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Sieben Türen: Irrlichter Band 1
Sieben Türen: Irrlichter Band 1
Sieben Türen: Irrlichter Band 1
eBook1.084 Seiten16 Stunden

Sieben Türen: Irrlichter Band 1

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Über dieses E-Book

Dortmund brennt.

Und in den Trümmern und Häusern, in den Autos und auf den Straßen erwachen die Menschen ohne eine Erinnerung an die letzten Stunden und ohne die Katastrophe erklären zu können, die über das Ruhrgebiet hinweggerollt zu sein scheint.
Unter ihnen sind auch Bastian, Ayten und Jan. Sie durchleben all das Chaos und die Gefahren der ersten Stunden nach dem Erwachen und müssen bald erkennen, dass sehr viel mehr geschehen sein muss, als in den Medien gesagt wird, denn sie werden mit Gefahren und Wundern konfrontiert, die nicht möglich sein können.
So machen sich die drei Protagonisten dieser Geschichte auf die Suche nach Antworten und etwas, das sie Sicherheit und einen neuen Platz in der Welt nennen können.

In Michael Volmers erstem Teil seiner Trilogie verschmelzen drei unabhängige Geschichten zu einem Spiel aus Meinungen, Glauben und Wissen, in dem der Leser zu einem vierten Suchenden nach Antworten wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. März 2020
ISBN9783750439993
Sieben Türen: Irrlichter Band 1
Autor

Michael Volmer

Michael Volmer lebt und arbeitet in Dortmund Mehr Informationen unter: michael-volmer-autor.com

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    Buchvorschau

    Sieben Türen - Michael Volmer

    Für Bo

    Kurze Anmerkung des Autors:

    Ich habe hiermit offiziell zu bestätigen, dass sämtliche in dieser Geschichte handelnden Figuren selbstverständlich frei erfunden sind und auf gar keinen Fall real existierende Personen darstellen. Alle Parallelen in Namen und Charaktereigenschaften zu den Personen meines Umfeldes und denjenigen der Öffentlichkeit sind somit Zufall.

    Leider.

    Und nun, lieber Leser, lasse ich Sie allein

    Inhaltsverzeichnis

    Tag 1

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Tag 2

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Tag 3

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Tag 4

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Tag 5

    Bastian

    Ayten

    Der Bibliothekar

    Bastian

    Ayten

    Tag 1

    Bastian

    Bastian erwacht.

    Schmerzhaftes Ringen nach Luft, krampfhaftes Einatmen. Rot geaderte, zuckende Augen.

    Er sieht nichts, nur verschleierte und schemenhafte Strukturen hinter verklebten Lidern.

    Ganz langsam regen sich in ihm Gedanken, doch sie sind ebenso schemenhaft, Brocken. Sein Verstand versucht zu denken, wach zu werden, doch er ist zu benebelt, zu kraftlos und noch zu sehr von tiefem Schlaf umwickelt. Wie bei einem auf dem Rücken liegender Käfer, Gregor Samsa nach der Verwandlung, zucken seine Gedanken wie Beine in der Luft.

    „W W I Ich IchIch W Wa"

    Dann, plötzlich, träumende Klarheit.

    „Was ist los?" Bastian weiß es nicht. Nur allmählich sickert eine Ordnung in seine Gedanken und die tanzenden Schemen werden zu Filmstrecken. Ich habe geschlafen. Mein Gott, kommt es ihm in den Sinn, wie lange habe ich geschlafen? Er atmet tief ein, versucht sich zu sammeln, wieder in die Realität zurückzufinden und reibt sich die Augen.

    Normalerweise kann er gut zwischen Wachsein und Traum unterscheiden, ganz gleich, wie tief er geschlafen hat. Jetzt aber meint Bastian zwar, wach zu sein, doch lassen sich die Bilder des Traumes nicht verscheuchen und es gibt keine Erkenntnis, kein Wissen, wach zu sein, oder noch zu schlafen. Es fühlt sich sehr unangenehm an, dass sich Traum und Wachzustand um die Herrschaft in seinem Verstand streiten und dass Bastian nicht in der Lage ist, sie zu trennen oder den Kampf zu beeinflussen.

    Obwohl es sich anfühlt, als wäre er wach, sieht er noch immer Bilder seines Traumes. Die Arbeit ist ihm sozusagen mit nach Hause und bis ins Bett gefolgt und noch immer erscheinen die Wände der Intensivstation, auf der er als Krankenpfleger arbeitet, in seinem Verstand. Doch sie sind dunkel, als wäre die ganze Station ohne Licht. Bastian gefällt das nicht. Die Intensivstation ist immer beleuchtet und ihre dunkle Stille, wie er sie jetzt sieht, ist bedrückend wie ein Albtraum. Ein Albtraum? Ist das ein Albtraum? Doch da ist noch etwas: er meint sich zu erinnern, wie er in seinem Traum an den dunklen Wänden entlanggeschaut hat und unfähig war, sich zu bewegen. Doch diese Erinnerung ist sehr vage, eher ein Gefühl, kein konkretes Bild, an das sich langfristig erinnert werden kann und Bastian vergisst dieses Gefühl wieder und es zerfällt.

    Das Licht flackert und geht an. Über ihm, etwas versetzt, hängt die Lampe der Intensivstation, eine Leuchtstoffröhre, die an zwei Metalldrähten befestigt ist. Bastian reibt sich erneut über die Augen und begreift nicht, was dieses Licht bedeutet, doch es tut ihm gut und hilft ihm, aus dem Nebel des Schlafs herauszufinden, denn es ist Zeit, diesen Traum zu verscheuchen. Er lässt seine Hände auf die Matratze zurückschnellen, schlägt auf sie, um sich aufzuwecken. Der Aufprall ist sehr viel schmerzhafter, als erwartet, denn die Hände fallen nicht auf die weiche Sieben-Zonen-Kaltschaummatratze seines Bettes, sondern auf etwas Hartes. Das ist keine Matratze. Er fühlt noch einmal genauer nach, reibt über eine kalte und harte Fläche. Bastian dreht den Kopf und schaut hin. Neben ihm sieht er Räder, klein und grau, und ein verkabeltes Gestänge, weißes Metall, schwarze Kabel. Er weiß, was das ist: es ist die Unterseite eines Krankenhausbettes. Und das Bett steht auf grauem Kunststoffboden. Bastian runzelt die Stirn und richtet sich mit einem Ruck auf. Ihm ist schwindelig und es dreht sich vor seinen Augen, außerdem nimmt er jetzt zum ersten Mal seinen schmerzenden Hinterkopf wahr, doch er bleibt sitzen und schaut sich um.

    Die Verwirrung wird von etwas Unangenehmen aufgefüllt. Es ist eine infantile Hilflosigkeit, die dadurch entsteht, dass er nicht weiß, wo er ist und nicht in der Lage ist, Orientierungspunkte zu finden; ein Gefühl, als hätte alles, was er sieht, die natürlichen und bekannten Proportionen verloren.

    Dann erhebt sich wie auf ein stummes Signal hin ein misstönendes, mechanisches Konzert; piepende Geräusche, klackende Mechaniken, automatisierte Luftströme. Maschinen. Bastian kennt dieses Konzert: Infusomaten, Beatmungs-maschinen, Perfusoren, Ernährungspumpen.

    Medizinisches Gerät. Krankenhausbetten. Die Lampen der Intensivstation. Die Wände der Intensivstation.

    Wieso? Ist das kein Traum? Ist er etwa eingeschlafen? Er sieht an sich herunter, sieht hellblaue Kleidung und weiße Schuhe, Dienstkleidung und seine Dienstschuhe. Ich sitze auf dem Boden der Intensivstation, denkt er noch immer verwirrt. Wie konnte das passieren? Mein Gott, denkt er erneut. Was ist passiert? Bin ich wirklich eingeschlafen?

    Zuvor haben die Maschinen nur gepiept, wie sie es immer tun, wenn sie booten und angeschaltet werden, jetzt verwandelt sich das Piepen in ein wütendes Alarmieren.

    Wenn man auf einer Intensivstation arbeitet, ist man ständig von der Akustik der Geräte umgeben und man entwickelt im Laufe der Zeit ein instinktives und selektierendes Gespür für das permanente Piepen, Bimmeln oder Klingeln der medizinischen Geräte. Wie bei einer Mutter, die nur auf das Babygeschrei ihres eigenen Kindes reagiert, wissen erfahrene Intensivpfleger sofort, was wichtig ist und was nicht, ob sie erst einmal abwarten können oder sofort handeln müssen, ob sie etwas hören müssen, oder nicht. Dadurch tritt die für Besucher teilweise verstörend wirkende Geräuschkulisse in den Hintergrund und wird erst dann wirklich wahrgenommen, wenn sie wichtig wird und eine Reaktion erfordert. Erfahrene Intensivpfleger müssen darüber nicht mehr nachdenken, sondern folgen eingeprägten Reaktionsmustern.

    Und diese Proteste der Maschinen dürfen nicht ignoriert werden. Ihre Warnung schneidet durch die letzten Schleier, die der lange Schlaf vor Augen und Geist gelegt hat und werfen sie ab, wie ein bockendes Pferd seinen trägen Reiter. Bastian ist sofort wach, als hätte man einen Eiskübel über ihm ausgekippt, denn das, was er jetzt hört, ist das bedrohliche Schrillen eines möglichen Notfalls und es kommt von den Maschinen direkt neben ihm.

