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Lügenbilder: Kriminalroman
Lügenbilder: Kriminalroman
Lügenbilder: Kriminalroman
eBook310 Seiten4 Stunden

Lügenbilder: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Zwei Kriminalfälle erschüttern Speyer. Ein Rechtsanwalt und ein Ahnenforscher werden Opfer eines spektakulären Anschlags, eine alte Frau wird brutal überfallen. Ferdinand Weber, Speyerer Kriminaloberrat a. D., wittert im Gegensatz zu seinen ehemaligen Kollegen einen Zusammenhang. Nicht ganz unfreiwillig wird Weber wieder einmal in die Ermittlungen hineingezogen. Seine gewohnt unkonventionellen Recherchen führen ihn in die vermeintlich "beste Gesellschaft" ebenso wie zu Kleinkriminellen, zwielichtigen Karrieristen und Reichsbürgern. Schnell bröckelt so mache saubere Fassaden alteingesessener und angesehener Bürger. Die Wahrheit hinter unzähligen Lügenbildern, die über Jahrzehnte entstanden sind, lässt Weber schließlich in Abgründe blicken, die ihn selbst zu verschlingen drohen.

Authentisch, packend, aktuell - Der neue Kriminalroman von Kerstin Lange

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9783954287116
Lügenbilder: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Lügenbilder - Kerstin Lange

    Prolog

    09.11.1938

    Steine flogen in die Schaufensterscheiben der umliegenden Geschäfte, ein Fenster der Synagoge ging zu Bruch. Nathan fröstelte. Die meisten der Werfer kannte er. Einige vom Sehen, andere vom Einkaufen, manche hatten ihm ab und zu ein Bonbon geschenkt. Karamell. Aber das war lange her. Heute waren sie nicht nett und freundlich, während sie sich entlang der Hellergasse versammelten. Stattdessen glichen sie einem wildgewordenen Mob. Mitläufer, die das taten, was die anderen taten, schrien, was die anderen schrien. Niemals hätte Nathan gedacht, dass er solch eine Angst verspüren könnte. Nicht nur wegen der fliegenden Steine, des erhobenen rechten Arms, sondern auch wegen der lauten Parolen, die die Menschen riefen. Wut und Hass lagen in der Luft, gepaart mit fanatischer Begeisterung, die von den Grölenden ausging. Eine bedrohliche Stimmung, die sich weiter aufheizte.

    Es hatte sich so viel verändert. Seine Heimatstadt war ein Ort des Schreckens geworden. Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte häuften sich in der Zeitung und auf Plakaten. Nachbarn, mit denen sie immer ein herzliches Verhältnis gehabt hatten, waren auf einmal abweisend und unhöflich. Sie wechselten die Straßenseite und schauten in eine andere Richtung, um nicht grüßen zu müssen. Anonyme Vorwürfe über angebliche Verfehlungen nahmen stetig zu. Seine Eltern sprachen schon lange davon zu emigrieren. Sie redeten immer wieder von Amerika und dass »hier niemand auf Dauer sicher ist«.

    In zwei Wochen sollte es endlich losgehen. Vater verkaufte noch Bilder und Schmuck, meist unter Preis, um die Reisekasse zu füllen. Nathan wusste nicht, wovor er sich mehr fürchtete: die lange Fahrt über das Meer, dabei wochenlang auf einem Schiff eingesperrt zu sein und das Unbekannte, das ihn erwartete – oder Deutschland, Hitler und die zunehmende Feindlichkeit und ­Aggression.

    Er lief durch die Gassen, seine Schwester Hannah fest an der Hand haltend, und nutzte dabei den Schutz der Häuserwände. Die Angst in ihm wuchs mit jedem Schritt, den er den skandierenden Speyerern näher kam. Er wollte wieder heim. Doch es war unmöglich. Vor einer Stunde waren Soldaten in das Wohnhaus marschiert und hatten die Nachbarn der gegenüberliegenden Wohnung bedroht. Seine Eltern hatten ihn und Hannah panisch nach draußen gedrängt und ihnen eingeprägt, erst wiederzukommen, wenn die Luft rein sei. Nur wohin sollte er gehen? Der einzige halbwegs sichere Ort schien die Synagoge zu sein. Sein Gebetbuch mit den persönlichen Anmerkungen und Notizen hatte er dort beim letzten Besuch vergessen. Er dachte, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es zu holen. Doch mit den wütenden Menschenmassen hatte er nicht gerechnet. Je näher er der Synagoge kam, umso bewusster wurde ihm, dass es ein Trugschluss war. Er versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken.

