das irgendwann einen Sinn ergibt. Und bei all den negativen Gedanken hast du das Allerschönste vergessen: Wir haben uns gefunden.« Er blickte ihr tief in die Augen und Tilda wurde augenblicklich warm ums Herz.

    »Glaub mir, du bist weder hilflos noch nutzlos. Du bist der wundervollste Mensch aller Zeiten – und das darfst du wörtlich nehmen. Hab Vertrauen in dich. Ich weiß, dass du zu viel mehr fähig bist, als wir alle jemals ahnen konnten. Und erlaube dir, an Wunder zu glauben.« Er fing ihren fragenden Blick auf und lächelte vorsichtig. »Hast du denn vergessen, dass du selbst eines bist?«

    Tildas Handy klingelte nun schon zum dritten Mal, aber sie hatte keine Lust, sich an ihrem freien Samstag so früh aus dem Bett zu quälen. Draußen war es noch dunkel und sie fühlte sich, als hätte sie keine drei Stunden geschlafen. Mit einem Auge schielte sie auf das Display ihres Telefons. Der Anruf kam von einer ihr unbekannten Telefonnummer. Wie Richard nur so seelenruhig weiterschlafen kann! Aber vermutlich ist der Anruf wichtig. Seufzend stieg Tilda aus ihrem kuschelig warmen Bett, darauf bedacht, Richard nicht aufzuwecken und schlich sich ins Wohnzimmer, wo ihr ein eisiger Luftzug entgegenkam. Sie musste am Abend zuvor vergessen haben, das Fenster zu schließen und der November war erbarmungslos ins Wohnzimmer gezogen. Fröstelnd machte Tilda das Fenster zu, schnappte sich die Sofadecke und zog damit weiter ins Gästezimmer ihrer Luxuswohnung, die sie dank ihrer Zugehörigkeit zu den Swans kostenfrei nutzen durften. Eins hatten die eisigen Temperaturen für sich: Tilda war nun hellwach, als sie die unbekannte Nummer zurückrief.

    Schon beim ersten Läuten meldete sich eine helle Stimme: »Tilda! Ein Glück, dass du wach bist!« Es war Mia, Tildas beste Freundin, die – wie Richard – ein Swan war und über magische Fähigkeiten verfügte. »Mia! Was ist denn los? Und von welcher Nummer hast du angerufen?«, fragte Tilda.

    »Das ist das Telefon am Empfang der König AG«, antwortete Mia. »Ich war in der Abtei und dort darf man doch keine Handys mitnehmen. Meins liegt noch im Auto.« Sie lachte. »Aber pass auf: Es ist wirklich wichtig, dass du sofort herkommst. Wir haben ein Serum entwickelt, um die Herzbande künstlich zu erzeugen. Jürgen und ich haben die ganze Nacht an der finalen Zusammensetzung getüftelt und jetzt glauben wir, dass wir es endlich geschafft haben, das Ganze zu vollenden. Aber es fehlt uns noch eine letzte Zutat.«

    Tilda merkte, dass sie trotz des Kälteschocks eben noch immer sehr müde war, weil sie sich schwertat, Mias Redeschwall zu folgen. Sie hatte kaum mehr als ›Herzbande‹ und ›Abtei‹ verstanden und nickte abwesend, bis ihr auffiel, dass Mia sie nicht sehen konnte. »Ja, ist in Ordnung. Ich komme«, murmelte sie und legte auf, während Mia in einen erneuten Begeisterungsschwall ausbrach.

    Als sie Zähne putzend im Bad stand, wurde ihr bewusst, was das alles bedeutete. Wenn es Mia und Jürgen König wirklich gelungen war, die Herzbande künstlich zu erzeugen, dann konnten sie damit eine enorm große Emotion erzeugen, die imstande war, die Tore der Bücherwelt zu sprengen. Noch immer war sich Tilda nicht im Klaren darüber, welche Auswirkungen dies wirklich hatte. Tilda und Richard waren die einzigen Menschen, die jemals die Bücherwelt besucht hatten. Sie war Tilda als graue, leblose Welt in Erinnerung geblieben. Der Lesesaal, in dem unendlich viele kleine Bücherwesen, so wie Titus eines war, aus den Lebensbüchern der Menschen lasen, war der einzig zauberhafte Ort. Vor allem die Erinnerung an die Wächter, die mächtigsten der Bücherwesen, jagte ihr Angst ein. Natürlich wusste Tilda, dass sich alle Bücherwesen – ob Schreiber, Leser oder Wächter – von Energie ernährten. Aber die Wächter waren unersättlich und scheuten nicht davor zurück, so lange weiterzumachen, bis der Mensch, dessen Energie sie raubten, starb. Nicht auszudenken, was geschah, wenn diese Gestalten hierherkamen.

