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Das Artemis Projekt: Borderline Killing
Das Artemis Projekt: Borderline Killing
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eBook350 Seiten4 Stunden

Das Artemis Projekt: Borderline Killing

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Über dieses E-Book

Nadja wächst im Russland der Zukunft auf, liebt ihre zwei Deti, ist geschieden und arbeitet als wenig erfolgreiche Journalistin. Ihr Charakter ist geprägt von Trotz, vom täglichen Kampf mit ihrem Leben und von der derben Sprache des Russkij Mat.Auf der Rückreise von einem beruflichen Termin in Kasachstan findet man in Nadjas Auto Drogen. Sie wird verhört und die russischen Behörden unterbreiten ihr ein unmoralisches Angebot. Damit beginnt eine albtraumhafte Reise gleichermaßen in die Vergangenheit und in eine unvorstellbar grausame Zukunft.In seinem zweiten Roman beschreibt der Autor eine Welt, in der sich Zeit und Raum auflösen und die Gedanken nicht mehr frei sind. Eine Dystopie voller Hoffnung und Verzweiflung, eine Erzählung über die grenzenlose Liebe, über die schicksalhafte Unausweichlichkeit und über ANXT. Mit russisch/deutschem Glossar und ausführlichen Autorenkommentaren über die Hintergründe des Romans.
SpracheDeutsch
HerausgeberKarina Verlag
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783967243079
Das Artemis Projekt: Borderline Killing

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    Buchvorschau

    Das Artemis Projekt - Wolfgang Rachbauer

    Wolfgang Rachbauer

    Das Artemis Projekt

    Borderline Killing

    Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, Herausgebers und Autors unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Impressum:

    KarinaVerlag, Wien

    www.karinaverlag.at

    Text: Wolfgang Rachbauer

    Covergestaltung: Detlef Klever , www.kritzelkunst.de

    Coverbild:  Shutterstock/Wilqkuku, betibup33

    WAYHOME studio, Roberts Vicups

    Lektorat und Layout: Bruno Moebius

    © 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria

    ISBN: 978-3-96724-307-9

    Für alle,

    die ihr Leben ohne Kompromiss führen,

    die unbequem sind

    und die ihre Stimme für die Schwachen erheben.

    Тем,

    кто не приемлет компромисс

    и самоуспокоенность,

    кто поднимает свой голос за слабых.

    Kapitel 1

    ANXT

    »Kennen Sie Winston Smith?«, fragte er mich.1

    »Nein«, sagte ich.

    »Winston Smith ist eine Figur aus George Orwells2 Roman 1984. Smith wird gefoltert, damit er lernt, dass zwei und zwei nicht vier ergibt, sondern fünf. Er muss es aus seinem Innersten heraus glauben lernen, nicht einfach zugeben, damit die Folter aufhört. Er wird konsequent umgepolt, damit er letztlich davon überzeugt ist, dass zwei und zwei fünf ist. Und das gelingt nur, weil man seine wirklichen Ängste kennt. Wovor fürchtet sich Winston Smith am meisten? Es sind Ratten. Man schnallt ihm also einen großen Käfig über den Kopf, in dem sich zwei ausgehungerte Ratten befinden, die nur durch einige zarte Metallstäbe von seinem Gesicht getrennt sind. Man droht ihm, dieses Gitter wegzunehmen, damit sich die Ratten auf ihn stürzen und seine Augen, seine Nase, seine Zunge auffressen.«

    Ich stellte mir die Situation, in der dieser Winston Smith gewesen sein musste, bildhaft vor. Panische Angst vor Ratten und dann diese fast metergroßen Bestien in ausgemergeltem Zustand, bissig, nervös umherspringend, einige Zentimeter vor dem Gesicht, nur ein paar Gitterstäbe zwischen den eigenen Augenlidern und den gierigen Mäulern, aus denen ein warmer, stinkender Atem herausströmte.

    Er erzählte weiter.

    »Diese Szene spielt in einem Raum, dem ominösen Raum 105. Jeder wusste, dass ihm dort seine ultimativen Ängste begegnen würden. Und im Prinzip macht die Organisation seit Jahren nichts anderes, aber weit entwickelt und medizinisch höchst ausgereift.«

    »Sie meinen, dass auch die Organisation eine Folter mit Ratten anwendet?«, fragte ich erstaunt.

