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Unrasierte Seele: Kaffeehausroman
Unrasierte Seele: Kaffeehausroman
Unrasierte Seele: Kaffeehausroman
eBook272 Seiten3 Stunden

Unrasierte Seele: Kaffeehausroman

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Über dieses E-Book

Mitten in der globalen Wirtschaftskrise eröffnet ein kleines, mutiges Café und verwandelt eine Berliner Seitenstraße in ein romantisches Pariser Gäßchen. „So etwas hat hier gefehlt.“, sagen alle und kommen in Scharen auf ihren neuen „Dorfplatz“. Rund um jenes Café versammeln sich lauter „Unrasierte Seelen“. Lernen Sie beim Lesen bitte kennen: Hilde und Frida, zwei seelenverwandte Frauen, wie sie einander auch vor hundert Jahren hätten begegnen können. Die Soßenprinzessin, das seitenverkehrte Ehepaar, den nicht ganz Anonymen Alkoholiker, Helena mit dem Zopf auf dem Kopf. Ismail und Lisbeth, die von der Liebe gefunden werden, als sie sie am wenigsten erwarten, den Widerstandskämpfer und noch viele andere mehr. Auf das überraschende Ende wären Sie nie im Leben gekommen, verspricht Ihnen Ihre Autorin Katrin Panier-Richter.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Mai 2013
ISBN9783848279937
Unrasierte Seele: Kaffeehausroman
Autor

Katrin Panier-Richter

Katrin Panier-Richter wurde im Sternbild Wassermann in Thüringen geboren. Auf zunächst schnurgeradem Lebensweg kam sie zum Jugendradio DT 64, um sich erste journalistische Sporen zu verdienen. Mit 24 war sie Mutter zweier Kinder, mit 28 erlebte sie den Mauerfall in Berlin. Danach probierte sie vieles aus, Brüche zogen in ihr Leben ein. Seit 1993 arbeitet sie freiberuflich für Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen. 1996 wurde sie "Brandenburgerin des Jahres" für ihr Rundfunk-Feature "Frauen im Stahl". Ab 1997 moderierte sie zwei Jahre lang das "Erfurter Gespräch" im MDR-Fernsehen. Seit Februar 2010 heißt sie Katrin Richter. Bisherige Bücher bei Schwarzkopf & Schwarzkopf Berlin: "Sex gehört dazu. Geschichten vom Erwachsenwerden" (2003), "Zu Hause ist, wo ich verliebt bin. Ausländische Jugendliche in Deutschland erzählen" (2004), "Die schlimmsten Gitter sitzen innen. Geschichten aus dem Frauenknast" (2004) und "Die dritte Haut. Geschichten von Wohnungslosigkeit in Deutschland" (2006).

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    Buchvorschau

    Unrasierte Seele - Katrin Panier-Richter

    MULTIVITAMIN

    LATTE M ACCHIATO

    Wo waren eigentlich all die Leute, bevor es dieses kleine Café in unserer Straße gab?

    Sie sitzt einfach nur da, schüttelt den Kopf und findet keine Antwort auf diese Frage. Wo, um alles in der Welt, sind sie gewesen davor? Saßen sie weinend allein vor ihren Fernsehern? Oder noch schlimmer: gleichgültig? Wer traurig ist, der lebt wenigstens noch. Gefühle sind Zeichen des Daseins. Die wahre Hölle besteht in innerer Leere, im Nichts-Mehr-Empfinden.

    Wenn´s dir im Kopf und Herzen schwirrt,

    was willst du Bess´res haben.

    Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,

    der lasse sich begraben.

    So ist es recht, denkt sie, ein neues Buch gleich mit Goethe anfangen. Da kann ich nichts falsch machen, dann bin ich von vornherein auf der sicheren Seite. Was für eine Ausgangsposition!

    Hier in der Gegend gibt es eine Häuserzeile mit Kellerwohnungen. Zwei davon sind ganz besonders eindrucksvoll. Genau seitenverkehrt liegen sie einander gegenüber. Zwei Wohnzimmer, die eine Spiegelung des jeweils anderen Wohnzimmers sein könnten. Ein Sofa, ein niedriger Couchtisch, der Fernseher. Wand an Wand stehen sie, die beiden Geräte. Und die alten Leute auf den Polstern, jeden Abend pünktlich vor ihrer Mattscheibe, könnten einander anschauen, sie sitzen sich direkt gegenüber – wären da nicht die Trennwand und die beiden Fernseher, Rücken an Rücken. In der einen Wohnung sitzt eine Frau, um die siebzig. In der anderen ein etwa gleichaltriger Mann.

