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Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes
Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes
Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes
eBook188 Seiten2 Stunden

Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes

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Über dieses E-Book

"Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes" erzählt die Liebesgeschichte von Dorothea und Martin. Wer sind sie und wie haben sie sich aufeinander zugelebt, noch ohne sich zu kennen? Wie haben sie zusammengelebt, sich zusammengelebt und wieder auseinander gelebt und was hat alles dieses beeinflusst?
Und das sind persönliche Divergenzen ebenso wie politisch-gesellschaftliche Umstände.
Ihre Ehe befindet sich schließlich in der absoluten Krise. Sie schaffen es und finden zum Ausgangspunkt zurück; der Liebesheirat. Wem ist das zu verdanken, das steht in dem Text, so reduziert wie mögich geschrieben, ohne die Poesie zu vernachlässigen, besser gesagt,nur mithilfe der Poesie geht diese präzise Verknappung.
In den narraiven Strang sind die so genannten Legenden gebettet. Sie heben das Konkrete in eine philosophische Verallgemeinerung. Dies geschieht mithilfe der Figur des Lieben Gottes. In ganz einfachen Geschichten erzählt der Text, wie der Liebe Gott versucht, eine Schöpfung nach seinem Bild zu machen und wie er dabei immer wieder an seine Grenzen stößt.
Und immer wieder sucht er eine Lösug. Beide suchen, Dorothea und Martin und der Liebe Gott. Sie treffen sich in der Suche nach der Liebe,in der Identifikation mit dieser.
Und so ist diese Text eine Liebesgeschichte überhaupt, eine Hommage an die Liebe über sie als Auftrag und essentielle Daseinsgrundlage.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum31. Mai 2021
ISBN9783740741167
Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes
Autor

Jutta Hager

Jutta Hager wurde 1947 in einem kleinen mecklenburgischen Dorf in der Nähe von Schwerin geboren. Ihre Eltern waren Vertriebene aus der Tschechoslowakei. Kindheit und Jugend verbrachte sie in Mecklenburg. Sie studierte an der Humboldt-Universität in Berlin, heiratete 1575 ihren Mann, Dr. der Physik, und wanderte per Ausreiseantrag 1978 nach Westdeutschland aus. Hier bekam sie ihr drittes Kind, machte das zweite Staatsexamen für das Lehramt für Realschulen und arbeitete schließlich zehn Jahre an einer solchen. Seit dreißig Jahren leitet sie einen Integrationsverein und erhielt für ihre Arbeit 2014 das Bundesverdienstkreuz. Seit 2012 schreibt Jutta Hager Romane und Kindergeschichten.

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    Buchvorschau

    Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes - Jutta Hager

    Inhalt

    Das Tintenfass Sophia oder die Kugeln des Lieben Gottes

    Die Legende vom Wind

    Die Legende vom Glück

    Die Legende vom Zusammensein

    Die Legende von der Zuversicht

    Die Legende von der Liebe

    Die Legende vom Unglück

    Die Legende vom Licht

    Eigentlich nicht

    Das nennt man nicht eigentlich suchen,

    wenn man schon weiß, wo was ist.

    Das nennt man nicht eigentlich finden,

    wenn man es gar nicht vermisst.

    Das nennt man nicht eigentlich lieben,

    wenn man den Liebling erpresst.

    Das nennt man nicht eigentlich halten,

    wenn man ihn fallen lässt.

    (Robert Gernhard, Lichte Gedichte, S. Fischer)

    ***

    »Eine Legende ist eine Lüge, dazu erfunden,

    eine allgemeine Wahrheit zu erklären«

    (Carlos Ruiz Zafon „Das Labyrinth der Lichter«

    S. Fischer Verlag 2017 , S. 184)

    Das Tintenfass Sophia

    oder die Kugeln des Lieben Gottes

    Manchmal findet man etwas bei der Räumerei, etwas, das einen ablenkt, obwohl man nicht weiß, wovon. Manchmal findet man etwas Überraschendes, etwas verloren Geglaubtes oder etwas, dessen man sich schon längst entledigt gedacht hatte.