    Auf dem Weg in die Tiefgarage schrieb Tilda eine kurze SMS an Richard, um ihm mitzuteilen, wo sie war. Sobald er aufwachte, würde er sicherlich nachkommen.

    Als sie mit ihrem Auto unterwegs in die Abtei war, klingelte Tildas Handy erneut. Aus alter Gewohnheit wollte sie rechts ranfahren, um sicher zu telefonieren, als ihr einfiel, dass sie das gar nicht brauchte. In ihrem BMW i3, den sie – wie die Wohnung – im Sommer von der König AG bekommen hatte, war natürlich eine Freisprecheinrichtung installiert. Beim Blick auf die Temperaturanzeige wurde ihr bewusst, dass sie noch immer keine Winterreifen hatte. Das musste sie schleunigst erledigen. Als sie das Gespräch annahm, hörte sie Jürgen König im Hintergrund fluchen.

    »Mia? Bist du das?«, fragte sie.

    »Ja, oh Mann, Tilda.« Mia hörte sich sehr bedrückt an. »Tut mir so leid, dass ich dich so früh geweckt habe. Bist du schon unterwegs?«

    »Ja, bin ich.«

    »Mist. Entschuldige. Aber ich glaube, du kannst wieder umdrehen. Wir haben …« Wieder fluchte Jürgen König unverständlich im Hintergrund.

    »Warum? Was ist denn passiert? Ich dachte, ihr hättet ein Serum entwickelt?«, fragte Tilda.

    »Das haben wir auch. Aber es ist … ähm … noch nicht ganz ausgereift, wie sich eben herausgestellt hat.« Weil das Fluchen im Hintergrund leiser wurde, nahm Tilda an, dass sich Mia von König wegbewegte. »Hör zu«, flüsterte die nun fast. »Du bist die letzte Zutat für unser Serum. Also nicht du komplett. Sondern deine Energie. Aber das ist gleichzeitig auch das Schwierige daran. Jürgen meinte, er hätte eine Idee, wie man sie extrahieren könne. Als wir es eben bei Constanze versucht haben, ist das gründlich in die Hose gegangen.«

    Tilda hielt den Atem an und entschloss sich, trotz Freisprecheinrichtung rechts ranzufahren.

    »Warum? Was ist passiert? Ist Constanze verletzt?«, fragte sie und war nun unbewusst ebenfalls zum Flüsterton übergegangen. Constanze war ihr quasi aufgezwungen worden, als sie in die Gemeinschaft der Swans aufgenommen worden war und ihr Kontakt war rein beruflich. Dennoch wollte sie nicht, dass ihr etwas zustieß.

    »Naja«, begann Mia und fuhr nach kurzem Zögern fort. »Wir haben ihre Energie extrahiert, soviel steht fest. Aber sie einzufangen, ist uns nicht gelungen. Sie ist entwichen und hat sich überall verstreut. Und Constanze ist … ein wenig neben sich. Ihre magischen Fähigkeiten sind im Moment auf ein Minimum reduziert.«

    »Aber es geht ihr gut?«, hakte Tilda noch einmal nach.

    »Sie ist unverletzt, aber sehr schwach«, antwortete Mia, deutlich schuldbewusst. »Ihre Fähigkeiten kommen schon wieder, mach dir keine Sorgen. Ich … hätte es mir nie verzeihen können, wenn dir etwas passiert wäre. Ich verspreche dir, dass wir erst weitermachen, wenn es einen hundertprozentig sicheren Weg gibt.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Es tut mir leid«, sagte sie ehrlich zerknirscht.