    Er will aufspringen, doch er hält plötzlich inne. Sekunde mal, denkt er. Warum haben sie vorhin gebootet? Waren sie etwa aus? Das Licht ging an, das Licht, das eigentlich immer an ist, erinnert er sich. „Scheiße", entfährt es ihm. Sein Verstand beschleunigt sich, die Maschinen waren aus! Die Patienten in den Betten, für die er zuständig ist, sind auf Leben und Tod auf diese Maschinen angewiesen. Jetzt möchte er aufspringen, muss sich aber am Bett festhalten und teilweise hochziehen, denn sein Körper ist steif und schmerzt, und seine Gelenke wirken starr und schwach. Trotz der eingeprägten Reaktionen bleibt eine seltsame Zurückhaltung, die ihn langsamer macht. Irgendwo in einer Ecke seines Verstandes sagte ihm etwas, dass die steifen Gelenke ein Zeichen dafür seien, dass er lange auf diesem harten Boden gelegen haben muss. Sehr viel präsenter aber ist die Frage, wie das passieren konnte und warum niemand ihn geweckt hat. War er ohnmächtig gewesen? Ist er allein? Doch es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn alles wird überdeckt von diesen seltsamen Alarmen und der Sorge um das Leben des Patienten, für den Bastian aus pflegerischer Sicht verantwortlich ist.

    Das, was dort eben gebootet hat und jetzt protestiert, ist die Beatmungsmaschine. Bastian hat vor allem sie gehört, sie hat ihn aufstehen lassen und richtig aufgeweckt, denn dass sie jetzt so dringend alarmiert und eben gebootet hat, bedeutet, dass der Patient in dieser Zeit keine Luft bekommt. Eine Maschine, die hochfährt, kann erst arbeiten, wenn sie hochgefahren ist. Und ihr energisches Alarmieren bedeutet, dass etwas nicht stimmt.

    Instinktiv ruft Bastian „Notfall!" Wenn die Maschine nicht arbeitet, müsste er den Patienten mit einem Beatmungsbeutel manuell beatmen und hätte dann keine Möglichkeit, auf etwas anderes zu reagieren. Also benötigt er noch einen Kollegen. Doch niemand kommt. Er hört niemanden. Stattdessen wird sein Ruf von immer mehr Alarmen beantwortet. Die ganze Station, die ganze Luft, ist voll davon.

    Was, zum Geier, ist bloß los? Doch für die Suche nach einer Antwort ist keine Zeit, Bastian muss ein Leben retten und tritt ans Bett, als genau in diesem Moment ein anderer Alarmton einsetzt: ein monotones ‚Dingdong Dingdong Dingdong (...)’. Bei diesem Geräusch drehen sich normalerweise Köpfe, beschleunigen sich Schritte, oder werden sofort Notfallmaßnahmen eingeleitet, denn dies ist der sogenannte Lebensbedrohliche Alarm, das heißt, dass die Überwachungsmonitore (die unter anderem die Signale der Herztätigkeit oder die Sauerstoffsättigung des Blutes messen) Signale des Körpers auffangen, die als akut lebensbedrohlich für den jeweiligen Patienten eingestuft werden. Bastian schaut zum Monitor. Eine gerade Linie: Asystolie, das heißt, dass das Herz nicht mehr arbeitet, stillsteht und somit keine Herztätigkeit mehr messbar ist. Auch dieser Alarm schallt mit einem Mal von allen Seiten über den Flur.

    Bastians Blick fällt in diesem Moment zum ersten Mal auf den Patienten, neben dessen Bett er steht, doch anstatt die Elektroden zu kontrollieren, die als EKG-Verbindung zwischen Maschine und Mensch oft für Fehlalarme verantwortlich sind, zu handeln, Maßnahmen zu ergreifen, hält er für einen kurzen Moment inne und macht spontan sogar einen Schritt zurück, weg vom Bett.

    „Scheiße, was ist denn das?" entfährt es ihm.

    Bastian hat diesen Mann in seinem Dienst betreut, einen schwerkranken Patienten, tracheotomiert, sediert und seit einem schweren Herzinfarkt kardial instabil. Dank einer intensiven Betreuung hat er vor einem Multiorganversagen bewahrt werden können und war seit gestern nicht mehr katecholaminpflichtig. Trotzdem gaben ihm die Ärzte eine äußerst schlechte Prognose und doch war der Patient vor Bastians unerklärlicher Ohnmacht lebendig gewesen.

    Jetzt aber hat dieser Mann eine gelbe, marmorierte Haut. Seine Augen haben geweitete Pupillen und die Lider sind ungleich geöffnet. Bastian geht an das Bett heran und berührt den Oberarm des Patienten vorsichtig mit seinem Finger die durch einen Handschuh geschützt sind. Der Arm ist eiskalt und vollkommen starr. Jetzt nimmt Bastian auch den unangenehmen ranzig-süßen Geruch wahr, den dieser Körper verströmt. Man muss keine Erfahrung haben, um zu wissen, dass hier keine Maßnahme mehr helfen würde. Dies ist ein lebloser Körper, der bereits seit vielen Stunden tot sein muss.

    In diesem Moment muss sich Bastian sagen, dass er wach ist, obwohl das eigentlich überflüssig ist. Er wusste es mit dem Moment, in dem die Alarme begannen. Doch in ihm schwebt eine Frage, die bereits in ihrer Formulierung so seltsam klingt, dass Bastian sie weder begreifen, geschweige denn lösen kann: wenn ich ohnmächtig war und mein Patient während dieser Zeit verstirbt, warum hat das niemand bemerkt? Bastian schaut auf und zum Ausgang des Zimmers. Die schwere Schiebetür aus Metall ist offen und durch ihre Öffnung dringen die Lebensbedrohlichen Alarme von unzähligen Maschinen herein. Der Mann im Bett vor ihm ist tot, Bastian kann ihm nicht mehr helfen. Und indem Bastian die anderen Alarme realisiert, sagt ihm eine kalte Logik, dass der Körper vor ihm nicht der einzige ist, der eine marmorierte Haut hat. Jetzt hat er zum ersten Mal richtig Angst.

    Bastian ist in vielerlei Hinsicht ein toleranter Mensch, der in seinem Denken und Handeln neuen und bisher unbekannten Situationen, Sachverhalten und Denkmustern Raum gibt, um sie zu begreifen, zu verstehen und um sie in sein Wissen und sein Weltbild integrieren zu können. Offenheit und Meinungswechsel waren für ihn nie ein Zeichen von Charakterschwäche, sondern von Möglichkeiten. Dennoch muss dieses Zulassen ein Mindestmaß an Erklärbarkeit haben und eine grundsätzliche Erfüllbarkeit erkennen lassen.

    Doch in diesem Augenblick ist Bastian ernsthaft verwirrt, er kann sich auf all das keinen Reim machen, kann keine Lösung für das Problem finden oder auch nur ansatzweise eine Möglichkeit ausmachen, die eventuell eine plausible Erklärung liefern könnte. Wie konnte er schlafen und keiner merkt es, wie konnte dieser Patient so lange liegen, vollkommen erkalten, und niemand nimmt Notiz davon? Und vor allem, warum ist Bastian eingeschlafen? Ist er krank? Er fühlt sich allein an einem Ort, an dem er noch nie alleine gewesen ist. Fast wünscht er sich, doch nicht wach zu sein, denn diese Situation taugt eher für einen Albtraum, als für die Realität. Dann schüttelt er sich und richtet seinen Blick auf den toten Körper vor sich. Das ist die Realität! Bastians Verstand nimmt weiter Geschwindigkeit auf. Maschinen aus, Menschen in Ohnmacht, wahrscheinlich über Stunden hinweg. Ein Angriff, eine Art Welle, oder Explosion? Die Alarme lassen ihn nicht klar denken, er muss nachsehen. Auch wenn er es nicht glaubt, besteht eine Chance, dass ein Patient noch lebt. Außerdem möchte er nach seinen Kollegen sehen. Erst das gibt ihm Antrieb, denn der Gedanke, allein zu sein mit vielen toten Körpern ist bereits in seiner Möglichkeit schrecklich. Also stellt Bastian die Beatmungsmaschine auf Standby, schaltet den Überwachungsmonitor aus, deckt den toten Körper zu, dreht sich um, um aus dem Zimmer zu gehen.

    In der Tür steht der Käpt’n.

    Den Namen trägt er nicht zu Unrecht, er sieht tatsächlich eher aus wie ein Seebär, als ein Krankenpfleger: stämmig und fast athletisch, breites, markantes Gesicht, kurze, rote Haare. Es fehlen eigentlich nur noch die Pfeife und der Seemannsbart. Bastian erschrickt sich im ersten Moment furchtbar, dann spürt er eine fast unendliche Erleichterung. „Käpt’n, was ist hier los? platzt es aus ihm heraus. Doch dieser hebt einfach nur die Hand und sagt: „Komm mal mit raus.

    Als Bastian auf der Intensivstation anfing, war der Käpt’n sein Mentor und Anleiter gewesen. Er war ein strenger und extrem undiplomatischer Lehrer, der viel weiß und viel fordert. Bastian ist in dieser Zeit durch die Hölle gegangen, doch hat er auch viel gelernt; er hat aber auch seinen Mentor lieben gelernt, da dieser unter seiner rauen Schale einen sehr sympathischen Kern verbirgt, der in Situationen zu Tage kommt, in denen man es am wenigsten erwartet. Im Laufe der Jahre hat sich ein sehr inniges Verhältnis entwickelt, eine Vater-Sohn-Beziehung, die so weit geht, dass sie sich regelmäßig auch außerhalb der Dienstzeiten treffen, um ihr gemeinsames Fable für den Modellbau auszuleben.

    Eines lernte Bastian in seiner Anfangszeit jedoch vor allen Dingen: dass nichts, aber auch wirklich gar nichts, den Käpt’n aus der Ruhe bringen kann, der selbst in den extremsten Situationen eine geradezu pathologische Gelassenheit an den Tag legt.