    Das größte Glück ist jedoch, wenn man das findet, das einem bewusst macht, wonach man gesucht hat und immer noch sucht.

    Es hat nichts genützt, dass Dorothea ihr Zimmer aufgeräumt hatte. Weil es nichts mehr zu ordnen gibt, die Bücher sind nun nach Autor gestellt und nicht mehr nach Gattung, was Dorothea noch vor Monaten als das einzig würdige Prinzip verteidigt hatte, kocht sie sich Tee.

    Hierin unterscheidet sie sich nicht von allen anderen. Zudem haben wahrscheinlich auch die anderen eine spezielle Teekanne.

    Eine gute Methode, das Loch zu stopfen, wäre auch gewesen, ein Bad zu nehmen.

    Wird vielfach angewendet und je nach Luxusbedürfnis, das zumindest kann ich mir leisten, mit zwei oder fünf Ingredienzen befüllt. Ein Bad hat Dorothea nicht.

    So nimmt sie schließlich ihren Mantel, Schal und Handschuhe und flüchtet ins Spazierengehen.

    Dorothea sieht den Leuten ins Gesicht. Würde sie dieses Mal jemand erkennen?

    Nach ihren bisherigen Erfahrungen ist damit nicht zu rechnen. Sogar wenn viele Minuten Zeit war, beim Schlange stehen im Plattenladen, beim Stöbern in den Buchläden, irgendwo, wo viele Menschen beisammen sind, hat sie niemand erkannt. Und sie hat auch niemanden erkannt. Und dabei waren die hier doch ihres Geistes? Nicht in der U-Bahn, in keinem Park, an keinem See, nicht im Hörsaal oder sonst wo hat sie jemals jemand erkannt. Hat sie jemanden erkannt? War die Welt eigentlich leer und sie unrettbar alleine? Wozu also spazieren gehen?

    Dorothea versucht, diese immer gleichen Gedanken und Empfindungen, die sich in einem Gefühl, überflüssig, ja peinlich zu sein aufdrängen, zu verscheuchen. In einer großen Stadt gelingt das für eine Weile. Der Straßenverkehr fordert Aufmerksamkeit. Dorothea schaut auf die Bücher der Auslagen und überlegt, was sie sich als nächstes kaufen würde.

    Im nächsten Monat musste die achte Ausgabe der Reihe Internationale Erzählungen herauskommen, sie hat alle bisherigen Bände. So spricht sie mit aller Welt und diese mit ihr. In der S-Bahn schaut sie, was die Leute lesen und sie schaut auch hier in ihre Gesichter. Den Leuten ist das unangenehm, sie sehen weg, niemand lächelt. Selbst wenn sie Walt Whitman gelesen hätten, hätte das wohl nichts geändert; sie haben ihn gelesen, nicht mit ihm gesprochen. Sie haben ihn nicht berührt.

    Und dann sieht Dorothea sich die Häuser an, die Straßen, die Bäume, die Gardinen und die Lampen, die Straßenlaternen, die Bänke, Kirchen und Kirchtürme, ihre Türen, deren Klinken, ihre Uhren, die Brücken, ihre Geländer und dann muss sie wieder nach Hause gehen. In die Einzelheiten kann sie nicht mehr gehen, mehr geht auf keinen Fall hinein.

    Dorothea hört sich Mozarts Violinkonzert an, auch von ihrem Taschengeld gekauft. Es hat schon mehrere Nadeln gekostet. Die Musik wiederholt die Arabesken, die sie eben in einem alten, halbverrosteten Eisentor eines baufälligen Hauses gesehen hat, sie jubelt mit den nackten, starken, anmutigen Frauenkörpern des Barockbrunnens und sie flüstert und sprenkelt mit dem ruhig fließenden Spreewasser am Dom.

    Dorothea versteht, wieso Kinski und Gregory Peck, genau genommen ihre Regisseure, mitten im Dschungel und in der Wüste einen Plattenspieler aufstellen und klassische Musik abspielen lassen. Sie könnte ihr Violinkonzert ebenso in ihren Wiesen spielen, ihren Wiesen daheim.

    Dort benötigt sie aber keine Wiedergabe, das Original reicht vollends.

