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Am Ende der Sehnsucht
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eBook303 Seiten4 Stunden

Am Ende der Sehnsucht

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Über dieses E-Book

In diesem Roman geht es um das Heranwachsen eines jungen Mädchens zu einer jungen Frau. Von einer Pflegemutter aufgezogen, sehnt sich das Mädchen nach seiner leiblichen Mutter, die für kurze Zeit immer wieder in ihrem Leben auftaucht. Auf dieser Suche, die gleichzeitig auch zu ihrem Prozess der Selbstfindung wird, wird sie von verschiedenen Familienmitgliedern und ihrer ersten großen Liebe begleitet. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Sept. 2017
ISBN9788711449912
Am Ende der Sehnsucht

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    Buchvorschau

    Am Ende der Sehnsucht - Ingeborg Arvola

    verbinden.

    Erster Teil

    Ämmi

    1

    Es war einmal eine Mutter. Sie war meine Mutter, die Frau, die alle Korell nannten, und ich weiß noch immer nicht, warum. Immer ist es ihr Name, um den meine Gedanken kreisen. Korell, die am Küchenschrank steht, während ihre Finger routiniert Saft mischen, Wasser, Zucker und Zitrone. Sie braucht bei der Arbeit gar nicht anwesend zu sein, ihr Blick ist ganz woanders. Meine Mutter hat große Augen, wunderbar klar brennen sie in dem Gesicht. Wir sind in der Küche, und ich trinke genüßlich Saft. Niemand außer Korell würde mir Saft geben, das Glas halbvoll Zucker. Schon gar nicht bei diesem schweren Regenwetter, einem Wetter voller Vorwarnungen, Kummer und Abschieden. Davon läßt sich meine Mutter, die mich liebevoll anschaut, den Abstand der ganzen Welt im Blick, nicht stören, und ich trinke in winzigen Schlucken, trinke für den Rest meines Lebens; und während sich der Name Korell in den süßen Geschmack mischt, bleiben die Tropfen der Zitrone verzerrt und zerlaufen auf dem Küchenschrank. Korell ist so, Gestalten können verzerrt sein vor Einsamkeit, in der sie andere zurücklassen, in der sie selbst gefangen sind. Korell ist diejenige, die weiterzieht.

    Alle nennen Korell bei ihrem Namen, auch ich tue das. Nur innen in mir ist sie Mama, eine weitaus greifbarere Gestalt als Korell, die mich genau jetzt bei halbgeöffnetem Fenster und Regenwetter genießt. Korell, schlucke ich und spüre, wie die Lippen vom Zucker kleben. Ich habe eine Million Fragen, die nach Antworten verlangen, und alle Sehnsucht der Welt, um das richtige Wort, den richtigen Tonfall zu treffen, damit Korell bleibt, auch wenn das Wetter von Abschied spricht. Halbwegs unten im Glas zögere ich, benutze den kleinen Löffel, um mir den Zuckerhügel, von Zitrone durchsäuert, zu sichern.

    »Warum heißt du Korell?« frage ich.

    Immer diese Frage, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob sie irgendwann einmal darauf geantwortet hat. Und der magische Saft verliert seine Wirkung. Korell mag keine alltäglichen Fragen. Meine Mutter wird sich erst zeigen, wenn das rechte Wort aus meinem Mund fällt, wie rostige Ketten von alten Seeräuberkisten abfallen und eine Menge Gold enthüllen. Korell sagt, Zitrone macht den Zucker ungefährlich, entfernt das Ungesunde aus den weißen zähflüssigen Körnern, die den Boden des Saftglases bedecken, und auch wenn ich weiß, daß sie mich beschummelt, bringt mich das zum Lächeln, wie eine Verschwörerin. So sind sie, Korell und Mama, sie lieben Überraschungen, Ideen. Ich weiß das wohl, und ich beeile mich mit dem Saft, während ich spüre, wie sich Rastlosigkeit zwischen uns breitmacht, und ich will nicht diejenige sein, die aufhält. Weiß das wohl, habe aber nie Zeit genug für diese Wörter, gehe beständig verloren in einem Wirbel zu großer Ringe mit merkwürdigen Formen und einer Korell, die mich schwindeln macht, wenn sie mich auf ihre extreme Art umarmt. Jedes Mal, wenn sie kommt, beschließe ich, mich dieses Mal nicht berauschen zu lassen, lausche aber hellwach auf diese stummen Wörter und schüttele das richtige aus dem Ärmel, wenn es an der Zeit ist. Das Wort, bei dem sie bleibt. Einmal kam dieses Wort doch zu mir, aber jetzt kann ich mich nicht erinnern, welches es war. Ich erinnere mich nur, daß Korell den Kopf zurückwarf und laut lachte. Und statt alleine durch die Flurtür zu verschwinden, wickelte sie mich in Kleider ein und nahm mich mit hinaus in den dunkelnden Abend. Sie tanzte mit mir, nur mit mir, die ganze Nacht, und als ich mich wieder umsah, war es Morgen, und wir schlichen müde heimwärts.