    Bis heute; denn als Bastian ihm in die Augen sieht, erkennt er zum ersten Mal etwas, das er niemals auch nur entfernt für möglich gehalten hätte. Der Käpt’n ist sichtlich besorgt. Diese Erkenntnis erstickt jede Frage in ihm, so dass Bastian seinem Mentor einfach still in den Flur folgt, ohne zu fragen. Irgendwie weiß es Bastian schon, doch jetzt hofft er, dass es nur das ist. Der Käpt’n steht neben der Tür, die Beine leicht gespreizt und die Arme vor der Brust verschränkt. Er schaut nach oben und als Bastian ebenfalls aus dem Patientenzimmer tritt, sagt der Käpt’n, ohne den Blick von dem abzuwenden, was er betrachtet: „So, und das erklär mir jetzt mal."

    Bastian folgt dem Blick und schaute hoch. Die Wände und die Decke der Intensivstation sind Weiß mit einem leichten Stich Ocker angestrichen worden. Überall sind Führungsschienen für die Metalltüren der Zimmer und immer wieder sind in den Ecken Kabelkanäle und Wandleisten angebracht worden. Doch zentral auf den Gängen befinden sich große Flachbildschirme, auf denen die Tätigkeiten der Überwachungsmonitore aus sämtlichen Patientenzimmern dargestellt werden. Genau auf einen dieser Monitore schaut nun der Käpt’n. Alle sechzehn Felder der einzelnen Patientenbetten blinken rot und jedes einzelne zeigt keine Herzimpulse darstellende, bewegte Linie, sondern eine gerade, asystole Herzlinie ohne Bewegung sowie eine große, rot blinkende Null, wo eigentlich die Pulsfrequenz hätte angegeben werden müssen. Das heißt, dass sämtliche Patienten der Intensivstation tot sind.

    (Bastian und der Käpt’n stehen vor dem Überwachungsmonitor.)

    Bastian: Unglaublich.

    Käpt’n: Ich bin jetzt seit dreißig Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.

    Bastian: Ich glaube, keiner hat jemals so etwas erlebt.

    Käpt’n: Wie hast Du es geschafft, alle auf einmal umzubringen? Du warst ja immer schon …

    Nicole (aus einem der Zimmer rufend): NOTFALL!!

    Bastian: Warst Du auch ohnmächtig?

    Käpt’n: …

    Bastian: Käpt’n! Warst Du auch ohnmächtig?

    Käpt’n: Ich kann mich nicht erinnern. Ich saß auf einem Stuhl am Patientencomputer (jedes Patientenbett hat einen Computer, in dem sämtliche Daten und Parameter vor Ort eingetragen werden) und plötzlich lag ich davor, als wäre ich runtergerutscht. Aber ich weiß nicht, wie und warum. Es war, als wäre keine Sekunde vergangen. Und plötzlich alarmieren alle Maschinen.

    Bastian: Also wie eine Synkope mit retrograder Amnesie. Bei mir war’s so, als wäre ich eingeschlafen, ich habe auch geträumt, glaube ich, und weiß, dass ich geschlafen habe. Aber ich war dabei, als die Maschinen anfingen zu booten.

    Käpt’n: Das heißt, die Maschinen waren aus. (er deutet auf den Monitor) Und das ist das Resultat.

    (Karla und Nils kommen aus einem der hinteren Zimmer der Station. Karla ist eine stets jung aussehende Frau mit schulterlangem, dunkelbraunem Haar, auffallend roten Wangen und einer leisen, fast gelangweilten Stimme. Nils ist etwas kleiner, grinst immer fröhlich und hat einen gewellten Pferdeschwanz und einen Vollbart aus langsam immer grauer werdenden dunklen Haaren)

    Nils (schaut auf den Monitor): Ach, du scheiße!

    Karla: Was ist hier los? Nils und ich haben gerade Frau XXX gelagert und dann lagen wir auf einmal neben dem Bett und die Frau ist plötzlich sowas von tot. Und wie es scheint (sie deutet auf den Monitor) alle anderen auch?

    Käpt’n: Anscheinend waren wir alle ohnmächtig.

    Bastian: Und die Geräte waren aus.

    Nils (sich umsehend): Die Alarme kommen von überall. Das nervt.

    Bastian: Ja, wir sollten mal durch die Zimmer gehen.

    Karla: Seht Euch mal das Datum an. (Der Überwachungsmonitor zeigt am unteren rechten Bildrand Zeit und Datum an. Das Datum ist dasjenige vom Folgetag)

    Bastian: Stimmt das?

    Käpt’n: Nein.

    Nils: Wie lange waren wir denn weg?

    Käpt’n: Das kann nicht stimmen. Die Geräte waren aus, vielleicht ist das ein Fehler.

    Karla: Sieh Dir mal die Toten an. Die sind nicht erst seit gerade eben hinüber. Das wäre eine Erklärung.

    Nils: Das ist keine Erklärung, sondern einfach verrückt. Wie ist so etwas möglich? Kann man vierundzwanzig Stunden weg sein? Einfach so und ohne Folgen?

    (Nicole kommt aus einem Patientenzimmer geschossen. Sie ist die Jüngste, blonder Zopf, außergewöhnliche, blaue Augen, schlank.)

    Nicole: Ich habe ‚Notfall‘ gerufen. Wenn Ihr mir schon nicht helfen wollt, dann steht wenigstens nicht im Weg herum! Mann, ey!

    Käpt’n (packt sie am Arm): Wen willst Du denn genau retten? (Er deutet auf den Monitor)

    Nicole (bleibt stehen): Ich … ich.

    Käpt’n: Sind Deine Patienten auch kalt wie Stein?"

    Nicole: Eben waren sie doch noch am Leben. Was passiert hier? Und lass mich gefälligst los!

    Bastian: Also wie bei Dir, Käpt’n.

    (Sie reißt sich los. Eddi und Tom kommen aus dem neuen Teil der Intensivstation. Eddi ist ähnlich stoisch ruhig, wie der Käpt’n, doch auf eine gemütliche Art und Weise, er trägt Brille, ist rothaarig und von imposanter Statur, Tom ist schlanker, hat graue Haare, Brille und immer markant bunte Socken. Tom und der Käpt’n sind schon seit Ewigkeiten auf dieser Abteilung. Hinter ihnen kommen Volker und Nick aus dem Dienstzimmer der Ärzte. Nick ist groß und sportlich, schaut immer ein bisschen traurig und sein Drei-Tage-Bart umfasst den kompletten Schädel. Volker wirkt sehr viel jünger, als er ist, Brille, braunes, kurzes Haar, aber vor allem hat er eine fast erotische, tiefe und sonore Stimme)

    Eddi: Irgendwo hört der Spaß auf.

    (Karla erzählt den Ärzten von ihren Erfahrungen)

    Tom: Bei uns genauso. Eddi habe ich im Zimmer sitzend gefunden und ich lag neben einem Patientenbett. Alle Patienten sind starr und kalt. Wir können uns auch an nichts erinnern.

    Volker: Ich lag auf dem Schreibtisch, Nick neben dem Aktenschrank.

    (Lautes Fluchen. Petra, die Sekretärin der Abteilung, kommt unter ihrem Tisch hervorgekrochen. Sie hat lange, braun-blonde Haare, ist schlank, etwa zehn Jahre älter als Bastian und eine echte Ruhrpottschnauze: laut, direkt, roh wirkend, aber mit sanftem Kern und eine der Fähigsten des ganzen Teams. Bastian mag sie besonders.)

    Petra: Ehrlich, ey, was ist das denn hier für ne Kacke. (Sie schaut über die Theke, die sich in der Mitte der Station befindet und sieht die Gruppe.) Ja, genau, lasst mich ruhig hier liegen!

    Käpt’n: Jetzt sind wir fast komplett, wo ist Mattin?

    Bastian: MARTIN!

    (Pause)

    Nils: Komisch.

    Petra (kommt zur Gruppe): Und sonst so? Wollta nicht mal zu den Alarmen gehen? Nö, wieso auch ...

    Bastian: Petra ...

    Petra: Oder Euch mal um Eure Kollegin kümmern, die eben ohnmächtig war?

    Karla: PETRA.

    Petra: Nein, ne-h-ein! Bin ja bloß die Tippse hier. Ihr steht lieber hier so rum und...

    Käpt’n: JETZT HALT MAL DEIN MAUL!

    Volker: Uns ging es allen so, wie Dir. Und... (Er deutet auf den Monitor)

    Petra: Oh. (Karla nimmt sie zur Seite und spricht leise mit ihr)

    (Tom hält sich den Hinterkopf)

    Käpt’n: Du blutest.

    Tom: Tinnef. Das ist schon getrocknet, aber es zwiebelt ganz schön.

    Bastian: MARTIN! WO BIST DU?

    Nils: Das gefällt mir nicht, wir sollten mal nachsehen. (Er sieht Tom an) Nicht, dass er schwerer gestürzt ist.

    Volker: Wir müssen vor allem nach allen Patienten schauen.

    Nick: Ich rufe mal woanders an. CIS, IP (Chirurgische Intensivstation und Intensiv Pflegestation) vor allem. Tom, Du bist okay?

    (Tom winkt ab, Nick geht ins Arztzimmer)

    Nicole: Seht mal hier. Auf meinem Handy wird das gleiche Datum angezeigt, wie auf dem Monitor.

    Bastian: Bei mir auch.

    Nils: Ja, dito.

    Eddi: Heftig.

    Käpt’n: Auf, sehen wir nach, was mit den Patienten ist. Und mit Mattin.

    (Man verteilt sich, geht durch die Räume. Ein Alarm nach dem anderen erstirbt. Dann trifft man sich wieder unter dem Überwachungsmonitor. Es ist still.)

    Tom: Habt Ihr Mattin gefunden?

    Alle: Nein.

    Volker: Und alle Patienten sind tot.

    Nils: Wir sind umgeben von Toten.

    Eddi: Und alle Uhren sagen, dass es ein Tag später ist.

    Tom: Es scheint zu stimmen.

    Käpt’n: Jaja!