    Manchmal scheint die Frau neben dem Flimmern ein Kreuzworträtsel zu lösen, manchmal der Mann vor seinem Bilderkasten aus einer Flasche Bier zu nippen. Sonst sitzen sie nur da und scheinen weiter nichts zu wünschen als so dazusitzen. Kennen sie sich, sind sie Nachbarn? Oder, was Frida beinahe noch schlimmer finden würde, sind sie gar ein Ehepaar? Ist die umgekehrte Wohnsituation in Wirklichkeit ein und dieselbe Wohnung, geräumig genug, daß jeder sein eigenes TV-Zimmer haben kann?

    An jedem Abend, wenn sie daran vorüberspaziert, sieht Frida jene immer gleiche Szene, die ihr vorkommt wie ein Abbild unserer Zeit. Da sitzen wir, Wand an Wand, Rücken an Rücken, jeder vor seinem eigenen technischen Gerät. Wir schauen in eine Ferne, die es gar nicht gibt, hegen eine Stille, die gar keine ist, weil wir sie uns von vorsortierten Filmen stören lassen. Können sie überhaupt ruhig schlafen, diese beiden, wenn sie nur so sitzen, sich offenbar nicht bewegen und nicht miteinander reden? Fragt sich Frida immer wieder, wenn sie dort vorübergeht. Vielleicht haben sie Pillen zum Einschlafen, das kann gut sein, beinahe jeder Arzt verschreibt sie gern und oft. Ob sie sich aufraffen? Ob sie es eines Tages auch noch ins Café schaffen, diese beiden, wie vor ihnen so viele andere, die aus ihren Stuben heraus gekommen sind? Ist es so gewesen? Dann hätte Hildes Café etwas Revolutionäres bewirkt, jetzt schon, in so kurzer Zeit seines Bestehens.

    Wo sind sie gewesen, die Leute, wenn nicht vor ihren Bildschirmen? Verirrten sie sich im Internet? Sprachen sie mit der Katze? Dem Hund, dem Wellensittich? Grübelten sie darüber nach, warum sie nicht die Kraft aufbrachten, jemanden zu sich einzuladen, oder warum keiner sie zu sich einlud? Fürchteten sie, jemandem zur Last zu fallen, wenn sie einfach so an einer Haustür klingelten? »Lieber nicht«, sagt die angeborene oder eingetrichterte Höflichkeit, und schon ist wieder ein Tag unwiederbringlicher Lebenszeit vorüber. Man steigt ins Bett mit dem Gefühl: Irgend etwas hat mir heute gefehlt. Der Tag war nicht ganz ausgefüllt. Ich habe gar nicht richtig gelebt. Und vom direkten Nachbarn bleiben nur störende, ärgerliche Geräusche, ein nicht gleichgeschaltetes Fernsehprogramm.

    Wo also sind sie gewesen, all die Leute, die jetzt kichernd und schwatzend unter den beigefarbenen Leinenschirmen in der Sonne sitzen? Warteten sie auf etwas, irgend etwas, nicht wissend, was das wohl für sie sein könnte? Nun haben sie es jedenfalls gefunden, immerhin ein Teil von ihnen, immerhin vorläufig. So scheint es ihr, wenn sie das sieht. Tag für Tag sind die beiden Terrassen angefüllt mit Menschen. Plaudernden Menschen, Kaffee trinkenden Menschen, Kuchen essenden. Und sie selbst mittendrin. Mitten unter ihnen und doch ganz für sich allein. So gefällt ihr das. So hat sie es am liebsten.