    Auf wen seid ihr so wütend, wollte er die Nachbarn, Verkäufer, Polizisten fragen, während er gleichzeitig versuchte, ihnen auszuweichen. Warum hasst ihr uns, was haben wir euch getan? Habt ihr denn alles vergessen? Ich bin es, Nathan. Euer Nathan, der euch die Einkaufstaschen bis in die Wohnung trug. Nathan, der euch mit Witzen und dem neuesten Klatsch unterhielt.

    Es war unmöglich, gemeinsam mit seiner Schwester ungeschoren in die Synagoge zu gelangen. Für ihn allein würde es gefährlich genug sein. Für Hannah musste er ein Versteck finden, einen ruhigen Unterschlupf, in dem sie auf ihn warten konnte. Fieberhaft überlegte er an einer Lösung. Er brauchte schnell eine Idee, einen Ausweg.

    Warum waren sie nicht schon längst weg wie einige seiner Freunde? Beurkundungen, Beglaubigungen – immer neue Dokumente und Urkunden waren erforderlich. Das Warten zermürbte. Ein ständiger Tanz zwischen Hoffen und Bangen, Angst und Erlösung.

    Ihm fiel der Friedhof ein, ein Ort, an dem es selbst jetzt verhältnismäßig ruhig sein musste. Er beschleunigte seine Schritte, so gut es mit Hannah an der Hand möglich war. Seine Eingebung trog ihn nicht. Hier im Schatten eines Grabsteins, hinter einem immergrünen Busch konnte sich Hannah verstecken. Kein perfekter Ort, aber etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein.

    Er beugte sich zu ihr hinab und sprach eindringlich auf sie ein. »Meine kleine Hannah, es ist ganz wichtig, dass du hier auf mich wartest. Du darfst, egal was passiert, kein Wort von dir geben. Es ist ein Versteckspiel, das spielst du doch so gerne. Mach dich unsichtbar, das kannst du so gut.« Er lächelte, versuchte Normalität zu zeigen, die er nicht verspürte. Seine Angst zu unterdrücken, die ihm beinah den Atem nahm. Zum ersten Mal, seit sie das Elternhaus verlassen hatten, ließ er Hannah los. Sofort schob sie ihren Daumen zum Mund, nickte und schaute ihn mit riesigen Augen an. In der freien Hand hielt sie ihre kleine Stoffpuppe krampfhaft fest. Sie hockte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinter den Busch, und verschmolz mit der Umwelt. Als Nathan zwei Meter gegangen war und zurückblickte, war von Hannah nichts mehr zu sehen.

    Nathan eilte weiter. Immer wieder blickte er sich ängstlich um, hoffte, niemandem in die Arme zu laufen. Seine Gedanken wanderten zu seinen Eltern. Waren die Soldaten auch in ihre Wohnung eingedrungen? Hatten sie die Einrichtung zerstört, Wertgegenstände geklaut? Den Vater verletzt oder weggebracht? Sein Vater war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, hatte für das Vaterland, sein Deutschland, einen Arm gegeben. Doch das zählte nicht mehr. Man sah in ihm nur noch den Juden, der Geld scheffelte und den Menschen Arbeit wegnahm.

    Ein Stein zerschlug die Scheibe eines nahegelegenen Geschäftes und riss ihn aus seinen Gedanken. Der Mob grölte und Nathan zuckte zusammen. Er versuchte, wie Hannah unsichtbar zu werden, mit der Umwelt zu verschmelzen, um in die Synagoge zu gelangen.