    Ich hatte Korells Geschmack von Wein auf den Lippen, und sie ließ mich den einen Zipfel ihres Schals halten, während sie selbst den anderen trug. Ich blinzelte in den Sonnenaufgang, und sie glich einer Prinzessin mit all den Ringen an den Fingern. Wir gingen auch nicht hinein, sondern legten uns ins nasse Gras vor der Veranda, und ich wollte noch fragen, ob das ginge, im nassen Gras schlafen, aber die Sonne lag auf unseren Augen, und während wir uns in den Armen hielten, schliefen wir auf der Stelle, die seither meine Lieblingsstelle gewesen ist.

    Später am Tag erwachte ich in meinem eigenen Bett, und der Körper tat weh, nicht von dem Gras, das nur immer weicher geworden war, weicher nasser Tau, früher Morgen, sondern in der Gewißheit, daß nicht Korell mich hineingetragen hatte. Meine Mutter war wieder weg, weg wie die Sonne, die uns in den Schlaf geschickt hatte, verloren an ein Regenwetter, das für solche wie mich nichts anderes birgt als Melancholie.

    2

    Nichts hat darauf hingewiesen, daß mein Vater in eine Großstadt wie Oslo fahren würde, daß er am Nachtleben teilnehmen und meine Mutter treffen würde. Mein Vater war kein Stadtmensch, er sieht Farben an den Menschen, und er hat von Tieren die Herzen gegessen, als sie noch klopften. Beim Anblick von Korell in dem verräucherten Lokal blinzelt er, er leckt von den Fingern Blut, das nicht da ist, und in dem Tanz, den sie alleine tanzt, folgt er Korells Armen. Jemanden wie Korell gibt es dort, wo er herkommt, nicht.

    Mein Vater hatte den Hauptgewinn gezogen, es war also das pure Glück, das ihn nach Oslo schickte. Wohin sonst sollte er gehen, was sonst sollte er mit dem Geld anfangen, das er nicht brauchte, von dem er aber wußte, daß seine Kameraden es sich mehr als alles andere wünschten. Gemeinsam zogen sie los, um den Hauptgewinn des Tippscheins zu verprassen.

    Mein Vater kann Stimmen zwischen dem Laub hören, er kann so still sitzen, daß die Vögel Eier in seine Hände legen, und hier im Rauch und zu so später Stunde sah er, Korell im Blick, ein Wesen, das ihn vielleicht an ihn selbst erinnerte oder an einen Vogel, den er nicht verstand. Er war begabt, meinte Ämmi, seine Mutter und meine Großmutter, und von Toleranz hielt sie mehr als von Haß. Ämmi mit ihrem strengen Gott war besser als Gott. Sie ließ ihren Sohn so sein, wie er war. Jetzt umfängt er Korell mit einem Blick, der an ihr vorbeizustarren scheint, und mit dem gleichen Blick ist er nahe bei ihr, und als sie einen Augenblick innehält und den Kopf zurückneigt, liegt ihr Kopf in einer fremden Hand, und mein Vater umfaßt ihn, will einfach nicht loslassen.