    »Nein. Die Organisation hat nur das Prinzip von George Orwell kopiert. Alles andere wurde in jahrelanger Forschung weiterentwickelt. Die Organisation ist dabei auf ein Infinit-Halluzinogen – eine Abspaltung von Phobtroniconinsäure – gestoßen, umgangssprachlich ANXT genannt. ANXT ist kein normales Halluzinogen, sondern es funktioniert dynamisch. Wird einem Menschen ANXT injiziert, dann durchforscht es innerhalb von einigen Sekunden dessen Psyche. Nicht nur den momentanen Zustand, sondern die ganze Sozialisation dieser Person, gewissermaßen die ganze Vergangenheit, alles Bewusste und Unbewusste, alles Erlebte, Gedachte und Gefühlte. Anschließend definiert ANXT die sogenannte GIPP, die Größtmögliche Identifizierbare Persönliche Phobie. Diese ist von Person zu Person unterschiedlich. Bei Winston Smith waren es Ratten. Bei einem anderen ist es vielleicht die Angst vor dem Erblinden oder die Angst vor Röntgenstrahlen, bei wieder jemand anderem die Angst vor Pfählung oder Vergewaltigung. Jeder hat seine größte, ganz individuelle Phobie. Nachdem das Halluzinogen ANXT diese persönliche Phobie identifiziert hat, beginnt es, diese kontinuierlich auszulösen bis die Psyche der betroffenen Person diese Angst nicht mehr ertragen kann und der vermeintliche Tod erlebt wird. Sobald das geschehen ist, beginnt die Folter von vorne. Die entsprechende Phobie wird erneut ausgelöst und immer weiter gesteigert bis dem Gehirn wiederum der vermeintliche Tod vorgetäuscht wird. Diese Prozedur wiederholt sich aber nicht in Minutenabständen, sondern in Bruchteilen von Sekunden, die der betroffenen Person jedoch wie Tage vorkommen. Kurz gesagt: Wenn man ANXT injiziert bekommt, löst dies mehrere Tausend einzelne, grausamste Tode aus, die sich alle in der Psyche dieser Person abspielen, basierend auf der größten, individuellen Angst.«

    Kapitel 2

    Ein ganz normales Leben

    Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens.3 Ich stand morgens auf, wie jeder andere Mensch. Unausgeschlafen und mit einem Harndrang, der mich auf die Toilette wandern ließ, schlaftrunken und missmutig. Beim Wasserlassen atmete ich nochmals durch und ließ mich kurz wieder in die morgendliche Trance zurückfallen. Langsam änderte sich dann regelmäßig mein Körperempfinden, das mich von der Erinnerung an die wohlige Bettwärme zur ersten Bewegung der Arme – ich streckte sie immer hoch über den Kopf – führte.

    Und dann stand ich im kalten und steril anmutenden Bad und ich fühlte mich noch immer nicht wohl im neuen Tag, der gerade zum Leben erwachte, wie eigentlich jeder Tag, nicht anders als der vorherige und wahrscheinlich auch nicht anders als der nächste Tag. Ich war kein Morgenmensch, nein, definitiv nicht, ich hasste es, aufzuwachen und die Sorgen des Vortages, die ich für eine zu kurze Nacht wie eine Armbanduhr auf meinen Kasten legte, wieder in mein Gehirn eindringen zu fühlen, ich hasste es aufzustehen, mich zu waschen, ich hasste es, meine Zähne zu putzen und ich hasste es, mich am Morgen unter die Dusche zu stellen. Ich hasste einfach alles am Morgen, nicht nur den schaudernden Blick einer Frau in den morgendlichen Spiegel, der einem die Wahrheit so ungeschminkt und grausam an den Kopf warf, wie es vielleicht sonst nur ein Tierarzt oder ein Zahnarzt konnte, wenn er scheinbar gleichgültig seinem Patienten, sei es nun ein krankes Kalb oder ein ängstlicher Mann mit fürchterlichen Zahnschmerzen, eine Spritze verabreichte, also ohne mit der Wimper zu zucken einen Schmerz zufügte, kühl, gefühllos und direkt. Ich hasste mein ungepflegtes Spiegelbild jeden Morgen aufs Neue und ich wunderte mich immer wieder, warum Männer überhaupt Frauen begehren, wenn diese doch, so wie ich an diesem und eigentlich an jedem Morgen, nicht viel besser aussahen als ein welker Obstbaum im späten Winter, ausgelaugt, unattraktiv und kaum wert betrachtet, geschweige denn begehrt zu werden. Ich verstand vieles nicht, aber am allerwenigs-ten verstand ich die Duraki4, diese dumme Spezies von Männern, bei denen ich nie wusste, warum sie eine Frau attraktiv fanden und warum nicht, jedenfalls spielten ganz offensichtlich so viele Faktoren eine Rolle und ich versuchte immer wieder dahinterzukommen, aber ich scheiterte meist daran. Und vielleicht prägte das auch meine Beziehungen, die ich hatte, nicht nur mit diesem Kabjel, diesem Hund, also dem verdammten Vater meiner Kinder, nein, auch mit all den verfickten Hujs, den schwanzgesteuerten Draufgängern, die mir letztlich nur zeigten, dass Mann und Frau nicht füreinander geschaffen sind, auch wenn es immer anders behauptet wurde, und die mir zeigten, dass es für mich das Bes-te war, keine Partnerschaft zu haben, keinen Ehemann, keinen Freund, keinen Liebhaber, sondern bestenfalls einen Schtschenok, der mich fickte, der meine Lust, die ich an manchen Tagen spürte, auf Abruf, auf Knopfdruck erfüllen konnte, ja, das reichte mir aus, das machte mich zwar nicht glücklich, aber zumindest auch nicht unglücklich und meine sexuelle Begierde war gestillt, was nicht schlecht war.5