    Nur manchmal traute er sich, den Kopf weiter zu heben, um zu sehen, was passierte. In diesem Moment sah er eine brennende Fackel, die durch ein zerstörtes Fenster des Gebetshauses flog. Die Begeisterung der Menschen nahm zu.

    Warum verhinderte das niemand, fragte er sich wütend. Er sah die Feuerwehrmänner, die nur achtgaben, dass die umstehenden Häuser nicht in Brand gerieten, aber nicht eingriffen. Sie sahen zu, wie das Gotteshaus, in dem er, seine Familie und die vielen Freunde so viel Zeit verbracht hatten, zerstört wurde.

    Er würde sein Gebetbuch nicht wiederbekommen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er spürte Traurigkeit, aber auch, dass es nicht mehr wichtig war. An erster Stelle stand jetzt, die Gewaltauswüchse zu überstehen und unbeschadet mit Hannah nach Hause zu gelangen.

    In der Nähe erklang Gelächter und er erstarrte. Zwei Männer näherten sich. Nathan blieb in einem Mauervorsprung stehen, presste sich eng an die Wand und wagte nicht zu atmen.

    »Was das Pack für Schätze hortet«, brüllte einer der beiden.

    »Nimm mit, was du siehst. Könnte wertvoll sein. Das gibt hier gleich ein Feuerwerk.«

    Sie eilten weiter, und als keine Schritte mehr zu hören waren, wagte Nathan, die Augen zu öffnen und Luft zu holen. Zumindest ein bisschen.

    Erneut brach eine Fensterscheibe. Eine neue brennende Fackel flog hindurch und setzte einen Vorhang in Brand. Nathan stand wie betäubt da. Während er auf die Flammen schaute, spürte er eine tiefe Mutlosigkeit in sich. Warum? Das Wort beherrschte seine Gedanken. Warum passierte das hier? Wem hatten sie Unrecht getan? Oder war es wirklich, wie der Nachbar behauptete, die Kollektivstrafe für den Anschlag des Polen Herschel Seibel Grynszpan, der auf einen Botschaftssekretär geschossen hatte?

    Er drehte sich um und erschrak. Bevor ihm ein Laut entwich, presste er sich im letzten Moment die Hand auf den Mund. Vor ihm lag ein Mann. Nathan kannte ihn, er wohnte ein paar Häuser weiter. Ihm fiel der Name nicht ein, er sah auf die ins Leere starrenden Augen, die blutige Wunde am Kopf. Ein Toter, den niemand interessierte.

    Nathan begann zu zittern. Was würde mit Hannah passieren, wenn sie sie fänden?

    Wie hatte er sie nur allein lassen können, was war er für ein Idiot! Er musste zu ihr, sie ängstigte sich, und war vor allem nicht sicher. Nicht vor dem Feuer, nicht vor den Menschen und nicht vor dem Hass.

    Er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Mittlerweile befanden sich noch mehr Speyerer auf den Straßen. Er schob sich die Mütze tiefer ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden, und nutzte Zäune und Hauswände als Deckung.

    Nicht weit von ihm entfernt schrie jemand angstvoll. Kein Kind, sondern eine Frau. Schreie hatte er in letzter Zeit viele gehört und gelernt, den Grund an der Art des Tons zu erkennen. Menschen schrien aus Angst, Wut, Enttäuschung oder Schmerz. Bei Schmerzen ging der Laut meist in ein Wimmern über. So auch jetzt. Es folgte ein Lachen, das ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ein Lachen, laut und widerwärtig. Er presste die Handflächen auf seine Ohren. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Das war immer die Devise seines Vaters gewesen. Nicht auffallen. Nicht anecken. Wohin hatte es ihn gebracht? Sie hätten viel früher verschwinden müssen.

    Alles hatte sich in letzter Zeit geändert. Sogar ihre Vornamen. Hannah hieß jetzt offiziell Hannah-Sara. Nathan durfte Nathan bleiben, doch die anderen männlichen Juden wurden gezwungen, zusätzlich den Namen Israel zu führen. Er hasste es, dass seine Schwester so genannt wurde.