    Als das Geld verbraucht ist, fährt mein Vater zurück, und Korell ist schwanger.

    Ich weiß nicht, was sie miteinander sprachen, aber mein Vater ist kein Stadtmensch. Er zog dorthin zurück, wo er immer gewesen war. Aber ab und zu ließ er einen Vogel, den er gefangen hatte, los, ließ ihn erschreckt mit den Flügeln flattern, einer Frau zu Ehren, die Großstadtherzen mit spitzeren Zähnen aß, als je ein Mensch, dem er begegnet war.

    Korell senkte die Augenlider, wenn der Bauch zu ihr sprach, und etwas mußte mit dem Mann sein, dem sie begegnet war und der ihren Bauch dazu brachte, Leben zu beanspruchen, ihre Zeit zu beanspruchen, auf jeden Fall für eine Weile. So war es das pure Glück, daß ich geboren wurde, daß ich in Frieden in einem Körper aufwachsen durfte, der einfach weitertanzte.

    3

    Ich habe nie mit meiner Mutter zusammengelebt. Vielleicht, weil Korell auch nie mit ihrer zusammenlebte. Als Korells Mutter einen Sohn in die Welt gesetzt hatte und dreizehn Monate später die kleine Korell, hatte sie das Ihre getan, und deshalb ging sie. Sie stammte aus Island und war voll vom Gesang des Meeres, ihre Augen waren von Lava bedeckt, und sie mußte nach Hause, um sie in den unzähligen Quellen dort anzufeuchten. Ich weiß nicht, warum sie die Kinder nicht mit sich nahm. Vielleicht weil sich herausstellte, daß der Mann, der sagte, er liebe sie, der sagte, er würde sie heiraten, schon verheiratet war, verheiratet mit nicht weniger als fünf Kindern. Er war allein nach Norwegen gekommen, um viel Geld zu verdienen und als Millionär zurückzukehren. Vielleicht ist es für isländische Frauen besonders unerträglich, verlassen zu werden – jedenfalls ging sie vorher, und das ist das letzte, was ich von ihr gehört habe. Ich glaube, es ist auch das letzte, was Korell weiß. Korell bekam von der Frau nicht mehr als ihren Namen, aber sie ist nie wie ich gewesen, sie hat nie in der Vergangenheit nach einer Antwort gesucht. Korell läßt die Fragen liegen, wo sie entstehen und macht alleine weiter.

    Ihr Vater, auf dem Papier ein griechischer »Gastarbeiter«, saß wieder mit zwei kleinen Kindern da. Zu Hause erwartete ihn eine haßerfüllte Frau, die von seinem Verrat wußte und vor Gott und den Frauen schwor, ihn nie auch nur wieder anzuschauen. Vom Vater hat Korell die unverschämt großen Augen. Ich erkenne sie von den Fotos wieder, die in einem alten Umschlag ganz hinten im ältesten Fotoalbum liegen. Er ist der Mann, dessen Augen schwarz wurden von dem Wunsch, alles wieder gut werden zu lassen. Nikos wünschte nichts mehr, als wieder nach Hause zu kommen, aber er blieb in Norwegen. Bis zum letzten Bild. Mit ihm in der Mitte und den Kindern zu beiden Seiten, Andreas dreizehn und Korell fast zwölf Jahre alt. Er sieht nicht alt aus, gerade mal dreißig, würde ich schätzen, wenn ich es nicht besser wüßte. Die Fotos hat Mari gemacht, die Frau, die mit Nikos und seinen zwei Kindern zusammenlebte.

    Sie war es, die all die Bilder machte und sie nachher weggepackt hat. Mari war da, ausnahmslos an jedem Tag von Nikos’ verhängnisvollem, norwegischem Leben. Sie schmierte seinen Kindern die Schulbrote, liebte sie für alles, was sie waren und was ihr Vater nur selten einmal merkte. Mari war ein Opfer der Liebe. Sie konnte nicht anders, sie liebte Nikos.