    Nach den verhassten ersten morgendlichen Gedanken, in denen ich die Realität wahrnahm und nach denen ich langsam, aber sicher alle mentalen Abwehrmechanismen und Rechtfertigungsgedanken gegen meine Sorgen, die ich wie die bereits erwähnte Armbanduhr umschnallte, in Stellung brachte, nach diesen Gedanken begannen die helleren Momente, nein, nicht nur hellere Momente, sondern wirklich helle Momente wie sie nur eine Mutter haben kann. Meine Deti, meine Lieben. Meistens schliefen sie noch, meine zwei kleinen Wunder. Ich nannte sie Wunder, Jelena und Irina, meine kleinen Töchter, die wohl jeder Mensch auf der Welt als »Wunder« bezeichnen würde, dürfte er sie am Morgen sanft aufwecken, dürfte er die langsam aus dem Schlaf erwachenden, kleinen Kindergesichter sehen, dürfte er die Augenlider sehen, die ganz langsam aufgingen und das grelle Licht in ihre Augen vordringen ließen, dürfte er das langsame, unschuldige Lachen erkennen, das von meinen kleinen, kostbaren Schätzen ausging. Eigentlich wurde ich erst mit dem Erwachen meiner Kinder munter und meine Psyche änderte ihren depressiven Stand-by-Modus sehr rasch in einen hellen, vielleicht orange oder gelb wirkenden, stimmungshebenden Aktiv-Modus, ja, ich wollte diesen Modus, dieses Tempo, diese Temperatur erreichen, da fühlte ich mich wohl und meine morgendliche, schlaftrunkene Depression wich einer Freude und einer lieblichen, mütterlichen Verantwortung, die ich für diese beiden kleinen Mädchen empfand. Jelena, der Name meiner Mutter, den ich für meine ältere Tochter wählte, und Irina, der Name meiner Tante, den ich für meine jüngere wählte.

    Während Jelena und Irina aufwachten, aufstanden und sich wuschen, machte ich das Frühstück, meistens wieder in tranceartigem Zustand, als ersten Griff den Henkel des Wasserkochers nehmend und das Wasser für den Kaffee und den Tee einfüllend, dann ferngesteuert jeden Tag aufs Neue die gleichen Tassen herausnehmend aus dem kleinen Schrank mit der Klapptür, die jeden Tag mehr klappte, nämlich herunter und auf meine Hand, jene Klapptür, die ich mir zu reparieren jeden Tag morgens vornahm, dann auf das Wochenende verschob, dann auf den Urlaub und dann in das Nichts, also ich lebte mit dieser verdammten Klapptür nun schon einige Jahre gut, weshalb sollte ich das ändern? Die Klapptür war aber nicht das einzige Ärgernis, das mich beinahe in meine Morgendepression zurückfallen ließ, nein, es gab immer irgendetwas, was gerade nicht mehr ausreichend vorhanden war, manchmal der Zucker, manchmal der Honig, den Irina so gerne mochte, und manchmal der Kaffee. Irgendwie schaffte ich es dann doch immer, ein Frühstück für uns drei herbeizuzaubern, manchmal ein gutes Frühstück und manchmal auch nur die alten Blini vom Vortag, aber ich denke dennoch, dass ich meinen beiden Töchtern immer eine gute Mamatschka war, oder ich glaubte jedenfalls eine zu sein, für diesen Moment, aber das reichte mir aus.