    Tilda kannte ihre Freundin nur zu gut. Auch wenn sie mit ihrem Schneewittchen-Look und ihrer zierlichen Figur nicht den Anschein erweckte, so war sie doch mutig, gewissenhaft und äußerst ehrgeizig. Scheitern gab es für sie nicht. Dass sie wegen Mias Ehrgeiz fast verletzt worden wäre, gab ihr trotzdem zu denken. »Ist schon ok«, meinte sie daher nur und legte auf.

    Wo bin ich nur gelandet? Vor einem halben Jahr war meine Welt noch in Ordnung. Keine Zauberei, keine Swans, keine Bücherwesen. Keine Gefahr. Sie dachte an ihr Buch, in dem immer wieder Szenen aus ihrem Leben aufgetaucht waren, die sich danach genauso ereigneten. Hatte ich eigentlich jemals eine Chance, all dem hier zu entrinnen? Oder war das alles schon immer für mich vorbestimmt?

    Tildas Lebensbuch war sicher verstaut und mit einem Siegel verschlossen. Sie hatte Richard versprechen müssen, es nicht mehr zu öffnen. Denn eine Szene darin hatte ihren Tod vorausgesagt – während sie ihr Buch in den Händen hielt. Um dem zu entgehen, hatte sie nur eine Möglichkeit: Sie durfte ihr Buch nie wieder anfassen, dann konnte sich auch die Prophezeiung niemals erfüllen. Noch immer sah sie die Worte vor sich:

    Schmerz. Alles, was sie fühlt, ist Schmerz. Die Zeit ist abgelaufen. Ihre Hände umklammern noch immer das Buch. Sie ist nicht bereit, es ihnen zu geben. Niemals. Aber sie spürt bereits, wie das Leben aus ihr entweicht. Sobald sie tot ist, ist das Buch frei. Frei für den Feind.

    Wieder fühlte sie sich ausgeliefert. Sie wusste nicht, wie sie ihrem Schicksal entrinnen sollte. Richard hatte gesagt, jede Prophezeiung würde sich erfüllen. Wie in Trance fuhr Tilda zurück nach Hause. Leise, um Richard nicht aufzuwecken, schloss sie die Wohnungstüre auf und schlich auf Zehenspitzen den Gang entlang. Als sie gerade zum Schlafzimmer abbiegen wollte, um sich noch einmal zu Richard ins Bett zu kuscheln, hörte sie ihn aus dem Wohnzimmer telefonieren. »Danke. Sie haben mir sehr geholfen«, hörte sie ihn sagen. »Nicht doch«, fuhr er nach einer kurzen Unterbrechung fort. »Sie wissen ja: Die Vergangenheit holt einen irgendwann immer ein.«

    Tilda war verwirrt und wusste nichts mit dem Gesprächsfetzen anzufangen. Weil sie nicht wollte, dass Richard ihr Lauschen bemerkte, schlich sie sich zur Wohnungstür zurück und ging so leise wie sie eben hereingekommen war, wieder nach draußen. Dort wartete sie einige Sekunden, während ihr viele Gedanken im Kopf herumschwirrten. Was hat er damit gemeint? Wieso holt ihn seine Vergangenheit ein? Warum hat er nichts zu mir gesagt?

    Sie atmete drei Mal tief durch und betrat dann erneut die Wohnung. Diesmal versuchte sie, dabei so viel Lärm wie nur möglich zu machen.

    »Tilda! Du bist ja schon zurück!«, rief Richard erfreut, kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Du hast mir gefehlt«, hauchte er, während er ihr mit der Hand durch die honigblonden Haare strich. »Ohne dich aufzuwachen ist sehr einsam«, meinte er und blickte ihr tief in die Augen.

    »Du hast mir auch gefehlt«, murmelte Tilda und erzählte Richard von Mias und Jürgens Fehlversuch, das Serum zu erzeugen. Richard hörte aufmerksam zu, nickte ein paar Mal und schien dann zu überlegen.

    »Worüber denkst du nach?«, fragte Tilda.

    »Ich habe mitbekommen, dass Mia und Jürgen an irgendetwas dran sind«, sagte Richard. »Sie haben sich in letzter

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