    Später hört sie von dem heiligen Franz von Assisi und dass der vor den Tieren in der Wildnis gepredigt hatte. Das wundert sie nicht und auch nicht das mit dem Bruder Sonne und den Schwestern Mond und Wasser in seinen Sonnengesängen. Am ehesten wundern sie der Mond, die Sonne und das Wasser.

    Dorothea packt ihre Studientasche für den nächsten Morgen, macht den Plattenspieler aus und geht endlich schlafen.

    Am nächsten Morgen ist natürlich ein neuer Tag, so eine Plattitüde. Auch dass sie aufsteht, können wir als selbstverständlich ansehen, es bedarf keiner ausführlichen Erwähnung. Es gibt keine depressiven Etappen, bei denen zwischen einem Wecker klingeln und dem Zurückschlagen der Bettdecke zehn sich widerstreitende Gedanken und Empfindungen zu bewältigen wären. Tee macht sie sich auch wieder. Aber neu zu gestern Abend ist ihre wiedererstarkte Zuversicht. Ihre Zuversicht, die sie schon so viele Jahre trägt, die nachwächst wie der Pfennig in Falladas Geschichten vom Geizhals und anderen.

    Einen neuen Tag anzufangen, dazu gehört nicht viel. Aufstehen, Frühstück machen, wer will eine Zigarette rauchen, oder/und die Zeitung lesen, oder auch nur Kaffee trinken, das Zimmer aufräumen oder auch nicht, den Tagesablauf überlegen, und war das ein Scheißtag gestern, oder gar nicht daran denken oder überlegen, ob man sich heute auf etwas freut oder auch nicht, noch Sachen zusammenpacken oder auch nicht und wenn man einen Partner hat, auch für den mitdenken, oder auch nicht . Millionen Menschen in dieser Stadt und überall auf der Welt machen das eine oder andere, dessen ist sich Dorothea bewusst. Sie ist in ihrer kleinen, primitiven Wohnung alleine und froh.

    Bei diesen Gedanken und diesem Gefühl verschwinden die Mauern und schrumpfen die Wege. Dorothea sinnt in die Welt. Und manchmal versetzt sie sich nach Paris in ein Bistro, nach sonst wo, in irgendwo und erfüllt alle Klischees von Frühstück in Kaffeehäusern, auf dem Felde, manchmal setzt sie das Kaffeehaus auf das Feld, sich auf große Terrassen in der Südsee, überall, wo sie noch nie war und höchstwahrscheinlich auch nie sein wird. Sie stellt sich vor, wie sie miteinander reden, sie und die anderen, die sie bis dahin nicht kannte, auch jetzt längst nicht kennt, aber doch schon viel mehr weiß, als nur, dass es sie gibt. Das weiß sie ja jetzt auch. Aber sie hätte sicher gesehen, ob sie lächeln, ob ihre Seele in den Augen liegt und ob sie das auch von ihr wissen wollten. Und wie sie die Welt zu sich heran, in sich hinein holen. Das will Dorothea alles unbedingt wissen. Und sekundenweise stellt Dorothea alle Bilder, die sie je dazu gesehen hat, um sich herum, die in den Schulbüchern, auf den Abreißkalendern mit Kunstpostkarten, auf Postern und Plakaten in Geschäften, in Museen, in Filmen, die bei Leuten. Da kommt was zusammen. Nach Paris kann sie nie fahren. Noch ist das völlig illusorisch.

    Später wird sie diese Schrumpfung andersherum vornehmen und sich immer wieder die Orte, einzelne Stellen und Momente heranholen, die sie einmal erlebt hat. Lebenslang wird es ihr ein Wunder sein, dass sie dann doch nach Barcelona und London, nach Venedig und Padua fahren konnte. Immer wieder sieht sie sich in Urbino stehen und erinnert sich an die von den Berührungen tausender Hände, nun auch schon ihrer, abgewetzte Stelle am Eingang zu Raffaels Haus. Dass das etwas ist, an das sie sich erinnern kann, ein glitzernder Stein im Seelenbestand, das macht sie lächeln.