    Der Gedanke, daß die Leute einen Dorfplatz brauchen, der kommt ihr nicht zum ersten Mal. Aber nun ist sie doch erstaunt, überrascht von ihren Nachbarn. Die halten ihr Geld zusammen, die beäugen scheel eine neue Gastronomität, so hätte sie vermutet. Aber nein! Da sind sie. Alle. Oder fast alle. Und sie lächeln, scheinen großzügig, weltoffen, menschenfreundlich. Ihre unscheinbare Seitenstraße ist über Nacht zu einem romantischen Pariser Gäßchen geworden. Vier-, fünfstöckige, weiß und gelb getünchte, stuckverzierte Mietshäuser ringsum, gut, die stehen hier schon länger. Aber plötzlich haben sie sich verändert. Sie strahlen heller, umzingeln, beschützen ihr neues, uraltes Zentrum, das Café. Es wirkt, als hätte es schon immer da sein sollen. Als hätte nur jemand kommen müssen, es aus der Unsichtbarkeit herauszuheben. So entstehen Bücher, weiß sie. Oft und oft kam es ihr selber, dieses sichere Gefühl, ein Werk sei eigentlich immer schon da gewesen, sie hätte es nur durch ihr Schreiben aus der Unendlichkeit hervor zu holen brauchen. Sagen nicht Bildhauer Ähnliches über ihre Skulpturen? Maler über ihre Bilder. Musiker über ihre Kompositionen?!

    Französische Lebensart in Berlin. Also doch! Es ist möglich. Wenn sie nur auch endlich bei ihr im Innern ankäme. Viel zu rasch noch stellt es sich ein, das diffus schlechte Gewissen. Wenn geschäftige Nachbarn in ihrer gewerkschaftlich vorgeschriebenen Mittagspause an ihr vorübereilen und sie mit Blicken streifen, die bei ihr — übersetzt in Worte, die das nagende Nörgeln unterm Nabel ihr diktieren — etwa so ankommen: »Na klar! Die wieder. Wo auch sonst! Wie immer hockt sie im Café, am hellerlichten Tage. Die muß ja Geld haben! Wo bekommt sie es eigentlich her? Das Herumsitzen und Kaffeetrinken wird ihr ja wohl kaum jemand bezahlen…«

    Frida seufzt. Sie kennt das schon; und zur Genüge. Was sie da hört, was sie da aus den Köpfen der Anderen zu vernehmen glaubt, das sind ja ihre eigenen bloßliegenden Stellen. Das sind die schwachen Punkte, an denen sie bis jetzt noch nicht erstarken konnte. So sehr sie sich auch müht, es klopft und schwelt und puckert noch.

    Haben gleichalte Pariser Lebenskünstlerinnen in hunderten Kaffeehäusern an der Seine das auch? Tief drinnen, unter ihren Fähnchen von Sommerkleidern und dramatisch schwarz umrandeten Augen? Oder sind sie von Geburt an frei davon; leben sie ab Start sorglos genießend im Heute, Hier und Jetzt? Zweites Frida-Seufzen in der selben Viertelstunde. Und ein Fünkchen Neid, falls es tatsächlich so sein sollte. Warum nur ist sie nicht dort zur Welt gekommen, sondern hier? Falls sie sich das ausgesucht haben sollte, griff sie ziemlich daneben. Doch halt! Wieso eigentlich?! Es gibt ja nun dieses kleine Café, das genauso heißt wie ihre Straße, und sie hat noch immer ihre Chance. Also Schultern zurück, Brust heraus, Nase ein wenig höher. Das Gefühl folgt der Position des Körpers.

    »Na, wie geht´s dir heute?« fragt die Café-Chefin Hilde, die nicht gern Chefin genannt werden will.

    »Hilde reicht vollkommen!« hat sie gleich zu Beginn ihrer Nachbarschaft klargestellt. Gleich an jenem Tag, als eröffnet wurde, und als Frida im Überschwang ihre Worte nicht sorgsam wählte; beziehungsweise, als sie sie ihrem eigenen Sinn für humorvollen Respekt folgen ließ. Der muß nicht der eines anderen Menschen sein, sie weiß schon. Also ohne »Chefin«, aber Hildes Frage ist ehrlich gemeint.

    »Wie soll es mir schon gehen!« probt Frida spontan die Französin: »Wie immer. Heute Morgen habe ich einen neuen Bestseller fertig geschrieben. Danach übte ich eine Stunde Yoga, nippte etwas Wasser; und nun lasse ich meinen erschöpften jugendlichen Liebhaber noch ein wenig schlafen, um zu frühstücken! Einen Milchkaffee, bitte, und ein Stück deines herrlichen Rhabarber-Streuselkuchens.«

    Hilde sagt nichts und geht in die Küche. Sie kennt das schon, und sie weiß, was von solchen Wesen zu halten ist. Die eigene Scheu großspurig übertönend wie lautes Pfeifen im dunklen Wald. Aber die macht das schon. Um Frida hat sie keine Angst. Die ist kein Blatt im Wind mehr, auch wenn sie auf Unkundige vielleicht so wirken mag. Diese Frau weiß genau, was sie will. Sie geht ihren Weg.