    Nach einem, meistens aber erst nach drei oder vier Schluck des starken, schwarzen, heißen Kaffees ohne Zucker, den ich schon so gewohnt war, dass mir jeder normale Kaffee in einem Restaurant, war er auch noch so stark, sehr schwach vorkam, so milchig, wässrig, lau und fad wie eine Weinbergschnecke, die gekocht auch nur mit einer starken Knoblauchsauce nach etwas schmeckte, nämlich nach Knoblauch, ansonsten aber ein Hauch von Nichts war, ja nach so einem mir vertrauten, starken Kaffee wachten die Lebensgeister in mir auf, meine Trance verschwand, meine Gedanken an die wohlige und sichere Bettwärme waren plötzlich verschwunden, meine Depressionen, die mir mein Arzt einzureden und manchmal auch auszureden versuchte, die aber letztlich doch nur mit einigen färbigen, harmlos wirkenden Glücklich-Machern, den Mother’s-Little-Helpers6, verschwanden, ja, sie waren weg mit dem Geruch von Kaffee und dem Geschmack dieses heißen braunen Getränkes, das ich oben einkippte und das ich beobachtete, nein, nicht beobachtete, sondern spürte, wie es von oben nach unten vordrang in die Gebiete der Speiseröhre und in den Magen, der sich mit einem wohligen Glücksgefühl bei mir bedankte und gleichzeitig nach mehr verlangte. Nein, ich mochte keinen Tee, keinen russischen Tschaj, und damit war ich eigentlich keine echte Russin, denn echte Russinnen trinken Tschaj und nicht Kaffee.

    Ja, dann war ich munter. Wach und bereit für den Tag, bereit etwas zu leisten, Großes zu vollbringen, das ich mir immer wieder vornahm, das aber eigentlich nie gelang, aber egal, ich war bereit, auch wenn ich meist zu dieser Zeit des Tages nicht wusste wofür, für meine Kleinen, für meine Karriere, für einen neuen Mann in meinem Leben, keinen Durak, sondern einen großen, gut gebauten, gebildeten, reichen Mann, von dem ich manchmal träumte und mit dem ich in diesen feuchten Träumen Dinge machte, ganz schlimme Dinge, eben Erwachsenen-Märchen, aber wer hat diese Gedanken nicht, wenigstens manchmal, nein, ich brauchte mich dafür nicht zu schämen, in Träumen geht es ganz einfach nur ums Ficken, und nicht um Ljubov, das ist normal, sagten meine Therapeutin und meine Freundinnen, und die müssen es wissen, sagte ich zu mir, lächelnd, weil ich wusste, dass keine von meinen Freundinnen das durchgemacht hatte, was ich durchgemacht habe, glaubte ich zumindest, war aber wohl falsch. Egal.

    Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens. Dazu gehörten auch meine ganz normalen Schlafstörungen, vielleicht waren sie schuld daran, dass ich manchmal ganz müde war und aggressiv, so oft fluchen musste und ordinäre Ausdrücke verwendete. Aber die Schlafstörungen kamen ja nicht von ungefähr, die hängen mit irgendeiner beschissenen Angst zusammen, die sich in meinen Albträumen niederschlägt. Das hat meine Therapeutin gesagt, aber was weiß sie schon von meinen Albträumen, in denen immer wieder meine beiden Kinder vorkommen, und eine Frau, und der Selbstmord eines jungen Mädchens, das von einem hohen Gebäude in den Tod springt, und dann auch Zahlen, lange Zahlenketten und Baumstämme.7

    Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens. Ich brachte meine Töchter nach dem Frühstück zur Schule, jeden Tag, sie gingen in die gleiche Schule und waren dort bis zum Abend, an dem sie von meiner Nachbarin Kalina, die eigentlich keine bloße Nachbarin war, sondern meine Freundin, abgeholt und nach Hause gebracht wurden. Und ich verbrachte meine Zeit in meinem Beruf, ich war freie Journalistin bei der DWP Dostowski8 World Press, einer renommierten Zeitung in Norilsk, hatte freie Zeiteinteilung, war auf mich alleine gestellt und verdiente mir damit mein Geld, es war nicht viel Geld und es war schwer verdientes Geld, so kam es mir jedenfalls vor. Es war mir egal, ob es ein Kochrezept war, ein Bericht über einen Verkehrsunfall oder über den Frühling, der zögerlich erwachte, oder den Sommer, der sich nicht anmeldete, oder den Herbst, der viel zu früh kam, oder den Winter, der zu kalt war, manchmal konnte es auch ein Mord sein oder nur ein Mordversuch, egal ob ein Fernsehstar starb oder ein wenig prominenter Sportler, ja, mir fiel immer etwas ein und die Menschen lasen es, sie lasen es meistens gerne, zumindest redete ich mir das ein, in Wirklichkeit lasen es die Menschen wohl nur aus Mangel an Alternativen und ein Buch ist den meisten Menschen ja zu lang zum Lesen, aber manchmal wunderte ich mich dann doch, warum Menschen meine Artikel mit den viel zu langen und komplizierten Sätzen über die zu früh oder zu spät oder gar nicht kommenden Jahreszeiten lasen, das wunderte mich, aber – nun ja – mache die Leute glücklich mit deinen Geschichten, dachte ich mir, mache sie glücklich, das gilt beim Sex genauso wie beim Bücherschreiben, ein Mann kann die Frauen dann begeistern, wenn er sie nicht nur ausdauernd fickt, sondern auch wirklich ihre Lust befriedigt und wenn er weiß, was Frauen lieben, was ihre Gedanken anspornt, was ihre Fantasie anregt, was sie einfach müde macht und gut einschlafen lässt und träumen lässt, ausnahmsweise vielleicht einmal nicht von den dreckigen Erwachsenen-Märchen, sondern von Romantik und Liebe, aber das kommt im Allgemeinen ganz selten vor, meist ist nämlich die REM-Phase, wie mir gesagt wurde, geprägt von der körperlichen Liebe, dreckig und hart, und die Tiefschlafphase sowieso, da geht es nur noch um Lust und Stöhnen, ums Blasen, Ficken und um Orgasmen.9

    Also, meine Artikel wurden gelesen, ob begeistert oder nicht, das kümmerte mich nicht. Mein Chef war allerdings oft anderer Meinung, er war ein Choleriker, er konnte manchmal ziemlich laut über meine Berichte schreien, schimpfen, um sie dann doch abzudrucken.

    Kennengelernt hatte ich meinen Chef, als ich einmal in Moskau war und vor der Christ-Erlöser-Kathedrale, der Храм Христa Спасителя, stand. Diese Kathedrale hat eine lange Geschichte, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Der damalige Zar Alexander I. wollte auf den Sperlingsbergen zum Dank an den Sieg über Napoleon eine monumentale Kathedrale errichten. Allerdings war der Grund auf den Sperlingsbergen ungeeignet, zu weich, und es war ein anderer Zar, nämlich Nikolaus I., der dann die Kathedrale am linken Moskwa-Ufer errichten ließ. Und dann kam Stalin in seinem Größenwahn und plante genau dort seinen »Palast der Sowjets« mit einer unvorstellbaren Höhe von 415 Metern. Dazu sprengte dieser Durak die Kathedrale einfach in die Luft. Seinen Palast baute er dann doch nicht, oder besser gesagt, er kam bis zum Fundament, denn dann kam ihm etwas Wichtigeres in die Quere, nämlich der Zweite Weltkrieg oder – wie die Russen sagen – der Große Vaterländische Krieg, und das Fundament wurde in weiterer Folge als Schwimmbad genutzt. Dort wo einst eine prächtige Kathedrale stand, war nun ein Schwimmbad. Ein wahrlich komischer Gang der Geschichte. Aber letztendlich ging alles einigermaßen gut aus, denn während der Perestroika wurde immer häufiger die Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kathedrale gefordert. Sie wurde dann tatsächlich gebaut und im Jahr 2000 eröffnet.