    Bastian: Hat irgendjemand eine Idee, was das war?

    Tom: Keine Ahnung.

    Volker: Ein Unfall?

    Nicole: Vielleicht gab es Probleme in der Klimaanlage oder in einer Gasleitung. Oder so.

    Eddi: Das macht aber nicht die Geräte Ohnmächtig.

    Nicole: Dann ein Schaden in der Stromversorgung, der damit zusammenhängt?

    Eddi: Soweit ich weiß, sind das zwei völlig unterschiedliche paar Schuhe.

    Käpt’n: Oder ein Angriff? Ein Anschlag, vielleicht?

    Tom: Womit denn?

    Käpt’n: Keine Ahnung, aber wenn wir wissen, was passiert ist ...

    Nils: Hallo? Wir kennen noch nicht mal die Auswirkungen!

    Karla: Leute, Martin ist immer noch weg.

    Volker: Jemand sollte ihn suchen gehen. In jedem Raum.

    Nils: Das mache ich. (entfernt sich)

    (Nick kommt zurück)

    Nick: CIS, IP, alles das Gleiche. Auf der CIS hat nur ein Patient überlebt, auf der IP sind zwei gestorben.

    Bastian: Es scheint im ganzen Haus so zu sein.

    Käpt’n: Du bist ja naiv. Wenn wir wirklich nur im Krankenhaus einen Tag gepennt hätten, dann hätten das Menschen von außerhalb mitbekommen. Besucher, Lieferanten und so, die betreten das Haus auch. Wir hätten die halbe Belegschaft der Polizei und der Feuerwehrt hierhaben müssen. Und dass man uns schlafen ließ und keine Sau außer uns hier ist, kann nur eins bedeuten.

    Volker: Dann sollten wir…

    (Die Notfallsprechanlage geht an, die sogenannte SINA, welche das Personal der Intensivstation über Notfälle im Haus informiert)

    SINA: Notfall auf der … Notfall auf den Stationen ME, M1, M2, M5, V3 und V4, sowie zwei Personalnotfälle im Panoramacafé und im Augen-OP.

    Käpt’n: Was ist mit der CIS? Macht die keine Notfälle mehr?

    SINA: Die CIS ist schon unterwegs zu Notfällen auf den Stationen der Chirurgie und der Herz-Thorax-Gefäßchirurgie.

    Eddi: Wow.

    Karla: Wie sollen wir das machen?

    (Aufgeregtes Stimmengewirr)

    Volker (laut): Scheiß egal jetzt. Wir können nicht alles auf einmal machen. Jetzt müssen manche eben warten. Wir fangen mit denen an, die am nächsten sind.

    Nicole: Was ist mit den Personalnotrufen?

    Volker: Die am nächsten sind!

    Nick: Wir bilden drei Gruppen. Jeweils ein Arzt und ein Pfleger laufen zu den Notfällen, anders geht es nicht, und die anderen machen die Plätze frei. Ja, so machen wir es und auf dem Weg rufe ich den Chef an. Wir brauchen mehr Leute hier.

    (Nick, Volker, Tom und Karla rennen los)

    Käpt’n: Was ist mit den Totenscheinen?

    Volker: Ihr macht Platz! Alles andere später! (ab)

    Petra: Ich rufe die Stationsleitung an. Wir brauchen nicht nur mehr Ärzte hier.

    (Beiseite, telefoniert)

    Eddi: Und wir räumen jetzt hier auf. Ich denke, wir sollten uns beeilen. Wenn es stimmt, was Nick von den anderen Stationen gesagt hat, dann könnten wir Platzprobleme in der Kühlkammer der Pathologie bekommen. Da unten ist ja noch nicht mal Platz für unsere Verstorbenen.

    Bastian: Ehrlich? Daran denkst Du jetzt?

    (Eddi zuckt mit den Schultern und verschwindet im nächsten Zimmer. Nicole wischt sich über die Augen)

    Bastian: Irgendwie habe ich das Gefühl, noch zu träumen.

    Nicole: Dann solltest Du langsam wach werden, ich glaube, es geht jetzt richtig los. (sie räuspert sich und geht ebenfalls in ein Zimmer)

    Petra: Anita ist schon unterwegs.

    Käpt’n: Auf, Junge.

    (beide ab)

    Bastian und der Käpt’n sind ein seit Jahren eingespieltes Team und sie sprechen nicht viel bei der Arbeit. Zwar ist die Versorgung von Verstorbenen eine für Bastian bekannte und routinierte Tätigkeit, doch die Stille der Station, das Wissen um die vielen leblosen Körper auf dieser Abteilung und die vielen offenen Fragen machen ihm zu schaffen. Reiß Dich zusammen, konzentrier Dich auf Deine Arbeit und sei professionell. Emotional hilfst Du niemandem.

    Sie entfernen sämtliche Schläuche und Zugänge des Verstorbenen, drücken dadurch entstehende mögliche Blutungen ab, drehen den Körper auf den Rücken, waschen und reinigen ihn, dann bringen sie ihn in die Position einer lebenden, schlafenden Person. Schließlich decken sie ihn zu und bringen ihn in ein sogenanntes Abschiedszimmer. Als letztes wird der Platz gereinigt und aufgerüstet, also für den nächsten Patienten bereitgemacht.

    Bastian arbeitet schnell und konzentriert. Nach einer Weile bekommt er Ruhe in seine Handlungen und Bewegungen.

    Noch bevor der erste Anruf der Notfallteams kommt, fliegt die Tür zur Intensivstation auf und Anita kommt herein. Sie ist die Stationsleitung und in jeder Hinsicht genau das, was eine Intensivstation als pflegerische Leitung benötigt: willens- und entscheidungsstark, direkt, robust, doch ohne dabei ihre Empathie zu verlieren.

    Sie kommt gerade von der wöchentlichen Stationsleitersitzung und schaut Petra an, die ihr gleich entgegenbrüllt: „Alle Patienten sind tot, mindestens sieben Notfälle allein für uns, zwei Teams laufen."

    Anita bleibt kurz stehen, dann holt sie Nicole zu sich. „Ihr macht hier weiter, wir beide gehen die einzelnen Notfälle auf den Abteilungen durch und schauen nach, wo die Teams hinmüssen. Petra, Du rufst jeden aus unserem Team an. Alle, die Du erreichst, bestellst Du hierher. Offizielle Dienstanweisung. Ich lasse keine Entschuldigung gelten."

    Petra: „Was ist hier los, Anita?"

    Anita: „Keine Ahnung, aber das ganze Haus ist durcheinander. Irgendetwas hat uns getroffen, soviel scheint sicher. Alle Chefs und Verwaltungsleitungen springen im Dreieck und haben die Order ausgegeben, alle Mitarbeiter, die nicht im Haus sind, zu mobilisieren." Sie rennt los und wählt dabei Volkers Nummer.

    Nils kommt aus einem der großen Entsorgungsräume im hinteren Teil der Station.

    „Ich habe hier etwas Seltsames gefunden!"

    Der Käpt’n antwortet rufend und Bastian zuckt zusammen. „Geht es um Mattin? Nils: „Ja.

    Bastian, Eddi und der Käpt’n laufen zu Nils. Petra streckt ihren Kopf über die Theke, das Telefon am Ohr.

    Der Entsorgungsraum ist weiß gekachelt, hat auf der einen Seite eine Spüle mit Desinfektionsmittelspender zur Flächendesinfektion und zur maschinellen Säuberung von Pflegeutensilien, wie Urinflaschen und Steckbecken. An den anderen Wänden sind Regale angebracht und Tonnen für unterschiedliche Müll- und Glasabwürfe. Der Spüle gegenüber ist ein kleines Fenster in die Wand eingelassen, ähnlich dem einer Kellerluke, nur etwas größer und dorthin zeigt Nils, als sie hereinkommen. Das Fenster ist eingeschlagen worden und unter dem Fenster, hinter ein paar Abwurftonnen für besonders verunreinigte oder kontaminierte Dienstkleidung liegen ein Unterhemd und ein Kasack.

    Nils: Ich habe das am Kasack gefunden. (Er hält einen Dienstausweis hoch, der das Bild von Martin zeigt)

    (Stille)

    Bastian (nach einer Weile): Es liegen kaum Scherben hier. Das Fenster scheint von innen eingeschlagen worden zu sein.

    Eddi: Das heißt, Martin ist in den Entsorgungsraum gegangen, hat sich seine Oberteile ausgezogen, dann die Scheibe eingeschlagen und ist dann abgehauen?

    Käpt’n: Das Fenster lässt sich von innen öffnen. Ein Griff, und das Ding ist auf. (er betätigt den Fensterhebel) Wieso sollte er es einschlagen?

    Bastian: Viel wichtiger ist doch, warum ist er weg? Ich meine: alle Patienten sind tot, alle Maschinen waren aus und wir gleich mit. Martin war scheinbar schon vor uns wach, denn niemand hat ihn gesehen, ihn oder das Klirren des Fensters gehört. Was hat er gesehen oder erlebt, dass er Hals über Kopf und mit nacktem Oberkörper geflohen ist? Wenn es denn stimmt, dass er wirklich weggelaufen ist. Anstatt Antworten bekommen wir immer neue Rätsel.

    Petra (ruft): LEUTE! NICK IST UNTERWEGS MIT EINER LAUFENDEN REA! (Reanimation)

    Eddi: Am schlimmsten finde ich, dass wir keine Zeit haben, über all das nachzudenken. Wir reagieren nur.

    (Alle ab)

    Der erste Patient, der hereingebracht wird, ist ein relativ junger Mann Anfang Fünfzig, der im Monitorüberwachungsbereich für kardial instabile Patienten auf der Station ME gelegen hat. Er hat mit den Folgen des Stillstandes eines neu implantierten Schrittmachers zu kämpfen und sein Herz hat die Zeit des Ausfalls nicht kompensieren können. Während eine Schwester und ein Pfleger der ME das Bett schieben, beatmet Nick den intubierten Patienten manuell, Tom sitzt auf dem Patienten und führt Herzdruckmassage aus.