    Wieder zerbarst ein Fenster, die Flammen arbeiteten sich vor.

    Er musste Hannah schützen.

    Erneut näherten sich Schritte. Er versuchte, sich in einer Häusernische zu verstecken. Er sah dreckige Schuhe, die Gegenstände zertraten oder zur Seite stießen. Er hielt die Luft an. Wenn der Mann vorbeiging, würde alles gut. Er schloss die Augen. »Gepriesen seist du Herr unser Gott, der Gebete erhört.« Er durfte nicht konkret um Hilfe in dieser Situation bitten. Das hatte ihm der Rabbiner immer wieder gesagt. Das war anstößig.

    Der Mann ging vorbei und Nathans Anspannung ließ nach. Doch die Gewalt und die Plünderungen um ihn herum wurden mehr. Vielleicht schaffte er es, sich hier zu verstecken. Zumindest bis der Wahnsinn etwas nachließ. Ausharren und beten war seine Devise. Für Hannah, für seinen Vater, für seine Mutter, für seine Freunde.

    »Wen haben wir denn hier?«

    Nathans Herz setzte für einen Moment aus. Er öffnete die Augen. Zwei Soldaten standen vor ihm. Schwarze Uniform, glänzende Stiefel. Sein Blick wanderte höher und er sah die Siegrunen am rechten Krageneck. Dazu ein feistes Grinsen und einen fiebrigen Glanz in ihren Augen, der ihn ängstigte. Den einen Mann kannte er, doch das nutzte ihm nichts. Ganz im Gegenteil.

    »Was machst du Judensau denn hier?«

    Nathan blickte zu Boden. Nicht provozieren, mahnte er sich. Er dachte an seinen Vater und sein eigenes unterwürfiges Verhalten beschämte ihn. Welche Chancen hatte er? Keine, antwortete ihm sein Verstand. Was würde aus Hannah? Sollte er hier bleiben und auf Gnade hoffen? Das war utopisch. Oder sollte er es wagen zu fliehen?

    Er überlegte nur einen winzigen Moment, dann sprang er auf und hechtete los. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Vielleicht würde es ihm gelingen. Er lief weiter. Dabei vernahm er die Stimmen der Männer, verstand jedoch nicht, was sie sagten. Bis jetzt war noch nichts passiert. Hannahs Versteck kam in Sichtweite, aber niemand war zu sehen. Ein gutes Zeichen, dachte Nathan. Sie hatte sich tiefer in den Büschen verkrochen, so wie er es ihr gesagt hatte. Hoffnung keimte auf. Er könnte es schaffen, sie könnten es schaffen.

    Der erste Schuss traf ihn am rechten Bein. Er stürzte. Eine zweite Kugel traf ihn an der Schulter.

    Am Boden liegend, robbte er weiter. Nicht aufgeben. Aufgeben war keine Option.

    Die Soldaten näherten sich, schnitten ihm den Weg ab. Für einen kurzen Moment wagte er es, den Kopf zu heben und in ihre Gesichter zu sehen. Sie standen direkt vor ihm und sahen auf ihn herab. Der größere zielte mit einem Revolver auf seinen Kopf. Nichts an ihm verriet Aufregung. Seine Augen blickten gleichgültig und abgestumpft. Nathan schaute kurz zu Boden. Es war vorbei. Doch er zwang sich wieder, aufzublicken. Er wollte erhobenen Hauptes sterben. »Oder willst du, Max?«, hörte er den Soldaten fragen.

    »Nein«, sagte Max verächtlich. Die Stimme, dunkel und warm, passte nicht zum Inhalt des Gesagten.

    Nathans Leben war verwirkt. Für ihn gab es keine Rettung. Aber vielleicht für Hannah. Er durfte nichts unversucht lassen. »Meine Schwester, Hannah …« Es kostete ihn Kraft weiterzusprechen. »Sie ist doch noch so klein, bitte.« Er flüsterte. Seine Verzweiflung rührte keinen der beiden Uniformierten. Doch beim Aussprechen des Namens seiner Schwester zuckte der Mundwinkel des Mannes, der Max hieß.