    Wenn du sie damals gesehen hättest, würdest du nicht geglaubt haben, daß sie die Stärke besaß, eine hoffnungslose Liebe zu wählen; so schmal, so zartgliedrig, mit elfenartigen Fingern, von denen Korell mir einmal erzählte, daß sie unsichtbar würden, wenn sie richtig unglücklich war. Mari mag Korell erschreckt haben mit ihren offenen, starken Gefühlen, denn in ihren eigenen Gefühlen fand Korell, wenn sie sie freiließ, nur Angst vor der Einsamkeit. So hielt sie die Gefühle straff, daß sie nur auf Befehle gehorchten, sie schritt neue Wege für sie ab. Stark war Korell nur für sich allein.


    Mari erzählte den zwei Kindern oft: Wenn sie nach einem Tag, an dem sie traurig gewesen waren, genau hinschauten, würden sie sehen, wie es Pfirsiche vom Himmel regnete. Mir erzählte sie die gleichen Märchen, und mir war so, als hätte sie sie früher schon erzählt, denn sie flossen so leicht, so überzeugend, und wenn ich mich an sie erinnere, verspüre ich Wehmut. Ich sehe Korell vor mir, als sie klein war, als sie Menschen noch Zugang zu ihren Gefühlen gewährte und merkte, wie weh das tat, und sogar Maris Geschichten fehlte die Kraft zu mehr, als Korells Gemüt zu beruhigen. Ich selbst wurde butterweich, wenn Mari mich auf ihrem kleinen Schoß schaukelte. Ich weinte an den traurigen Stellen und lachte glücklich, wenn alles gut ausging. Ich tat Mari unrecht, das wußte ich wohl, wenn ich annahm, daß diese Geschichten noch besser wären, wenn Korell sie erzählt hätte, und noch schöner, wenn es ihr Schoß wäre, auf dem ich sitzen würde.

    Mari war Nikos gegenüber loyal bis zuletzt, und ich habe sie nie ein böses Wort über ihn sagen hören. Alle Wut, die sie je auf ihn oder andere hatte, richtete sie auf die isländische Frau.

    »Wenn ich mir vorstellen würde, mit jemandem mal ein ernstes Wörtchen zu reden, dann mit dieser Hexe«, konnte sie sagen, wenn Nikos mehrere Tage lang verschwunden war. »Wenn jemand alles Pech der Welt verdient, dann deine treulose Großmutter«, sagte sie, als ich wieder einmal über Korell, die mich verlassen hatte, weinte. »Hängen sollte sie«, murmelte sie, als es bei mir mit Schule und Freunden völlig schieflief. Als sich Island und Norwegen in irgendeiner Fischereifrage unnachgiebig gegenüberstanden, war sie sicher, daß dieses gerissene Frauenzimmer dahintersteckte, natürlich mit einem ironischen Lächeln.

    Mari liebte den undankbaren Nikos in der Zeit, die sie von ihm zugestanden bekam. Eines Tages gab er dem brennenden Wunsch, nach Kreta zurückzugehen, nach, und ließ alles da, was er nicht in einer Hand halten konnte. Als Mari seinen Brief fand, der den Stand der Dinge gleichsam erklären sollte, vergoß sie, knapp dreißig Jahre alt, bittere Tränen. Dann verbrannte sie den Brief und mit ihm alle Fragen. Ihre Enttäuschung fegte sie beiseite mit schlichten Formeln wie: »Hast du meine Brille gesehen, Korell? Ich brauche sie, wenn ich euch das Buch zu Ende vorlesen soll. Habt ihr meinen Geldbeutel gesehen, Kinder, einer von euch müßte gerade mal Süßigkeiten vom Kiosk holen.« Nicht eine Sekunde kam ihr der Gedanke, sie könne Andreas und Korell verlassen. Mari gestand Nikos alles zu, damit er nur die Sehnsucht stillen konnte, die auf den Fotografien in seinen Augen lag.