    Ich kann mich noch genau erinnern, es war der 21. Februar 2038, als drei Mädchen, eines hieß so wie ich, Nadeschda, in dieser Kirche ein Lied sangen, und die Mächtigen sahen sich darin in ihrer Ehre gekränkt, oder was auch immer, und diese drei Mädchen wurden unter einem großen Polizeiaufgebot aus der Kathedrale geführt. Ich besuchte gerade Moskau, stand damals auf der Brücke vor der Kathedrale und machte gerade ein Foto, als der Tumult begann und sich auf die ganze Gegend um die Kirche übertrug. Und dort war es auch, als ich Gospodin Dostowski, so wie ich aus Norilsk stammend, kennenlernte. Er fragte mich, ob ich wüsste, was da vorging, und ich habe ihm gesagt, dass ich genauso ratlos sei wie er. Und dann kamen wir ins Gespräch und es beeindruckte ihn wohl, dass ich so viel über diese Kathedrale wusste, worauf er mir anbot, bei seiner Zeitung zu arbeiten, als freie Journalistin, in Norilsk. Das traf sich perfekt und ich sagte sofort zu. Nun ja, so war ich zunächst eine Journalistin mit wenigen Beiträgen, was sich aber änderte, ich brauchte ja das Geld. Und so lernte ich auch die dunklen Seiten des Journalismus kennen, einen cholerischen Chef, neidische Kolleginnen und große Lügen, kleinere Lügen, ganz kleine Lügen, berechtigte Notlügen, wichtige Lügen, interessante Lügen und ganz normale Unwahrheiten. Aber die ganz große dunkle Seite in meinem Job kam erst später, als ich mich für eine Geschichte verkaufen musste und all meine journalistische Integrität tief begraben durfte.

    Ich führte also ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens.

    Kapitel 3

    Norilsk, Stadt ohne Zukunft

    Mein Name ist Nadeschda Andrejewna Talakonikova.10 Mein Vater hieß angeblich Andrej, also erhielt ich, so wie es im Russischen üblich ist, den Vatersnamen Andrejewna. Aber ich kannte meinen Vater nicht und ich weiß auch nicht, ob mein Vater wirklich Andrej geheißen hat. Angeblich ist er mit der Milizia, der russischen Polizei, in Konflikt geraten und hat deshalb meine Mutter und mich verlassen. Ich hätte meinen Vater gerne gekannt und von ihm mehr erfahren. Wenn meine Mutter über ihn sprach, dann immer sehr zwiespältig. Einerseits musste sie als alleinerziehende Mutter vieles mitmachen und ich glaube, dass sie mir das meiste, was sie durchmachen musste, um Geld zu verdienen, gar nicht gesagt hat. Mir nicht zumuten wollte. Manchmal hatte sie ein geheimnisvolles Glänzen in ihren Augen, so als wollte sie sich einreden, dass mein Vater kein schlechter Mensch war und vielleicht gar keine andere Wahl hatte als uns zu verlassen. Ich glaube, dass die Beziehung zwischen meinen Eltern ganz einfach eine sehr schicksalhafte war.

    Meine Mutter war erst 19 Jahre alt, als ich geboren wurde. Das ist zwar nicht ungewöhnlich, aber sie erzählte mir oft, dass sie noch gar nicht reif für ein Kind war. Aber dennoch, sie freute sich über mich. Und in den ersten Jahren hatte sie ihre Mutter zur Hilfe, also meine Großmutter. Ich kann mich an meine Großmutter erinnern, aber nur undeutlich und schwach. Sie war immer besonders lieb zu mir und als ich vier Jahre alt wurde, starb sie. Später erzählte mir meine Mutter oft von meiner Großmutter, von meiner Babuschka. Alle nannten sie Babuschka Sofia. Meine Mutter erzählte nur Gutes über sie und vieles mutete so vergangen an, als hätte Babuschka Sofia im Mittelalter gelebt. Zum Beispiel die frische Milch, die man damals ganz bald in der Früh kaufen musste und dann in Milchflaschen abfüllte oder gleich für die Zubereitung von Blini verwendete, jedenfalls durfte man sie kaum stehen lassen, denn sie war am nächsten Tag schon sauer. Oder das damals übliche Parfum Trojnoj, angeblich das Lieblingsparfum des Genossen Stalin. Jeder kannte diesen Duft, ganz Russland roch damals nach Trojnoj, über das heute nur noch gelächelt wird, wenn man eine große, leere Flasche Trojnoj Odekolon mit dem markanten blauen Plastikschraubverschluss in einem Antiquitätenladen entdeckt. Es war in erster Linie ein Parfum, Babuschka Sofia verwendete es aber auch, um Wunden zu reinigen und angeblich reinigte mein Großvater seine Schere damit. Und aufgrund des hohen Alkoholanteils wurde es oftmals auch Getränken beigemischt. Ganz merkwürdig kommt einem heute vor, dass damals die Frauen – so hat es mir Babuschka Sofia erzählt – ihre eigene Waage in die Gemüseabteilung mitnahmen, um das Gewicht selbst zu kontrollieren, weil man sehr oft von den Verkäufern betrogen wurde. Alles war sehr weit weg und dennoch irgendwie nah. Und meine Mutter erzählte mir immer wieder vom Lieblingsspruch meiner Babuschka: »Лучше не окрывай рот, чтобы зубы не испортить!« Es bedeutete soviel wie: »Mach den Mund lieber nicht auf, damit die Zähne nicht kaputt werden.« Der Spruch bezog sich auf die enorme Luftverschmutzung in unserer Gegend.11