    Nick: Welches Zimmer ist fertig?

    Bastian: Zu mir. Die Zwei.

    Nick: Es gab noch einen Patienten, aber dem konnte man nicht mehr helfen. Der hier hat noch eine Chance.

    Bastian (schaut auf die marmorierten Beine): Seit wann atmet er nicht mehr?

    Pfleger: Ich kam gerade herein, als er zu röcheln anfing.

    Bastian: Aha.

    Nick: Diesen Ton kann ich jetzt nicht gebrauchen. Er bekommt seine Chance.

    Bastian: Natürlich. Hier rein.

    Käpt’n (hilft mit beim Umlagern ins Intensivbett): Wie sieht’s extern aus?

    (man arbeitet schnell. Die Beatmungsmaschine wird angeschlossen und der erste Monitor zeigt wieder einen Ausschlag der Herzlinie. Tom hört auf zu reanimieren.)

    Bastian: Puls ist da. 39er Frequenz, fallend. Suprarenin kommt.

    Nick: Okay.

    Schwester: Bei uns geht’s zu, als wäre eine Bombe explodiert. Viele Patienten sind durcheinander oder aus ihren Betten gefallen. Eine ist sogar ganz verschwunden. Wahrscheinlich rennt sie verwirrt irgendwo im Haus rum. Ein Pfleger hat sich richtig verletzt und liegt mit einem dicken Fuß mit Verdacht auf Bruch oder Bänderriss schon in der zentralen Notaufnahme. Keiner weiß, was los ist. Ihr?

    Nils: Nein.

    Pfleger: Wir müssen wieder rüber.

    Nick: Na klar, danke.

    (beide ab)

    Käpt’n: Zwei Betten sind fertig, Anita und Nicole sind ein Vorausteam. Was gibt’s Neues?

    Nick: Ärzte sind unterwegs. Der Oberarzt der Rhythmologie und der aus dem Katheterlabor haben ein eigenes Notfallteam zusammengestellt und laufen ebenfalls durchs Haus.

    Eddi: Gibt’s etwas Neues von Anita?

    Nick: Ja ... ist das Supra drin?

    Bastian: Ja, Frequenz steigt, 45.

    Nick: Wir bräuchten hier mehr Hände, gleich wimmelt es von neuen Patienten und ich bin noch alleine hier. Der Blutdruck ist scheiße. Wir brauchen ...

    Tom: Läuft schon, Perfusor ist an. Zum Glück hat er einen ZVK.

    Nick: Also, Anita. ... Sekunde, so. ... Anita hat angerufen, die Personalnotrufe haben sich erledigt. Im Café liegt ein Mitarbeiter hinter der Ausgabe. Der muss während des Schlafs erbrochen haben und ist erstickt. Im Augen-OP ist eine Ärztin so unglücklich nach vorne auf die Instrumente gefallen, dass sie sich den Hals inklusive Halsschlagader aufgeschlitzt hat. Wie das geht, weiß ich nicht, aber es ist wohl so.

    Anita sagt, dass sie auf mehreren Stationen schon gewesen wäre, auf denen Patienten teilweise auf den Fluren reanimiert oder in stabile Seitenlage gedreht würden. Für so einen Ausfall aller Systeme haben wir einfach zu viele Schrittmacherpatienten ...

    SINA: Notfall auf der ME.

    Nick: Verdammte Kacke, ich kann jetzt nicht. Ich bin im Moment der einzige Arzt hier. Ruft irgendwen an. Ein anderer Arzt muss da hin.

    Wir brauchen mehr Ärzte hier!

    (Nils ab)

    Bastian: Und mehr Pfleger. Zum Glück sind wir heute mal wieder unterbesetzt. PETRA, GIBT’S SCHON WAS NEUES?

    Petra (ruft über den Flur): Maren, Marco und Susen sind unterwegs, die anderen erreiche ich nicht. Habe gerade die ZNA dran.

    Eddi: Ich ahne es schon. (sieht auf den Monitor) Ich will jetzt nicht den Teufel an die Wand malen, aber der schafft es nicht. Das war nur der erste Medikamentenbolus.

    Nick: Bastian, wie sieht’s aus?

    Bastian: Atropin und Supra laufen auf Maximum. Blutdruck und Puls ...

    Nick: Fallen, ja, ich sehe es (lässt die Arme hängen). Einmal noch drücken. Dann hatte er seine Chance.

    Petra (ruft): Habt Ihr noch einen Platz fertig?

    Eddi: Die Vier ist fertig.

    Nils: Und die Eins.

    Petra: Die ZNA sagt, das Telefon steht nicht still, alle Rettungswagen seien in ganz Dortmund im Einsatz und der erste ist unten mit einem instabilen Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt.

    Bastian (Herzmassage ausübend): Kein eigener Auswurf, das Herz steht.

    Nick: Ich weiß.

    Bastian: Wie lange drücke ich noch?

    Nick: Zwanzig Minuten haben wir schon. Normalerweise würde ich alles geben, aber wir können nicht an einem Bett Vollgas gehen, während fünfzehn weitere Betten bald voll sein werden. Bastian und ich machen weiter, ihr anderen macht die Betten weiter frei. Sobald die Tür aufgeht, kommen wir auch.

    Eddi: Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Niemand reißt Dir den Kopf ab, wenn Du in einer akuten Situation wie dieser logische, aber unpopuläre Entscheidungen triffst. Denn das, was Ihr jetzt macht, ist nicht für den Patienten, sondern nur für Dein Gewissen. Seht Euch den Monitor an, der Mann ist schon auf dem Weg nach oben.

    Tom: Oh, Mann. (ab)

    Bastian sieht Nick die Erleichterung an, als vier Minuten später die Tür aufgeht und Volker mit einem zwar beatmeten, aber stabilen Patienten von der Station V4 hereinkommt. Sie verlassen Bett Nummer Zwei und helfen beim Umbetten und Versorgen. Bastian wurden an diesem Tag die Betten Eins bis Drei zugeteilt (Bett Eins ist ein Einzelraum, die Betten Zwei und Drei ein Zweibettzimmer) und, abgesprochen oder nicht, es sind diese Betten, die zuerst belegt werden. Während Bastian und der Käpt’n den neuen Patienten in der Eins versorgen, wird Bett Zwei von Tom und Eddi gleich wieder bereitgemacht und Bett Drei von Nils zu Ende aufgerüstet.

    Der neue Patient hat eine vom CT bestätigte Lungenembolie, ist kardial einigermaßen stabil und soll eine Lysetherapie bekommen. Bastian arbeitet jetzt routiniert, denn er bewegt sich auf bekanntem Feld. Während er Medikamente aufzieht, die Maschinen einstellt und eine Dokumentation anlegt, geht draußen die Tür zur Station auf und zu, auf und zu, auf und zu. Er sieht Ersthelfer mit rhythmisch piependem Defibrilator vorbeigehen, er sieht den Oberarzt, der eigentlich im Katheterlabor das Zepter schwingt, neben einem Bett mit einem aufrecht sitzenden, keuchenden Patienten vorbeilaufen. Ab und zu kommt ein Bett mit einem zugedeckten Körper aus der anderen Richtung.

    Bastian hat bisher an nichts denken können, nicht an den verschwundenen Martin, noch an das, was er vorher erlebt hat. Es ist alles nur reaktive Pflege, denkt er, wir können uns nur um das kümmern, was gerade ansteht. Natürlich. Alles ging viel zu schnell. Jetzt, an Bett Eins, ist er zum ersten Mal allein. Die Rettungskräfte, die eben vorbeigelaufen sind, kommen zurück und rufen „Bis gleich. Irgendjemand fragt „Ist es so schlimm? Die Antwort: „Da draußen sieht es aus, wie im Krieg. „Die ganze Stadt? „Das ganze Land, die ganze Welt. Macht mal das Radio an. Angeblich ist die Kanzlerin tot, überall auf der Welt sind ganze Städte niedergebrannt, es gibt keinen Kontakt zum Kontinent Australien. Ein anderer Ersthelfer sagt: „Da draußen ist die Apokalypse. Ein Terroranschlag, wie es ihn bisher noch nicht gab. Die RTW-Mannschaft geht. Bastian nimmt seine Hände von der Patientenakte, macht ein paar Schritte zurück und lässt sich auf den Stuhl in der Ecke des Zimmers fallen. In diesem Moment ist das Leben des Patienten sekundär, er nimmt hektisch sein Handy aus der Tasche. Bittebitte. Keine Nachricht. Er fühlt Kälte in seinem Bauch. Ist Netz da? Ja, er schaut trotzdem nach. Er ist online, hat Empfang. Von weit hinten nimmt er das Datum des nächsten Tages wahr. Interessiert jetzt nicht mehr. Sie hat nicht geschrieben. WhattsApp, er fängt an zu tippen. ‚Ist alles ok?’ Nachricht ist weg. Ein Haken. Nur ein Haken. Das heißt, dass die Nachricht zwar gesendet wurde, jedoch noch nicht bei Nina angekommen ist. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Gott, bitte, mach, dass es ihr gut geht. Nein, nein, es wird schon nichts sein. Sie ist im Sauerland bei meinen Eltern, da wird schon nichts sein. Wenn es wirklich ein Terroranschlag war, dann werden sie sicher kein Nest mit eintausenddreihundert Seelen ins Visier nehmen. Oder doch? Global heißt doch alle und jeder. Vielleicht sind ja gerade die ländlichen Gegenden schwer betroffen, die nicht die Infrastruktur einer Großstadt haben. Ich weiß doch gar nicht, was passiert ist, ich habe wirklich geglaubt, dass es nur ein Fehler im Krankenhaus war. Und jetzt bin ich hier eingesperrt – Nachricht? Nein, immer noch nicht. Nur ein Haken – und kann nicht weg. Er fühlt sich eingesperrt, nein, nicht eingesperrt, ich bin eingeklemmt zwischen den Patienten und den gefühlt Hunderten, die noch kommen werden. Und ich weiß nicht, was mit meiner Nina ist und unserem Kind in ihrem Bauch. Mona ... Oh, Mona, bleib schön bei Mama – tididit didit tididit didit – Die Beatmungsmaschine seines Patienten gibt Alarm. Ja, ja, ich komme ja schon. Eingeklemmt. Was ist hier? Ist der PEEP nicht gut? Lungenembolie! Konzentrier Dich Junge, sei fokussiert. Aber, mein Gott, wie soll ich, wie soll ich denn? Sieh Dir diesen Menschen an, er lebt und stirbt durch Dich! Aber Nina! Was ist mit ihr?