    Wer wüßte das schließlich besser als sie, Hilde, ihre Seelenschwester.

    ESPRESSO

    Den Sommer genießen, so lange er da ist.

    Jetzt, im Juli, wenn die Sonne scheint und die Terrassenplätze schon ab vormittags besetzt sind, meint sie, er würde nie enden. Dann dauert diese Jahreszeit ewig, und Frida kann sich nicht vorstellen, daß es aufhören, kälter werden könnte.

    Im Winter sehnt sie sich dann zurück: »Ach, hätte ich doch! Hätte ich sie genossen, die warmen Wonnen, hätte ich mich in seine Arme begeben, des Augustes und jenes Mannes, und hätte ich alles andere losgelassen.«

    Aber davor hat sie ja Angst. Sich ganz hinzugeben, den Kopf auszuschalten, die Welt, sich selber nicht länger kontrollieren zu wollen, was ja ohnehin nur eine Illusion ist. Also sieh hin, sagt sie sich. Sieh jetzt hin, in diesem Augenblick. Nimm die schönen Tage, wie sie dir geschenkt werden, gib den Druck auf, der von innen pressen will, laß dir Zeit. Sei eine Lebenskünstlerin in Ausbildung, lach dem Leben zu.

    Das übt sie nun, in ihrer eigenen, auf sie persönlich zugeschnittenen Kaffeehaus-Therapie. Und sie macht kleine Fortschritte, sehr zu ihrem Vergnügen. Schon schaut sie mutwilliger drein, schon fühlt sie sinnlichere Lüftchen auf der Haut, zieht sich bunter und sorgfältiger ausgewählt am Morgen für den neuen Tag an.

    Das Seidenkleid mit den großen blauen und roten Blumen darauf ist über hundert Jahre alt. Wer mag es wohl vor ihr getragen haben? So ähnlich wie sie jetzt in dem betagten Stöffchen sah auch eine Dame aus, die heute im Café saß, an einem einzelnen Tischchen hinter der großen Fensterscheibe, die bis zum Boden hinunter reicht.

    Offensichtlich ging die Dame »konditern«, so hieß das früher beim Kaffeekränzchen ihrer Oma, von dem auch noch erzählt werden muß.

    Jene Gästin also trug eine ähnlich bunte feine Bluse wie aus demselben Stoff, aus dem auch Fridas Uraltsommerkleid gemacht ist. Im Ausschnitt eine Perlenkette, den Rücken auf-, den Blick in eine unbekannte Ferne gerichtet, die außer ihr niemand erkennen konnte. So saß sie da, vor einer Tasse Kaffee und einem Stück Schwarzwälder Kirsch; ein Bild zum Abmalen oder Abfotografieren. Ein Werbeplakat fürs Café. Für solche Besucherinnen sind solche Orte gemacht. Oder für solche wie Frida, die noch übt. Die jetzt versucht, hier zu schreiben, Notizen auf einen Block wirft, und sich immer wieder ablenken läßt, sei es von ihrer eigenen Erscheinung.

    Früher wußten sie jedenfalls besser, wie eine Frau ihre Reize unterstreicht, ohne sie zur Schau zu stellen. Das Dekolleté des Buntseidenen endet unterm Schlüsselbein, die Ärmel umspielen die Bizeps (Ha, Bizeps!) knapp überm Ellenbogen. Die Taille ist eng, da paßt nicht jedwede Figur hinein. Fridas schon. Sie hat auf sich acht gegeben. Sie ist rund und schmal zugleich. Nicht mehr wie ein ganz junges Mädchen, nein, das nicht. Jenen Konkurrenz machen wollen, das findet sie inzwischen reichlich albern.

    Aber ihrem Körper sieht man an, daß er von seiner Bewohnerin geliebt wird. Der glatte Stoff legt sich kühlend um die Haut. Der weite Rock weht gerade so lang um die Waden, daß er Fridas Sünde verbirgt, die sie in diesem Sommer hier begeht. Es ist unaussprechlich. Untergang des Abendlandes! Gerade so, als hätte sie die Zähne nicht geputzt. Sie ist die einzige Frau in ganz Berlin, die sich in dieser Saison die Beine nicht rasiert hat! Manche meinen, »No Sex« sei das allerletzte Tabu in diesen Tagen. Andere wiederum halten Intimoperationen als Fernseh-live-Übertragungen dafür.