    Eigentlich nannten mich alle Nadja. Oder auch Naduschka oder Nadi. Ich bin am 7. November 2017 in Norilsk, einer Industriestadt im Krasnojarski Kraj in Sibirien, geboren. Norilsk ist die nördlichste Großstadt der Erde. Sie ist eine sogenannte »градообразующее предприятие«, eine Stadt, in der der Großteil der Bevölkerung in der gleichen Industrie oder dem gleichen Unternehmen arbeitet, in diesem Fall eben bei Norilsk Nickel. Oder anders ausgedrückt: Aufgrund der natürlichen Ressourcen in dieser Region beschloss das Politbüro, in dieser Gegend einen Industriestandort zu gründen. Es sollte ein Nickelkombinat entstehen und 1939 entschied man sich, die Stadt Norilsk zu gründen.

    Jeder, der schon einmal dort war, hat eine bleibende Erinnerung von dieser Stadt, nämlich Umweltverschmutzung pur. In der Luft fühlt man den Schwefel, der Schnee ist schwarz. Zur Schwermetallbelastung kommen überdies Feinstaub, Stickstoffoxide und Phenole. Norilsk ist reich an Rohstoffen: Nickel, Kupfer, Kobalt, Eisenerz, Kohle. In Norilsk steht die weltweit größte Schwermetallverhüttung.

    Grundsätzlich sollte man meinen, dass sich eine Stadt mit vielen Bodenschätzen glücklich schätzen muss. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung hat nur ein Ziel, nämlich die Bodenschätze abzubauen und zu Geld zu machen. Die Bewohner der Stadt haben nichts davon, außer viele Krankheiten, Depressionen und Hütten, die sie Häuser nennen. Norilsk ist völlig vergiftet und gilt als einer der am schlimmsten verschmutzten Orte der Welt. Es gibt in der ganzen Stadt nur ein Hotel und dieses hat einen miserablen Standard. Es ist typisch sowjetisch, also hässlich. Und es ist mit riesigen Stahlbetonpfeilern, die man in den Permafrost bohrte, verankert. Also, ein Touristenmagnet wird Norilsk nie werden.

    Das halbe Jahr über scheint so gut wie keine Sonne, man nennt die Stadt deshalb auch oft »die Stadt ohne Sonne«. Die Kinder im Kindergarten werden deshalb zeitweise mit UV-Licht bestrahlt. Neun Monate im Jahr liegt eine Schneedecke und fast das ganze Jahr über herrschen dort Minustemperaturen bis zu vierzig Grad unter null. Blumen und Wiesen haben in einem Umkreis von fast hundert Kilometern keine Chance zu gedeihen. Wenn man in Norilsk zur Welt kam, hatte man die schlechtesten Voraussetzungen für ein gesundes, erfülltes Leben.

    Während der Stalinzeit gab es in Norilsk auch das berüchtigte Norillag, das Norilsker Besserungsarbeitslager. In den 1950er Jahren arbeiteten mehr als 70.000 Gefangene in diesem Lager, einer davon war mein Urgroßvater mütterlicherseits. Norilsk ist eine geschlossene Stadt, das heißt, dass keine Fremden ohne spezielle Erlaubnis in die Stadt dürfen. Man darf also nicht

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