    Kein Doppelhaken. Ich rufe an! „Hallo, hier ist die Mobilbox von..." Verdammte Scheiße! Tausend Szenarien prasseln auf ihn ein, tausend Möglichkeiten und Bastian hat keine Chance, sich von ihnen zu lösen, denn eine Antwort auf die Frage mit diesen tausend Möglichkeiten ist nicht in Sicht und auch nicht erreichbar. Es gibt nur eine Möglichkeit, doch die ist blockiert durch eine Mailbox und einen fehlenden Haken.

    Nina hat ihr Handy nicht aus, niemals; das hat sie mir versprochen. Hoffentlich hat es sich nur entladen durch diesen Schlaf. Aber meins hat doch auch funktioniert. Und es ging einfach so wieder an (eigentlich ungewöhnlich!?). Kann ich sicher sein, dass es sich im Sauerland genauso verhält, wie hier in Dortmund? Was ist mit dem Festnetz? Bastian fängt an zu tippen: 02972... Knacken in der Leitung, Pause, kommschonkommschon! tit tit tit tit tit. Kein Durchkommen. Hab’ ich mich verwählt? Nein, eigentlich nicht. Nochmal. Tit tit tit tit tit. Telefon und Handy sind nicht erreichbar. Draußen die Apokalypse, ich bin hier gebunden und Nina ist nicht zu erreichen. Ein Albtraum. Der nächste. Apokalypse, naja, sicher nur eine Übertreibung. Oder? Ich weiß nichts, gar nichts. Verzweiflung, Wut. Ruhig, Du kannst jetzt nichts machen, es wird schon. Alarm. Schon wieder, ich kann mich nicht auf alle Sachen konzentrieren! Was ist jetzt? Puls und Blutdruck steigen, die Beatmungsmaschine alarmiert. Er ist zu wach, atmet gegen die Maschine. Propopholbolus. Ruhig, Brauner. Ok, das ist besser. Ich glaube, ich muss mich mal umsehen, was sonst so los ist. Ich sehe den Herzschlag von Mona im Ultraschall vor mir. Und wie Nina mir dabei in die Augen sieht, diese großen und schönen Augen. Sie war so glücklich. Und jetzt ist sie nicht da und ich weiß nicht, was mit ihr ist. Nein, ich muss zurück ins Hier und Jetzt. Wahnsinn und Emotionalität helfen nicht. Ich muss professionell sein, oder zumindest so wirken und gleichzeitig innerlich vor Sorgen erbrechen, damit ich ... damit ich ...

    Susen kommt mit schnellen Schritten ins Zimmer. Sie ist eine derjenigen Pflegekräfte, die von Petra telefonisch gleich erreicht wurden und sie hat sich wohl sofort auf den Weg gemacht. Susen ist jung, schlank, hat kurzes, hellbraunes Haar, markante, wulstige Lippen und eine wunderbar positive Lache. Vor allem aber hat sie einen äußerst ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, mit dem sie immer wieder das politische Geschehen kommentiert, ist Vegetarierin und sehr empathisch. Doch von der Empathie ist in diesem Moment nichts geblieben, denn sie sieht Bastian nicht, fragt nicht einmal, wie es ihm geht, sondern ist sofort im Geschehen. Im Grunde ist das angesichts dessen, was sie umgibt, kaum verwunderlich, doch...

    Susen: Boah, ey, war das eine Fahrt hierher. Ich sag’ es Dir! Hi, ich soll Dir in Deinem Bereich helfen.

    Bastian: Gut, dass Du hier bist, hier brennt nicht nur der Baum, der ganze Wald steht in Flammen. Alle Patienten waren tot.

    Susen: Nein! Echt? (sie schlägt die Hand vor den Mund)

    Bastian: Hat Dir das niemand gesagt? Als wir aufgewacht sind, waren alle Maschinen aus. Und wir hatten fast zehn Notrufe gleichzeitig. Es gab sogar zwei Personalnotrufe, doch von denen hat es keiner geschafft.

    Susen: Scheiße (ihre Hand wandert vom Mund auf die Brust). Ja, ich habe gehört, dass es allen so ergangen ist. Ich war gerade bei meinen Eltern. Wir standen im Flur und wollten einkaufen, als es passierte. Ey, wir haben uns voll erschrocken und dann gingen die ganzen Sirenen an. Aber ... aber egal, wir sind hier, um zu arbeiten. Ich konnte so schnell kommen, weil ich sofort alle erreicht habe und weiß, dass es meiner Familie gut geht. Ok, was ist hier?

    Bastian: Bett Zwei ist erst freigemacht worden, war kurz belegt, ist wieder leer (er zeichnet ein Kreuz in die Luft), Bett Drei ist fertig. Er hier (Bastian zeigt auf den Monitor am Bett) ist stabil, aber die Rettungswagen drängen herein und Notfallteams sind immer noch im Haus unterwegs. Früher oder später werden wir Leute auf dem Flur liegen haben.

    Susen (nickt): Guter Vergleich mit dem Waldbrand, übrigens. Ich habe genug Brände auf dem Weg hierher gesehen. Es ist völlig unwirklich da draußen. Überall sind Rauchsäulen am Himmel, Straßen sind dicht oder gespenstisch leer. Ich habe total viele Unfälle gesehen von Leuten, die wohl am Steuer eingeschlafen sind. Das ist wie in einem Katastrophenfilm. Sirenen, Qualm, umherwehender Müll und so. Man muss sich mehrmals kneifen, wenn man da durchfährt. Die Marienstraße am Haupteingang vor dem Krankenhaus ist vollkommen zu. Zwei Autos haben gebrannt und viele andere sind in parkende Wagen gerollt. Die Feuerwehr macht da gerade klar Schiff und die Polizei hält die Krankenwageneinfahrt hinter dem Haus frei.

    Volker (steckt den Kopf herein): Susen, bist Du jetzt hier im Bereich? (sie nickt) Ihr bekommt jetzt einen somnolenten Patienten mit EKG-Veränderungen und unklarem Erbrechen. Die Feuerwehr ist schon im Haus und zu Euch unterwegs. Keine Minute mehr, dann sind sie hier.

    Susen: Das ist aber kurz.

    Volker: Beschwer’ Dich doch! (ab)

    Susen: Ich steh’ auf Volker.

    Bastian: Der ist nur gestresst. Weiter. (sie gehen in das Doppelzimmer von Bett Zwei und Drei. Es ist leer). Fast unheimlich hier. Ich hole das EKG-Gerät.

    Susen: Und ich leite sie hierher.

    (keine Minute später kommen Susen und Nick ins Zimmer, gefolgt von einer Notärztin und zwei Rettungskräften)

    Nick: Wohin?

    Bastian: In die Drei.

    Notärztin: Wir wurden von der Ehefrau informiert, sie hat ihn so gefunden. (der Patient liegt zusammengesunken auf der Transportliege, atmet schwer und mit geschlossenen Augen. Vor ihm eine gefüllte Brechschale. Ein strenger Geruch begleitet ihn, offensichtlich hat er sich eingekotet.) Er ist ein bekannter Herzpatient, Zustand nach zwei Herzinfarkten sowie dreimaliger Stentimplantation. (Bastian und Susen legen eine Unterlage ins Bett, man zieht sich Schutzkittel an und beginnt, ihn umzubetten.)

    Erster Rettungsassistent: Kopf sagt an.

    Nick (am Kopfende stehend): 1, 2, 3 und rüber.

    Notärztin: Die Ehefrau gab an, dass er vor dem ... vor diesem ... Ereignis eine Magen-Darm-Infektion hatte. Wenn es wirklich stimmt, was die Uhren sagen, dann hat er fast vierundzwanzig Stunden unkontrolliert ausgeschieden und nichts getrunken.

    Nick: Hat er einen venösen Zugang?

    Erster Rettungsassistent: Ja, hier. (zieht den rechten Ärmel hoch).

    Nick: EKG, Aufnahmelabor und vor allem Flüssigkeit.

    Bastian: Sauerstoff fallend, bei 88%.

    Nick: Sauerstoffbrille reicht erst mal. Mit etwas Glück ist er nur exsikkiert.

    Susen: Und infektiös.

    Nick: Wir haben keine Einzelzimmer mehr.

    Susen: Ich hole die Infusion.

    Nick: Ruft mich, wenn es etwas gibt. (Nick ab)

    Bastian: War’s das fürs Erste? (dreimal Nicken) Wir sind hier drinnen sozusagen gefangen und haben keine Ahnung, was sonst vor sich geht. Könnt Ihr uns sagen, was los ist? Ich meine, ich habe nicht einmal Zeit zum Nachrichtenhören und ich glaube, das wäre auch nicht gut, wenn wir mit mindestens einem Ohr immer woanders sind.

    Notärztin: Viel Zeit haben wir nicht.

    Bastian: Ich auch nicht.