    Nein, sagt Frida mit Überzeugung und aus eigener Erfahrung. Das ist es alles nicht. Aber gehen Sie mal im Sommer durch die Großstadt und tragen feinen dunklen Flaum an ihren Waden. Das ist unerforschtes Gebiet; eine Herausforderung für die moderne Frau. Ein hohes Risiko, ein Wagnis, das man einzugehen bereit sein, und für das Eine sehr, sehr stark sein muß. Frida fühlt sich unter manchen Blicken in der S-Bahn, als litte sie unter einer schweren Behinderung.

    Wann und womit hat das eigentlich angefangen?

    Früher gab es doch Aktfotografien in so begehrten Zeitschriften wie dem ostdeutschen »Magazin«. Auf denen räkelten sich die Modelle noch genau so, wie die Natur sie geschaffen hatte, mit Löckchen an den dafür vorgesehenen Stellen. Stolz und unbefangen stellten sie sich so zur Schau. Frida hätte niemals darüber nachgedacht, was daran so absurd sein sollte.

    Bis zu jenem Abend, als sie ein neues rotes Ballkleid ihrer Freundin vorstellte: »Sieh mal, wie schön es ist.«

    Die Vertraute taxierte Frida wohlwollend, aber streng und zeigte auf die Achselhöhlen: »Da mußt du aber noch ran!« Frida verstand nicht gleich.

    »Ich bin Kosmetikerin. Ich kenne mich damit aus.« Aha. Das klang wie: »Ich habe doch die Bibel verfaßt, sie wurde mir vom Allerhöchsten eingegeben. Da mußt du dich schon daran halten.«

    Es sei, wie es sei, das war jedenfalls der Moment, in dem Frida ihre Unschuld verlor. Hektisch ging sie einen Rasierer einkaufen, einen sogenannten Lady Shave, und die pubertäre Tochter samt Klassenkameradin halfen ihr dabei mit Rat und Tat. Überhaupt, die Jüngeren! Später sollten ausgerechnet sie es sein, die der Mutter vorwurfsvoll in grellen Kaufhaus-Umkleidekabinen die Leviten lasen: »Da hast du aber wieder einen gewaltigen Bären unter deinen Armen, Mama!«

    Nichts war mehr so wie zuvor. Haare mußten ab — an den befohlenen Körperstellen — während sie an anderen nicht lang und dicht genug sein konnten. Shampoos werben gerne mit »Volumen«, Tönungen und Farben mit »Glanz, Feuchtigkeit und Fülle«. Stellen Sie sich diese Etiketten mal für eine Intimwäsche vor! »Kontrolle«, denkt Frida in ihrer Kaffeehaus-Therapiestunde. Es geht immer wieder nur um Kontrolle.

    Alles wollen wir bestimmen, wir seltsamen Homo Kontrollusse: Da gehört kein Fell hin, dort angeblich jede Menge. Wer an den richtigen Stellen keines hat, dem wird eins eingepflanzt. »… und werden wir erst wissend sein, fügt sich uns die Natur.« schmetterten sie alle in dem guten alten DDR-Song. »Die Heimat hat sich schön gemacht, und Tau blitzt ihr im Haar / die Wellen spiegeln ihre Pracht, wie frohe Augen klar…«

    Ein Spinnweb blitzt in Fridas Wadenhaar, und Rebellion läßt ihre Augen klar und froh leuchten. Sie mag den ganzen Zinnober nicht mehr einsehen, geschweige denn, mitmachen. Ihr Lady Shave setzt in der Duschkabine Kalkspuren an, unbenutzt, wie er jetzt ist.

    Ja, es gehört Mut dazu, solcherart gegen den Strom zu schwimmen. Aber es stecken System und Absicht dahinter, eine stille Revolution. Eine einzelne Frau macht den Anfang!

    Zuerst lassen wir unsere Körper in Ruhe, dann unseren Nächsten und schließlich die Mutter Erde, unseren Heimatplaneten. Frida braucht sich deswegen keiner Bewegung anzuschließen; Jeanne D‘Arc prescht einzeln vor.

    Und so sitzt Frida im Café, die zarten Beine beflaumt; fast so wie die Fußballerwaden ihres Sohnes, nur eben in ihrem Seidenkleid, das er sicherlich nie tragen würde. Allein, sich so der Welt zu präsentieren, ist Programm. Sie braucht, weiß Gott, Courage. Und holt sich vorerst Kraft aus einem doppelten Espresso.