    Ein paar Nanomillimeter abgetragenes Messing gehen vielleicht jetzt auch auf ihr Konto, dreimal war sie da. Raffael, so lieblich, so kraftvoll. Und Dorothea tröstet das, quasi historisch nachträglich, quasi für ihre Jetztzeit; die Historie legitimiert sie. In diesen dunklen Zeiten, so jedenfalls erscheinen ihr diese stets, konnte es ebenso einen Raffael geben. Dann darf sie den blauen Vogel auch jetzt erwarten, ihn rufen, ihn erträumen, ihm nachsehen.

    Erinnerungen, solche, können lebenserhaltend sein.

    Immer unglaublicher wird ihr diese Parallelwelt von Vergangenheit und Gegenwart und sie meint, so wie alles gleichzeitig da ist, müsste auch sie überall gleichzeitig da sein und Vergangenheit müsste immer auch Gegenwart sein. Vielleicht geht das doch einmal, sich wo hin zu beamen, eigentlich entspricht das ihrem Lebensgefühl, irgendwie ihrer Erwartung. Die Hand ausstrecken und sie ist da. Zu allen Zeiten, in allen Zeiten. Dies bedeutete keine Zerteilung, Aufsplitterung, kein sich Verlieren; Dorothea erwartet eher einen ungeheuren Zuwachs, einen berauschenden Akkord von Schönem und Interessantem, einen summenden Marktplatz der Geschichte. Vielleicht ist das die vierte Dimension, von der sie noch viel hören sollte. Von ihrem Mann. Sie denkt später, schon da haben sie sich aufeinander zu gelebt, jeder in seiner Sphäre.

    Sie träumten verschieden, aber sie träumten.

    Fast ist sie der Versuchung erlegen, mitten auf dem Höhenweg durch die Marken, zwischen zwei Bäumen im Nirgendwo, irgendwo auszusteigen und ein Zeichen in eine Baumrinde zu machen. Im nächsten Urlaub schauen, ob es noch da ist, ob es gewachsen ist, so, wie ihre Wurzeln unterirdisch in die Welt hineinwachsen. Eigentlich ist sie auch eine Pflanze, denkt sie, fühlt sie. Und schon zu ihren Lebzeiten beginnt sie die Metamorphose; ihren Übergang zurück zur Erde, ihrer Mutter.

    Dorothea frühstückt, Schwarztee, Vollkornbrot mit Marmelade und sie macht sich ein Brot zum Mitnehmen, eine dicke Stulle mit Wurst oder Käse. Schon immer hatten alle über ihre dicken Stullen gelacht, sie Bauernbrote genannt. Sie findet den Begriff in jeder Weise passend. Und die Brote auch.

    Es ist ein ganz normaler Studientag. Die Vorlesung in Sprachwissenschaft ist langweilig, obwohl das Thema eigentlich hochinteressant ist; Valenztheorie. Der Professor müht sich redlich klarzumachen, wie sehr die Bedeutung eines Wortes weitere Ergänzungen nach sich zieht, wie unvermeidlich das ist und dass und auf welche Weise also der Text, das Wortgewebe, entstehen muss. Er erklärt, was das überhaupt ist, Bedeutung, es ist, als gebäre die Wirklichkeit das Wort. »Am Anfang war das Wort« kann dann heißen, das Wort ist der erste bewusste Begriff von Wirklichkeit und damit das Tor zu ihrer Gestaltung, zum Menschsein. Und damit wird aus Wort neue Wirklichkeit. Das Wort wirkt. Davor kann man auch Angst bekommen. Sie erinnert sich an die Beschreibungen Victor Klemperers, Hitler spricht. Und wie. Nur das habe man hören brauchen, sagt Klemperer, dann habe man alles wissen können.

    Das Thema ist der Einblick in die Küche der Literatur, in ihre Manufaktur, in ihre Quellen. Und in ihren Sinn.