    »Was soll’s«, sagte der andere. Der Schuss ging im allgemeinen Tumult unter. »Wieder einer weniger.«

    Kapitel 1

    Spiegel lügen nicht. Nie. Zu keiner Zeit.

    Ferdinand Weber drehte sich nach links, nach rechts und blieb dann frontal vor dem bodentiefen Spiegel stehen.

    Von vorne geht es, dachte er. Wenn er den Bauch einzog, dabei tief einatmete, machte er auch von der Seite eine gute Figur. Ärgerlich blickte er auf die Einladung, die er auf das Bett gelegt hatte. Der einundachtzigste Geburtstag eines Großonkels von Jeannette. Ganz großes Kino, wie man so schön sagte. Die komplette Verwandtschaft, zuzüglich Begleitung, war eingeladen und Jeannette hatte ihn gebeten, mit ihr teilzunehmen, da ihre Eltern krankheitsbedingt abgesagt hatten. Wie seltsam, den einundachtzigsten Geburtstag groß zu feiern, hatte er gesagt.

    »Im letzten Jahr war Franz krank, die Feier fiel aus. Jetzt wird sie nachgeholt. So viele Geburtstage wird es wohl nicht mehr geben«, hatte Jeannette erklärt. Das konnte Weber nachvollziehen. Wer, wenn nicht er wusste, wie schnell Pläne durch das Schicksal durchkreuzt werden konnten.

    Obwohl er zunächst vehement abgelehnt hatte und überzeugt gewesen war, bei seiner Meinung zu bleiben, hatte sie ihm eine Zusage entlockt. Jetzt stand er vor dem Problem der Kleiderfrage. Auf der Einladung stand als Dresscode Dunkler Anzug.

    Den einzigen Anzug, der im Schrank hing, hatte er auf der Beerdigung seiner Frau getragen. Die Erinnerung an Louise stimmte ihn augenblicklich melancholisch. Zum Glück waren die Zeiten vorbei, in denen er bei dem Gedanken an seine Frau in ein dunkles Loch der Trauer verfiel. Dennoch war Louise bei ihm. Auch jetzt hielt er Zwiesprache mit ihr. »Du hättest mich auf Diät gesetzt.« Er legte seine Hände auf den Bauch und strich über die Rundungen. »Denke, ich habe etwas zugelegt. Meinst du, ich kann den Anzug trotzdem tragen?«

    Natürlich bekam er keine Antwort, so sehr er auch in sich hineinhorchte. Direkt nach ihrem Tod hatte es funktioniert. Er hatte ihre Stimme gehört, als wäre sie noch immer bei ihm und läge nicht in der Erde mit Würmern und anderen Kriechtieren. Mit der Zeit ließ es nach, wie er mit Schrecken bemerkte. Wie auch ihr Geruch aus den Räumen, den Möbeln und dem Schlafzimmer langsam verschwand.

    Jeannettes Angebot, mit ihm einen neuen Anzug zu kaufen, hatte ihn mehr erschreckt als beruhigt. Statt einer Antwort hatte er ihr einen Blick geschenkt, von dem er hoffte, dass er die Unangemessenheit ihres Vorschlages zeigte.

    Ohne Louise war er noch nie einkaufen gegangen. Mit einer anderen Person konnte und wollte er es sich nicht vorstellen. Einen Anzug schon mal gar nicht!

    Erneut warf er einen Blick in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Deprimiert zog er sich um. Entweder schaffte er es bis nächste Woche, zwei Kilo abzunehmen, oder er musste in den sauren Apfel beißen und einen neuen Anzug kaufen. Oder darauf hoffen, dass der Stoff im Laufe der Jahre nicht an Elastizität verloren hatte und auch beim Sitzen hielt.