    Trotz Maris standhaftem Festhalten an den Trivialitäten des Alltags entging es Korell nicht, daß sie von Vater und Mutter verlassen worden war, und das, noch ehe sie die Menstruation oder einen Busen bekommen hatte, noch ehe sie überhaupt daran gedacht hatte – wie alle jungen Mädchen es irgendwann tun –, von ihren schrecklichen Eltern wegzulaufen. Nicht lange nach Nikos’ Bußfahrt in sein anderes Leben fischte sie Maris Geld aus der Brieftasche, polierte ihr kindliches Aussehen mit Baumwolle in einem zu großen BH und ungleichmäßigen Kajalstrichen um die Augen heraus, schaute sich lange und gründlich im Spiegel an, ehe sie hinauslief in das prickelnde, wimmelnde Nachtleben, von dem sie nicht mehr wußte, als das, was man sich zu Hause darüber erzählte. Schon so sehr Korell, daß sie sich nicht damit aufhielt, die Haustür vorsichtig hinter sich zu schließen. Sie warf sie siegessicher zu, lief die Treppe hinunter und weg war sie. Da war sie nicht älter als zwölf Jahre. Trotz umfassender Suchaktionen und Nachforschungen vergingen sechs Jahre, ehe Mari Korell wiedersah. An dem Tag, an dem sie mit mir auf dem Arm erschien.

    Zielstrebig stapfte sie die Straße entlang, barfuß und ganz selbstverständlich, niemand würde geglaubt haben, daß sie noch nie zuvor hier gewesen war. In ihrer Haltung lag etwas Majestätisches, das offene Haar wirkte in der Sonnenglut zu warm, ein kleines Baby saugte an einer der bloßen Brüste, ein paar kaputte Sandalen trug sie in der anderen Hand. Keiner der Vorbeifahrenden hielt sie für eine schlampige Aussteigerin. Sie fuhren vorsichtiger, drehten den Kopf nach ihr um und zwinkerten der jungen Frau mit Kind und in den Nacken geworfenem Kopf zu, der Frau die eher den Sonnenstrahlen als den Straßennamen folgte.


    Mari hatte in der Zwischenzeit geheiratet. Der Mann hieß Karl-Edvart und war ein vielbeschäftigter Geschäftsmann. Auch wenn er das Leben mit förmlichen Treffen und doppelten Martinis, das er sich, geschieden und kinderlos, angewöhnt hatte, weiterhin lebte, war er doch nicht so beschäftigt, um Mari nicht noch ein Kind zu schenken. Ein kleiner Sohn, der mit großen Augen im Kies der Auffahrt spielte, als die fremde Frau direkt auf ihn zuschritt. Der Anblick hatte ihn erschreckt. Korell ist so, sie erschreckt alle Kinder, bis auf mich, und Jon-Edvart war erst vier Jahre alt, und weder der warme Tag noch die farbenfrohen Stiefmütterchen, nichts wirkte sicher, als die fremde Frau auf ihn zukam. Er ließ den Spielzeugspaten mitten in dem kleinen Kiesturm liegen und rannte um die Hausecke, dorthin, wo er die Mutter vermutete.

    »Mama«, heulte er und klammerte sich an ihre Beine.

    Maris helles Haar war aus dem Gummiband gerutscht, als sie in dem kleinen Gemüsegarten gehockt hatte. Sie war über Dreißig, sah aber mit dem dünnen Flachshaar jünger aus als Korell. Die Hände im Haar, erhob sie sich und schaute zu dem jungen Mädchen, das auf sie zukam. Als Korell direkt vor ihr stehenblieb, schauten sie sich schweigend an, überwältigt von der Wärme, die sie in einander weckten.

    »Du hättest euch sehen sollen, Liebes. Ich selbst habe geglaubt, es wäre ein Traum, ich würde wegen der Hitze phantasieren, ich sollte hineingehen und ein Glas Wasser trinken, etwas suchen, um den Kopf damit zu bedecken, ehe ich wieder hinausging. Korell stand mit einem kleinen Lächeln da und grub die Zehen in die Erde, als ob sie dort Feuchtigkeit finden und sie aufsaugen könnte. Sie achtete nicht auf ihre nackten Brüste, achtete kaum auf dich, das kleine Baby, das längst zu saugen aufgehört hatte und in der Wärme tief schlief, während ihr sonnengebräunter Arm, der dich hielt, so sicher wirkte. Und während ich so dastand, mein Atem zitterte und mir langsam klarwurde, daß ihr tatsächlich dort standet, legte sie dich graziös in unserem schönsten Blumenbeet ab. Du weißt, das mitten im Garten, mit den Steinen ringsum. Und sie lächelte strahlend, als sie den letzten Schritt tat und die Arme um mich schlang, während du friedlich zwischen den Blumen schliefst.«