    CAPPUCCINO

    »Es wird mich so, in dieser Form, Gestalt und Zusammensetzung, nur ein einziges Mal geben und dann nie wieder!« überrascht Frida an diesem Morgen Hilde mit einer ihrer Einsichten.

    Hilde ist daran gewöhnt und nickt. In Gedanken ist sie beim Gemüseschnippeln für das leichte Mittagessen, das sie wochentags im Café anbietet.

    »Nein, wirklich!« läßt sich Frida nicht so leicht abwimmeln. »Ist dir eigentlich klar, was das heißt? Wir dürfen gar nichts künstlich zurückhalten von dem, was uns mitgegeben ist. Wir haben nicht das Recht, ängstlich zu zittern, aufzugeben, die Flinte ins Korn zu werfen. Wer sind wir, daß wir selbst entscheiden dürften, wie groß oder wie klein wir sein sollen.«

    »Okay, eine Minute!« wischt Hilde sich die rot gespülten Hände vom Tomaten Waschen an ihrem bunten Sommerrock ab. Sie läßt sich auf der Kante eines Gartenstuhls nieder, schaut Frida in die Augen und signalisiert Aufmerksamkeit.

    »Als meine Kinder klein waren«, spricht jene, also Frida, »da gab es mal so eine Szene am Küchentisch. Das Töchterchen war ganz verzagt und fürchtete sich vor ihrem ersten Zeugnis. Wahrscheinlich werde ich es nicht schaffen, blies sie Trübsal. Ich kann es nicht, es ist zu schwer, ich habe Angst. Ihr Bruder, zwei Jahre nur älter als sie, drehte sich ganz zu ihr hin, strich ihr kurz über den zerbrechlichen Arm und sagte: ›Das ist eine Ohrfeige ins Gesicht Gottes, wenn du so redest.‹ Ist das nicht rätselhaft? Wir gaben den Geschwistern nichts Kirchlich-Religiöses mit, wir zwangen ihnen keinen Glauben auf. Sie waren klein und unerfahren, wie man von den Kindern sagt, und doch ließen sie manchmal eine Weisheit durchscheinen, die mich betroffen machte. Wo kommt das her? Und vor allem: Wenn ich es schon erkenne, was heißt das dann für mich?!«

    Hilde nickt. »Ich weiß, was du meinst. Wüßte ich es nicht, wo hätte ich den Mut hernehmen sollen, mein Café zu eröffnen! Aber ich werde nicht bezahlt fürs Herumsitzen und Philosophieren. Nimm es mir nicht übel, ich muß arbeiten.«

    Frida denkt an ein Gedicht von Erich Fried, das sie als Losung vorn in ihr aktuelles Tagebuch geschrieben hat: »Kleines Beispiel« heißt es, und es soll hier Eingang finden.

    Auch ungelebtes Leben geht zu Ende. Zwar vielleicht langsamer, wie eine Batterie in einer Taschenlampe, die keiner benutzt. / Aber das hilft nicht viel. Wenn man (sagen wir einmal) diese Taschenlampe nach so- und so vielen Jahren anknipsen will, kommt kein Atemzug Licht mehr heraus. / Und wenn du sie aufmachst, findest du nur deine Knochen – und falls du Pech hast, auch diese schon ganz zerfressen. / Da hättest du genauso gut LEUCHTEN können.

    Frida wünscht sich, zu leuchten, und sie möchte auch andere leuchten lassen, zum Beispiel Hilde mit ihrer Idee. Aber es fiel ihr nicht leicht, am Anfang. Sie wird es niemals vergessen, wie das entstand. Wo soll sie da überhaupt anfangen? Anfänge sind nicht klar umrissen, nicht exakt festzumachen, klar an Termin und Stunde. Hat es begonnen auf den Yoga-Matten, dicht nebeneinander und einander doch so fern, weil man den Nächsten nicht kennenlernt, wenn die Sprache ausgeschaltet ist und man nicht reden darf. Jedenfalls, Frida war schon länger dabei, als Hilde dazukam. Nun übten sie, atmeten, probierten, was die Körper sich entlocken lassen wollten. Plötzlich, eines Tages, etwas Neues. Yoga-Therapie, was ist das? Und wer dagegen sei, das nicht mit sich geschehen lassen wollte, der sollte es gleich sagen – oder für immer schweigen. Nein, jetzt übertreibt

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