    Weber schaute auf seine Uhr. Es war noch Zeit bis zur Gerichtsverhandlung. Zum ersten Mal als Pensionist würde er eine öffentliche Verhandlung besuchen. Ein neuer Versuch, seine Langeweile zu vertreiben und seinen Tagen einen Sinn zu geben. Heute ging es um einen Betrug mit einer angeblich wertvollen alten Münze. Es klang spannend, wenn auch nicht nach einem großen Fall.

    Der Weg zum Amtsgericht war nicht weit und die frische Luft tat ihm gut. Als er den St.-Guido-Stiftsplatz erreichte, schüttelte er den Kopf. Ihm gefiel der Platz gar nicht. Er wirkte trostlos. Die Versuche, ihn mithilfe von Hochbeeten für die Bevölkerung attraktiver zu gestalten, fand er nicht gelungen. Jetzt im November war auch der Freisitz der Currysau geschlossen. Die Straße, die die Fläche umgab, war für diese Uhrzeit auffallend leer und es war ungewöhnlich still. Selbst in den Parkbuchten gab es viele freie Stellen. Nur ein alter Golf stand da. Auf ihn liefen zwei Männer zu, die sich laut und angeregt unterhielten. Der größere der beiden gestikulierte mit Händen und Füßen, schien sein Gegenüber von etwas überzeugen zu wollen. Neugierig blieb Weber stehen und versuchte zu lauschen, um was es bei der Unterhaltung ging.

    »Auf keinen Fall«, sagte der andere, der sich anscheinend nicht umstimmen lassen wollte. »Niemals! Das ist mein letztes Wort.«

    »Lass uns essen gehen. Dann reden wir weiter.«

    »In Ordnung. Aber deine Essenseinladungen kenne ich. Letztendlich zahle sowieso ich. Deshalb wäre eine Currywurst aktuell angebrachter. Ebbe im Portmonee. Die goldenen Zeiten als Anwalt sind vorbei. Wenn es die überhaupt je gegeben hat.«

    Ein Anwalt in finanziellen Nöten.

    »Nee, mach dir keine Sorgen. Ich habe Geld.«

    »Du hast Geld?« Der Anwalt betonte das erste Wort.

    Erst jetzt bemerkten sie Weber, der stehen geblieben war, um ihnen zuzuhören. Sie sahen ihn irritiert und empört an. Ertappt, dachte Weber. Wie armselig er war, fremde Menschen zu belauschen, weil sein eigenes Leben so uninteressant war. Wie tief war er gesunken. Beschämt drehte er sich um und wechselte die Straßenseite mit raschen Schritten, während er mit sich haderte.

    Er wollte und musste etwas ändern. Und zwar an sich. Etwas Grundsätzliches. Er brauchte ein richtiges Hobby und nicht nur Pseudo-Beschäftigungen mit Gin, Sherry und anderen belanglosen Dingen wie Münzen.

    Er hörte einen der Männer laut lachen und drehte sich um. Machten sie sich über ihn lustig? Nein, bemerkte er erleichtert. Sie waren mit sich selbst beschäftigt. Der Untersetzte suchte in seiner Aktentasche nach dem Schlüssel. Weber wandte sich erneut ab.

    Im Gehen warf er ihnen ab und zu einen Blick zu, darauf bedacht, nicht wieder erwischt zu werden. Die Männer stiegen ins Auto und er hörte den Motor starten. Er musste sich zwingen, nicht hinterherzuschauen.

    Die Explosion war ohrenbetäubend.

    Autoteile flogen durch die Luft, Rauch und Feuer behinderten die Sicht, die Druckwelle war gut spürbar. Weber warf sich zu Boden und hielt die Hände schützend über den Kopf, was er bereute, als er aufstand. Sein rechtes Knie und der Rücken schmerzten durch die abrupte Bewegung, was er aber nur einen Moment wahrnahm. Fassungslos schaute er auf die Szenerie, die sich ihm bot. Flammen, Rauchwolken, zersplittertes Glas. Dazu tönende Alarmanlagen anderer Pkws. Er griff in die Manteltasche ‒ vergeblich. Sein Telefon lag auf dem Küchentisch.