    So war das, als Korell mich zum ersten Mal verließ. Mit einer graziösen Bewegung, mit farbenfrohen Blumen und der Brust, die sie vergessen hatte, wieder in die Kleider einzuknöpfen. Selbstverständlich blieb sie ein paar Tage. Vielleicht hatte sie tatsächlich daran gedacht zu bleiben, das Haus und den Garten zu einem Ort zu machen, wo sie leben konnte, aber es gelang ihr nicht. Korell bringt Dinge aus dem Gleichgewicht. Sie lockte in Karl-Edvart ein klopfendes Herz hervor, Erinnerungen in Mari, einen beschützenden großen Bruder in Andreas und einen erschrockenen Ausdruck auf Jon-Edvarts sonst so glücklichem Gesicht.

    Man fragte sie nach dem Vater, wo sie wohnte, wo sie arbeitete und was aus ihr werden sollte. Aber Korell vermied alltägliche Fragen auf der Jagd nach etwas anderem, und eines Morgens war sie fort. Ich, die ich bis dahin das meiste verschlafen hatte, begann mit meiner ungewöhnlich heiseren Stimme zu trauern.

    »Das zu hören tat weh«, erzählte Mari. »Du hast mich an eine verletzte Krähe erinnert, und egal, was wir taten, du hast mit den Augen und deinen winzigen Fingern immer nur weiter fieberhaft nach ihr gesucht.«

    4

    Mir ist nie richtig klargeworden, wann Mari Karl-Edvart begegnet ist, wann sie geheiratet haben und Mari die Sachen in der engen Wohnung ein- und im Holzhaus mit Garten, wo ich aufwuchs, ausgepackt hat, aber die Begegnung selbst könnte direkt einem Frauenroman entnommen sein. Karl-Edvart war ein geschiedener Mann von siebenundvierzig Jahren, als er Mari begegnete und gerade dazukam, als sie von ihrem Unglück erzählte – wobei sie es gar nicht als Unglück betrachtete. Mari erzählte ihre Geschichte voller Stolz, sogar etwas angeheitert im Lärm des Firmenfestes, und wenn man hinhörte, hatte das Lächeln, das sie lächelte, als sie von Korell und Andreas erzählte, vielleicht einen Unterton voller Tränen, und das Lachen, als sie die Wohnung beschrieb und die Miete, die in jedem Quartal stieg, saß unter einer Falte auf der Stirn. Karl-Edvart, der seit längerem allein gewesen war, folgte dem Lächeln und prägte sich die Falte im Gesicht gut ein. Unwiderstehlich, fand Karl-Edvart. Leerte das Glas, rückte den Schlips gerade und ging unsicher hinüber zu Mari.

    »Ich wollte gerade etwas zu trinken holen«, sagte er und schaute ihr tief in die Augen. »Soll ich Ihnen gleich etwas mitbringen?«

    Mari sagte ja, mehr verwirrt als alles andere, aber als sie anstießen, hatte sie das Gefühl, etwas sei schon abgemacht und entschieden, so als ob der tiefe Blick nicht erst auf etwas hinwies, sondern bereits einen Vertrag besiegelte. Nicht, daß das einen Unterschied machte. Es war lange her, seit jemand sich gewünscht hatte, sie möge ihre Zurückhaltung aufgeben, und mit ziemlich schlechten Argumenten überredete nun jemand den Mann an ihrer Seite, sich woanders hinzusetzen.