    Zweiter Rettungsassistent: Wir sind Zeugen eines weltweit einmaligen Ereignisses. So etwas hat es noch nie gegeben! In den Nachrichten wird erst ganz allmählich etwas gesagt. Am Anfang sagten sie nur immer ‚Bleiben Sie zu Hause’, oder ‚Gehen Sie an einen sicheren Ort’. Aber langsam kommen immer mehr Details ans Licht. Es wird auf der ganzen Welt bestätigt, dass alle Menschen eingeschlafen sind und dass alle Maschinen aus waren. Alle Flugzeuge sind abgestürzt, eins hier in Dortmund, in Benninghofen, glaube ich, Tanker sind kollidiert, auf Grund gelaufen und es haben sich weltweit Millionen von Unfällen ereignet.

    Erster Rettungsassistent: Und Feuer, Feuer überall. Die Zentrale spricht von fast hundert alten und aktuellen Brandherden in Dortmund. Man sagt, die Kanzlerin ist tot, weil es im Reichstag gebrannt hat. Kairo, Neu-Delhi, Mumbai, Bogotá und St. Petersburg sind angeblich zu größten Teilen vollständig niedergebrannt. In Deutschland sind es vor allem Nürnberg und Rothenburg, die es hart erwischt hat. Aber auch in Berlin wüten die Feuer ziemlich schlimm.

    Notärztin: Jungs, wir müssen wieder.

    Bastian: Wer hat das alles gemacht?

    Erster Rettungsassistent: Davon spricht man bisher überhaupt nicht. Also, man sagt, dass es bisher keine Hinweise gibt.

    Zweiter Rettungsassistent: Ich sag’ nur ‚Willkommen im Zeitalter des modernen Terrorismus’. Für mich sieht das wie eine neue Waffe aus. Irgendetwas von radikalen Scheichs Finanziertes. Früher oder später wird es ein Bekennerschreiben geben und dann wird rauskommen, dass es die Amis oder die Russen entwickelt haben und dass es dann in die falschen Hände geraten ist. Habt Ihr schon mal ‚Oceans Eleven’ gesehen? Da gibt’s auch so eine Maschine, die alle Geräte ausstellt. Ich glaube, es waren die Islamisten mit einem noch viel krasseren Teil dieser Sorte.

    Erster Rettungsassistent: Genau! Im Zweifel waren es die Moslems und überall hocken die Bösen auf Kamelen und mit Kalaschnikows. Hör doch mal auf mit diesem Proletenniveau. Du musst nicht in jedem Moment den Ruhrpottassi raushängen lassen.

    Zweiter Rettungsassistent: Leck mich, Du Homo, leck mich.

    Notärztin: Jetzt haltet beide den Rand und kommt mit. Sogar jetzt keift Ihr Euch an wie ein altes Ehepaar. Ihr seid echt eine Strafe.

    (Alle drei ab)

    Susen: Komm, Bastian, wir müssen den Patienten saubermachen.

    Bastian und Susen entkleiden und waschen den Patienten, ziehen ihm ein Patientenhemd an, dann geben sie ihm Infusionen, Flüssigkeit, so viel es geht. Der Patient erweist sich als der gesundheitlich stabilste aus Bastians Bereich. Das EKG bleibt unauffällig und kaum eine Stunde und mehrere Infusionen später geht es dem Patienten den Umständen entsprechend gut. Er wird zunehmend klarer, kommuniziert, wird orientiert. Trotzdem bleiben die Symptome eines Magen-Darm-Infektes und da er Angina Pectoris-Beschwerden angibt und sich die Laborwerte (vor allem die Herzenzyme CK-Nac und Troponin) als nicht unauffällig erweisen, wird er auf seinem Platz belassen und für eine Koronarangiografie vorbereitet. Bastian ist das recht, denn das ist zwar eine wichtige und unverzichtbare, doch eine routinierte und vor allem relativ stressfreie Tätigkeit. Dadurch hat er immer wieder ein paar Sekunden Zeit und die nutzt er konsequent, um immer wieder im Sauerland anzurufen, doch das Resultat ist immer dasselbe.

    Von Routine kann in den anderen Bereichen keine Rede sein. Bei Bastian natürlich auch nicht, doch sind seine Zimmer, was die Arbeit angeht, relativ überschaubar. Er sieht den Käpt’n immer wieder an seinen Zimmern vorbeilaufen. Zwar geht er so wie immer, doch Bastian kennt ihn gut genug, um an dessen roten Kopf zu erkennen, wie gestresst sein alter Mentor ist. Multiorganversagen, mehrere Reas, akute Interventionen, Notintubationen, Notrufe aus dem Haus ... aus den anderen Bereichen kommen in fast regelmäßigen Abständen Rufe und immer wieder rennt Personal hin und her. Bastian selber bleibt davon verschont, kein einziges Mal geschieht in seinen Zimmern etwas Aufregendes, oder Unvorhergesehenes mehr, auch wenn sein Bereich mittlerweile voll belegt ist. Kurz nachdem die erste Infusion für Bett Drei angeschlossen ist, kommt die nächste Patientin für Bastian und Susen. Diese Dame hat ein kardiales Lungenödem bei akuter Linksherzinsuffizienz, daher erhält sie eine CPAP-Atemtherapie und auch sie ist katecholaminpflichtig, benötigt einen Dauerkatheter, da durch Diuretikagabe die Flüssigkeit in den Lungen reduziert werden soll. Die Patientin ist in der ersten Zeit sehr arbeitsaufwändig, denn sie ist nur wenig sediert und nicht in der Lage, ihre eigene Situation zu begreifen. Daher versucht sie, sich immer wieder die Atemmaske abzunehmen oder sich den Dauerkatheter zu ziehen, bis Susen Nick überreden kann, die Sedierung zu verstärken und eine Bettfixierung zur eigenen Sicherheit der Patientin anzuordnen.

    Ayten

    Als Ayten ihr Bewusstsein wiedererlangte, war es, als kehrte sie aus dem Tod ins Leben zurück. Dieser erste wilde und zitternde Atemzug fühlte sich an, als hätte sie seit vielen Lebensaltern nicht mehr geatmet, in denen sie tot war, tot und starr auf einem Bett aus kaltem Stein. Diese Wiederkehr war jedoch nichts Wunderbares, nichts Hohes, gar Heiliges, stattdessen war das Erste, was sie fühlte, was dieser gierige schlürfende Atemzug ihr aufzwang, ein Schmerz von einer solchen physischen Präsenz, dass ihr aus dieser Schwärze hervorgetaumelter Verstand im ersten Moment nichts anderes wollte, als in die tote Stille zurückzufallen, aus der er gekommen war. Ihr Bewusstsein war verschwommen und wirr, voller Pein, Hitze und Kälte, voller beißendem Gestank und unerträglicher innerer Dunkelheit. Sie fühlte nichts außer diesen Albtraum und dies schien alles zu sein, aus dem sie zu bestehen schien. Alle Erinnerungen waren in diesen ersten schrecklichen Momenten verdorrt. Und doch spürte sie instinktiv, dass sie froh sein musste, etwas zu fühlen. Da war etwas, das ihr eine Freude aufzwang, überlebt zu haben.

    Also öffnete sie die Augen. Allein dieses Bewegen, das Öffnen der Lider, das Benutzen der Augen, verstärkte den Schmerz und füllte ihren Kopf mit elektrischem Feuer.

    Sie konnte kaum etwas erkennen. Ein Dichter Schleier lag vor ihren Augen, die sie kaum zu öffnen imstande war. Doch nach einer Ewigkeit aus wenigen Augenblicken nahm sie etwas wahr. Was genau es war, konnte sie erst unmöglich sagen. Diese schwarzen Objekte lagen direkt vor ihr und … sie schienen sich langsam zu bewegen, als würden sie zappeln. Diese Dinger erinnerten sie an benommene und auf dem Rücken liegende Insekten bei einem letzten und verzweifelten Versuch, sich umzudrehen. Der Schleier wurde dünner, sie konnte besser sehen und schaute genauer hin. Nein, es waren keine Insekten. Diese schwarzen Dinger bewegten sich nach ihrem Willen.

    Es waren ihre Hände.

    Ayten lag auf der Seite, die Hände vor dem Gesicht. Doch warum waren sie so schwarz? Alles um sie herum schien schwarz zu sein. Sie drehte den Kopf etwas und erkannte geschwärzte Wände, zerstörte Wände. Sie lag in einer Art Rohr oder Trichter aus unförmigen, deformierten und zerstörten Gegenständen. Balken? Wänden? Und da war noch etwas. Es roch sehr stark nach Rauch und Ruß; sie erkannte den Geruch sofort, denn er war überall und lastete sehr schwer auf ihren Lungen. Vielleicht war das der Grund, warum sie so schmerzten? Sie räusperte sich instinktiv, musste husten und zuckte ebenso instinktiv zusammen, denn ihr Kehlkopf fühlte sich an, als würde er glühen und das krampfhafte Husten ließ den Schmerz in seiner vollen Stärke in ihr Bewusstsein zurückkehren.

    Der Schleier vor ihren Augen schien ganz zu verschwinden und gleichzeitig begann ihr Verstand zu arbeiten und konnte mit dieser Situation gar nichts anfangen. Was war geschehen? Wie kam sie hierher und vor allem: wo war sie? In dieser ihr völlig fremden Umgebung und ohne klare Erinnerung war ihre eigene Identität das einzig Sichere, das ihrem Verstand geblieben war und doch ertappte sie sich dabei, dass sie sich selber sagen musste, wer sie war, als wenn selbst dies in einem Zustand außerhalb jeder zeitlichen und örtlichen Orientierung ins Wanken geraten könnte.