    Aus den umliegenden Häusern rannten Menschen auf die Straße, schrien und riefen durcheinander, fast zeitgleich ertönten Sirenen. Endlich fiel die Schockstarre von Weber ab. Er lief in Richtung der Explosion, um zu sehen, ob er noch helfen konnte, doch die Hitze hielt ihn zurück. Der Mann neben ihm fotografierte mit seinem Handy. Weber hob seinen Arm, um dem Fremden das Teil aus der Hand zu nehmen. Im letzten Moment besann er sich, schrie ihn stattdessen an. »Spinnen Sie? Gaffer! Seelenloses Pack! Tun Sie etwas Vernünftiges, statt zu filmen. Helfen Sie oder rufen Sie Hilfe.«

    »Ich weiß gar nicht …«

    »Was wissen Sie nicht? Sie können mit Ihrem Scheißhandy aufnehmen, aber keinen Notruf absetzen? Wollen Sie mich verarschen?«

    »Reden Sie nicht so mit mir! Was fällt Ihnen ein?«

    Webers Hand zitterte, während sich sein Körper verkrampfte. Er wollte zuschlagen. Ins Gesicht, mitten auf die Nase. Sie zum Bluten bringen. Dem Ignoranten weh tun. Er musste nur seinen Arm heben und … Er schloss die Augen, kämpfte gegen den Impuls. Er schüttelte sich, die Schreie anderer Menschen drangen in sein Bewusstsein und er drehte sich um. Ein gigantisches Chaos bot sich ihm. Die Hitze, die von dem Fahrzeug ausging, verhinderte, dass er näher herangehen konnte. Fassungslos schaute er auf das Wrack. Alle Seitenscheiben waren zersplittert. Wo normalerweise Front- und Heckscheibe waren, klafften große Löcher. Die Motorhaube und die vorderen Türen waren verbogen, Flammen loderten aus dem Inneren. Den Männern war nicht mehr zu helfen. Weber schluckte den Würgereiz hinunter. In seiner aktiven Zeit hatte er einige Tote gesehen, auch Opfer von Explosionen, aber an den Anblick gewöhnte man sich nicht.

    Er begann, die Einzelheiten des Tatorts in sich aufzunehmen und sich jede Kleinigkeit einzuprägen. Der Attentäter hatte genau gewusst, was er tat. Die Menge des Sprengstoffes war ausreichend für den Wagen. Kein Zufallsanschlag und schon gar nicht die Arbeit eines Laien. Weber vermutete einen Sprengstoffexperten, ausgebildet bei Militär oder Bergbau. Ein Profi. Trotz der Wut über seine Mitmenschen, sein Entsetzen über solch eine Tat in Speyer, blieben Webers Gedanken klar und geordnet.

    Wann kamen die Kollegen, die Feuerwehr, die Kriminaltechnik? Der Tatort musste abgeriegelt werden. Immer mehr Zuschauer fotografierten mit ihren Handys und lachten dabei, als handelte es sich um ein Videospiel.

    Was war nur mit den Menschen los?

    Sirenen kündigten endlich Feuerwehr und Polizei an. Zufrieden beobachtete Weber, wie Uniformierte den Tatort großräumig absperrten. Sie hielten Gaffer ab, die Sperrungen zu umgehen, und befragten Zeugen. Polizisten filmten die Umgebung, genauso wie Journalisten und Privatleute. Das war nicht zu verhindern, was Weber erneut wütend werden ließ. Doch der Täter kam immer an den Tatort zurück, dachte er. Wichtiges Zeugenmaterial, das nach Auffälligkeiten gesichtet werden musste. Jede Menge Befragungen standen an. Wo konnte er helfen? Er war ebenfalls Augenzeuge, wenn auch kein Kommissar mehr.

    Jemand berührte ihn. »Ferdinand, du solltest zum Krankenwagen, dich verarzten lassen. Du blutest.«

    Weber drehte sich verwirrt um. »Mir geht es gut, ich habe nichts abbekommen.« Er sah in ein bekanntes Gesicht. Sein Freund bei der Polizeiinspektion Speyer, Christian Hamacher, legte ihm

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