    Sogar schematisch darstellen könne man dieses, wie in der Chemie die Wertigkeit eines Atoms, an seinen Armen erkennbar. Seine Assistentin versichert den Studenten, dass der Dozent für seine Sprachstudien hoch anerkannt sei, es hilft nicht viel, zu theoretisch das Ganze. Dorothea erkennt noch nicht die Faszination, die in der Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit liegt, das Wort als Photographie, bis in die feinste Verästelung, noch nicht, dass das Wort das Material und der Gegenstand des Philosophen ist, und dass der sucht, womit der Raum des Wortes gefüllt ist. Und das, obwohl genau dieser Umstand sie beschäftigt, seitdem sie lesen kann. Seitdem sie Wort und Ding in jeweils einer Hand hält, sich vor Augen, und dass sie seitdem nach der jeweiligen Entsprechung des anderen sucht, nach der Wahrheit.

    Später begreift sie es, bis hin zur Faszination der Kalligraphen und warum so viele Eingangstüren großer Bibliotheken aus immer wieder anders gestalteten, eisernen, hölzernen oder Buchstaben aus Keramik bestehen; die pure Farbe des Malers, der reine Buchstabe des Schreibenden. Sie versteht, dass hinter den wunderschönen kapitalen Anfangsbuchstaben der alten Evangeliarien nicht nur ein ästhetischer Gestaltungswille steht, sondern die Feier des Eingangstores zu einem als höchste Erkenntnis angesehenen Text.

    Dem Dozenten fehlt außerdem jedes Charisma, für junge Mädchen wichtig.

    Daran erinnert sich Dorothea später, wenn sie ihren Schülern einen sehr trockenen Stoff beibringen will. Inwiefern bestimmen die Länge oder Kürze eines Vokals die Wortbedeutung? Das ist für sie bemerkenswert. Strukturen, ob nun medizinischer, naturwissenschaftlicher, ästhetischer oder sprachlicher Art sind unsere tragenden Gerüste, denkt sie. Dorothea sieht, später, dass alle an demselben Stoff arbeiten, ob Physiker, Sprachwissenschaftler, Künstler oder Theologe; was hält uns und wie ist das gebaut?

    Und wie sollen wir damit umgehen?

    Für diese Erkenntnis ist es jetzt noch zu früh, sie muss noch viel herumlaufen um zu sehen, dass diese Pflanzen und Bäume, die Tiere und die Luft, das Licht und der Laut, die Bewegung und die Stille auf dem Boden ein Wald sind; sie muss noch sehr viel sammeln; sehr viel mehr laufen, schauen und weiter sammeln, mehr und mehr als sie es von Beginn ihres Bewusstseins an ohnehin tut. Sowieso ist sie ein Vielmensch.

    Ganz anders das Lyrikseminar. Hier geht es um einen selber. Die Verse bleiben liegen, im Seelengrund, im Gedankengrund. Regen, der Blüten erzeugt, Leben.

    Manchmal sind die Verse für sie wie der Deckel einer Kiste und auch die Kiste selber, in der schon alles liegt. Einer muss sagen, dass da nichts mehr hinein braucht, dass aber auch nichts fehlen darf, dass die Kiste weggestellt, also zugemacht werden kann. Das ist es, sagt das Gedicht, die Kiste kann, gut verschlossen, auf das Brett gestellt werden, neben die anderen. Blutkonserven. Ihre Zeit wird kommen zu der Dorothea sie wieder aufmacht. Und manchmal sind die Gedichte Schlüssel. So ein Gedicht ist Goethes »An den Mond«. Weiterleben und weiter leben kann sie mit den Gedichten.

    Am meisten berührt Dorothea die Naturlyrik Alles, was dort gesagt wird, kennt sie, jede Szene, jede Metapher, jede Stimmung. Sie ist damit aufgewachsen.

    Jahrzehnte später kauft sich Dorothea eine kolorierte Radierung mit dem Titel »Ein Meter poetische Erde«.

    Der Künstler Markus Landt aus Worpswede hat sie gemacht. Schleifenbogen laufen unter der Erde, aus ihren Berührungspunkten an der Grenzlinie zur Oberfläche wachsen üppige Blumen und Pflanzen und dazwischen sitzen nackte Frauen, den Körper über der Erde, genau auf der Erdenlinie, die Beine in der Erde, mit den Füßen den Grund

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