    Ihre Umgebung schien auf diese Fragen keine Antwort geben zu können. Irgendwo über ihrem Kopf gab es eine Lichtquelle - deshalb konnte sie etwas sehen - doch alles, was sie sah, waren die geschwärzten Wände und Balken. Sie richtete sich vorsichtig auf und hob den Kopf. Ihre Kopfschmerzen hämmerten, doch ihr Verstand schien klar zu sein und sie schaute sich um. Oberhalb ihres Kopfes lag etwas auf der Erde und ohne zu überlegen griff sie danach. Es war hart und von klaren geometrischen Formen, doch über und über mit Ruß bedeckt, so, wie sie und alles um sie herum. Nachdem sie einmal über das Objekt gestrichen hatte, eigentlich schon in dem Moment, in dem sie es in die Hand genommen hatte, wusste sie, was es war. Es war eine ungeöffnete Konservendose und plötzlich glaubte sie zu wissen, wo sie war. Das Gefühl dieses Gegenstandes in ihrer Hand half ihr, sich zu erinnern. Vor Verwunderung und Erkenntnis hob sie reflexartig den Kopf und stieß ihn sich am Dach dieser unnatürlichen Kammer.

    Ayten erinnerte sich, dass sie einkaufen gehen wollte. Sofort fielen ihr Details ein: der Einkaufszettel, das Telefonat mit ihrem Bruder, der sie bat, ihm etwas mitzubringen, die Bilder der Hinfahrt kamen wieder, die roten Ampeln, die Bäume an der Straße, die Passanten und die Lieder im Radio, sie erinnerte sich, dass sie „Rusty Cage" von Johnny Cash gehört und mitgesungen hatte. Und dann fiel ihr der Parkplatz ein, das kurze emotionale Aufblitzen, als sie eine Box direkt vor der Tür des Netto-Marktes ergattert hatte. Schließlich das akustische Signal, als sie den Supermarkt betreten hatte und die Tüte Rosinen, die sie als erstes in den Einkaufswagen gelegt hatte. Und dann … Ja, was? Dann brach es ab, ihre Erinnerung endete mit genau diesem Moment, als sie die Rosinen in den Einkaufswagen gelegt hatte. Doch was ist dann geschehen? Sie wusste es nicht. Nichts in ihrem Verstand deutete auf eine Spur hin, als wäre sie plötzlich ohnmächtig geworden, oder so. Als wäre ihr Verstand nicht mehr da gewesen, völlig abgestellt. Sie glaubte zu wissen, dass die nächste Erinnerung eben diejenige mit dem Erwachen hier an diesem Ort war. Ja, das fühlte sich richtig an, so war es wohl.

    Doch wenn dem so war, dann befand sie sich noch immer im Supermarkt. Diese Konservendose in ihrer Hand war ein Beweis dafür. Aber was war geschehen? Eine Explosion vielleicht? Der Ruß, die geschwärzten Wände, der Gestank, alles deutete darauf hin, dass es gebrannt haben musste.

    Diese Schlussfolgerung gab ihr Energie, alle tief in ihr schlummernden Instinkte wurden wach. Zwar spürte sie keine bedrohliche Hitze, oder konnte gar Flammen sehen, doch war der Glaube daran, dass es gebrannt haben musste, oder noch immer brannte, Antrieb genug, schnellstmöglich aus dieser Situation zu verschwinden. Mit einem Mal bildete sie sich ein, den Geruch von Ruß und Qualm stärker wahrzunehmen und sie musste wieder husten. Also drehte sich Ayten auf den Bauch, ignorierte den Schmerz und schaute hoch, woher das Licht kam. Sie lag in einem Trichter aus umgestürzten Wänden und, wie sie jetzt sah, Balken und umgestürzten und deformierten Regalen. Diese Wände und das Dach ihrer Kammer waren mit einem Mal oder jetzt und zum ersten Mal alles andere als Vertrauen erregend, sondern stattdessen geradezu zerbrechlich und dazu bestimmt, jede Sekunde zusammenzustürzen. Auf der Seite, zu der ihr Kopf beim Erwachen gezeigt hatte, stand eine Wand oder ein Teil von ihr und bildete sozusagen den Boden des liegenden Zylinders, in dem sie sich befand. Und in dieser Wand war ein Loch eines herausgebrochenen Fensters. Allerdings war dieses Loch klein, eines der typischen quadratischen Bullaugen eines Supermarktes. Ayten krabbelte auf dieses Licht zu und konnte sich schließlich, als sie an der Wand angekommen war, ganz aufrichten. Sie sah sich das Loch an, es war groß genug, glaubte sie, dass sie sich hindurchzwängen konnte und die Luft, die von hier hereinströmte, war wohltuend und fühlte sich sauber an. Ohne Probleme konnte sie dieses Loch in der Wand erreichen, wenn sie die Arme über den Kopf hob, doch sich an der Wand hochziehen, war etwas ganz Anderes. Sie fühlte sich schwach und wund, ihre Muskeln schmerzten und ihre Beine waren weich. In ihrer Höhle gab es nichts, was ihr als Stiege hätte dienen können und etwas aus der Wand zu ziehen um es als Kletterhilfe zu benutzen, und die Gefahr riskieren, dass dadurch das Dach einstürzen könnte, daran dachte sie erst gar nicht. Sie legte ihre Hände auf die Ränder des Fensters und straffte sich. Sie wusste, dass sie unter normalen Umständen es nicht schaffen würde, sie wusste, dass sie, wenn ihre Beine und Arme so schwach waren, es nicht versuchen würde, weil sie den Ausgang zu kennen glaubte. Doch dies war keine normale Situation und Ayten führte sich dies vor Augen. Sie war in dieser seltsamen Höhle und es dämmerte ihr, dass sie hier eine Situation überlebt hatte, die Leib und Leben unmittelbar bedroht hatten. Sie war am Leben und wenn sie sich ihre Situation genau überlegte, dann schien es ihr wie ein Wunder, dass sie am Leben war und dass sie sich für ein Feuer verhältnismäßig wenig getan hatte. Schicksal war für sie immer ein wichtiger, jedoch eher abstrakter, manchmal fast theoretischer Begriff gewesen, doch jetzt und in diesem Moment glaubte sie nicht daran, das Feuer überstanden zu haben, nur um dann in dieser Höhle gefangen zu sein oder von der schließlich doch einstürzenden Decke zerquetscht zu werden.

    Nein, wenn sie das Feuer überstanden hatte, dann würde sie hier auch wieder herauskommen. Eine theologische - vielleicht sogar esoterische - Logik zwar, das musste sie sich eingestehen, doch im Hier und Jetzt gab ihr der Gedanke Kraft, es schaffen zu müssen, weil sonst alles andere umsonst gewesen wäre. Jetzt war Schicksal nicht mehr abstrakt, sondern eine konkrete und präsente Energie. In diesem Hier und Jetzt wurde der Glaube an ein Schicksal, das außerhalb dieser Ruine liegt, präsent, geradezu greifbar und er durchdrang sie, tröstete sie, und spornte sie an.

    Sie stöhnte und keuchte vor Schmerz, als sie ihrem protestierenden Körper befahl, sich an dieser Wand hochzuziehen, doch sie ließ nicht nach und wurde ermutigt, als sie erkannte, welche Kräfte in ihr schlummerten, die von einem fast hysterischen Willen geweckt worden war. Sie zog sich hoch und ihr Kopf und ihre Schultern waren fast schon draußen, als sie im Loch steckenblieb und ihre Arme sich beim rausziehen verkeilten. Sie zerrte, rückte, ihre Bluse riss auf, ihre Ellbogen bluteten, doch sie ließ nicht nach und schließlich fiel sie fast vornüber aus dem Fenster, als sie mit einem starken Ruck fast vollständig durch die Öffnung glitt. Ayten war draußen, sie hatte es geschafft. Schwer atmend blieb sie kurz an der Mauer sitzen, sog gierig und mit geschlossenen Augen die frische Luft ein.

    Doch hier wollte sie nicht lange bleiben, sie wusste nicht, in welchem Zustand das Gebäude war und sie war noch immer in dessen unmittelbarer Nähe. Die Gefahr, etwas könne auf sie herabfallen, die Wand könnte gar einstürzen, kam ihr in den Sinn und sie öffnete die Augen und stand auf.

    Und blieb trotz aller Gefahr erst einmal an der Wand stehen. Sie stand dort, hustend, die eine Hand auf dem Knie, die andere vor dem Mund, doch ihre Augen waren ungläubig offen, starrten und konnten nicht fassen, was sie sahen. Vor Ayten breitete sich eine veränderte Welt aus, eine Welt, die nicht mehr viel mit derjenigen zu tun hatte, in der sie, wie sie glaubte, eben erst noch gewesen war. Der Parkplatz, auf dem ihr Auto stand, war übersät mit Autowracks. Einige waren einfach ausgebrannt, andere schienen explodiert zu sein und hatten einen sternförmigen Kranz aus Ruß um sich herum. Überall lagen Trümmerteile, Asche oder verkohlte und nicht mehr identifizierbare Gegenstände. Mit staunender Gleichgültigkeit glitt ihr Blick über ihren silbergrauen VW-Golf, der rechts von ihr dastand und nur noch ein verrußtes Karosseriegerippe voller geschmolzenem Plastik war. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren ebenfalls ausgebrannt und teilweise eingestürzt, die Bäume, die auf einem Mittelstreifen der Straße standen, nur noch verkohlte Stümpfe. Die anderen Häuser, diejenigen, die hinter den verbrannten standen und diejenigen, zu denen das Feuer nicht vorgedrungen war, standen still und mit schwarzen Fenstern da. Nichts an ihnen deutete auf Leben oder Bewegung hin.

    Die ganze Szenerie wirkte traumhaft und unecht. Alles war eingehüllt von einem leichten Nebelschleier, überall sah Ayten Rauch in Säulen aufsteigen und doch war der Himmel blau und der graue Dunst wurde über den Dächern auseinandergewirbelt und fortgetragen von einer sehr

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