    Karl-Edvart, der jetzt in Schwung war, wollte sich aber nicht einfach plump auf dem eroberten Platz niederlassen und die üblichen Phrasen von sich geben, die er sich auf der Jagd nach zufälligen Bekanntschaften zurechtgelegt hatte. Er setzte sich dicht neben Mari, spürte, wie sich sein eigener schwerer Körper aufrichtete, als die Nähe ihm klarmachte, wie klein Mari war, wie dünn das Haar über ihrem Schädel lag. Sogar in dem schwachen Licht glaubte er sehen zu können, wie sich die Adern durch ihre Gedanken klopften, und um eine Atempause zu bekommen, ließ er die Augen zu ihren Händen wandern.

    »Ich kann deine Hände nicht sehen, wenn du trinkst«, flüsterte Karl-Edvart verblüfft, als er deren Weg zum Mund hinauf verfolgte. »Jemand hat behauptet, das sei so, wenn du ängstlich bist.«

    Mari riß die Augen auf. Für einen Moment hatte sie sich weggeträumt und vorgestellt, der intensive Blick könnte von Nikos sein. Die Worte überraschten sie nicht nur, sie brachten Korell zu ihr. Korell, die ab und zu außer sich vor Angst war, nur weil sie Maris Finger nicht sehen konnte, und glaubte, sie habe Mari enttäuscht. Wie konnte sie die aufeinandergeprßten Lippen vergessen, die die Tränen zurückhielten. Sie, die sich darüber ängstigte, daß Korell niemals weinte.

    Als diese hübsche kleine Frau, die so viel Mißgeschick ertrug und dem Unglück einfach mit erhobenem Kopf begegnete, den Kopf wegen einer zitternden Krokodilsträne senkte, da wußte Karl-Edvart, hier gab es nichts weiter zu tun, als sie mit nach Hause zu nehmen, ihr einen dampfenden Grog zuzubereiten, ihren Geschichten zuzuhören und am Ende die bezaubernde Frau im Gästezimmer zu Bett zu bringen.


    Mari erwachte am nächsten Morgen in einem leeren Haus und fand eine umständlich formulierte Nachricht vor. Auch wenn sie Kopfweh hatte und vom Tabak wie durchsäuert war, lächelte sie, als sie las: Verfügung über die Hausschlüssel, müssen an ihn persönlich überbracht werden. Sie würde nicht entwischen.

    Während sie für sich Kaffee kochte, verwandelte sich das Lächeln in eine Freude, die sie lange nicht mehr empfunden hatte, und als sie träumend gelben Blättern folgte, die ans Küchenfenster geweht wurden, und sah, was für ein grauer Tag draußen wartete, wurde sie nur noch froher.

    Unterwegs zum Büro des Chefs kaufte sie einen Goldring. Nicht dick. Nicht dünn. Ehe sie die Schlüssel ablieferte, stand sie verstohlen lächelnd vor der Tür des Direktors und wand den Ring auf den Schlüsselring. Mit wissender Miene legte sie die Schlüssel auf seinen Tisch, entschuldigte sich, sie müsse nur zur Toilette, und fegte aus dem Zimmer.

    So begegneten sie sich. So heirateten sie. Wenig Rotz, wenig Tränen, irgendwelche verschwundenen Töchter, irgendwelche geschiedenen Männer, ein Grog und ein goldener Ring. Mari erinnert sich an das heitere Gesicht, das ihr aus dem Toilettenspiegel entgegensah und überlegte, was in aller Welt sie wohl antrieb.

    »Ich kann mich nicht erinnern, früher so ausgesehen zu haben«, erklärt Mari mir und macht einen Punkt.

    5

    Hatte Korell Angst? frage ich Andreas. Weinte sie im Schlaf, drückte sie ihr Kissen? Vermißte sie ihre Mutter? Andreas zuckt mit den Schultern, lächelt sein Lächeln, erzählt mir etwas anderes, vielleicht ein Märchen, rückt eine Schale Karamelbonbons in die Nähe meiner Finger. Denn Andreas erinnert sich nicht. Erinnert sich an nichts anderes als an die Lehrerinnen aus der Zeit, als er dreizehn war und in die siebte Klasse ging. Die Zeit, als Nikos mit solcher

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