Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Kognitum
Kognitum
Kognitum
eBook454 Seiten6 Stunden

Kognitum

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Suizid ihres ehemaligen Mentors trifft Sarah Dumont unverhofft. Doch war es wirklich Selbstmord? Warum sollte sich ein Mann, der im Leben alles erreicht hat, umbringen? Sie beginnt diese Dinge zu hinterfragen, aber es geschehen noch mehr Selbstmorde, Obdachlose verschwinden spurlos, Krankenakten geben Rätsel auf.
Bis Dumont bei ihren Recherchen mit etwas konfrontiert wird, was bisher undenkbar erschien. Ein Albtraum wird Realität, und er könnte die Welt für immer verändern.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum21. Dez. 2021
ISBN9783740797904
Kognitum
Autor

Oliver Reiche

Oliver Reiche, Jahrgang 1965, arbeitet als Projektleiter in der Bau- und Immobilienbranche. Nebenbei schreibt er Romane oder Drehbücher, betätigt sich als Jugendleiter in einem Fußballverein oder gönnt sich Miniauszeiten in seinem Kleingarten. Er lebt mit seiner Familie in Dresden. Von ihm sind bereits die SF-Kurzgeschichtensammlung `Primus´ sowie die Romane `Outside´ und `Mr. Neboc´ verfügbar.

Mehr von Oliver Reiche lesen

Ähnlich wie Kognitum

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Kognitum

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Kognitum - Oliver Reiche

    1

    TICK-TICK

    Tick-Tick.

    Schnurr.

    Tick-Tick.

    Es war nicht nur das Geräusch, das ihn wach werden ließ, sondern die unausgesprochene, furchterregende Assoziation im Unterbewusstsein, die sich dahinter verbarg. Wie ein grauenhaftes Wesen, das sich aus nebligem Dunst schält.

    Schnurr.

    Tick-Tick.

    Der Mann öffnete mühsam die Augen, als würde er aus einem intensiven, verwirrenden Traum auftauchen und jetzt fürchten, die Realität zu sehen. Er nahm seine Umgebung wahr, doch sie befand sich hinter einem Schleier, in einer anderen Welt – scheinbar zu weit entfernt, um wirklich mit ihr verbunden zu sein.

    Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er sich in einem abgedunkelten Raum befand. In seinem Blickfeld über einer Tür leuchtete, schwach und grünlich wie in einem Kino, ein Notausgangsschild. Sein Blick wanderte behäbig umher, als spielte Zeit keine Rolle. Da waren mehrere Tische, auf denen anscheinend verschieden große Käfige standen. Undeutlich vernahm er ein leises, verstörendes Fiepen und Scharren aus dieser Richtung, als hausten dort gequälte Tiere.

    Er sah langsam an sich hinunter, nur um festzustellen, dass er wie hingeworfen auf einem bequemen Sessel lag. Zugleich kroch ein eigenwilliger Geruch in seine Nase, der ihn entfernt an Putzmittel erinnerte. Diese Erkenntnisse drangen nur gemächlich zu ihm durch, weil seine Gedanken schwerfällig arbeiteten. Als wäre sein Gehirn eine alte, abgenutzte Maschine kurz vor der Verschrottung.

    Jetzt gelang es ihm, den Kopf zu drehen. Er sah die schemenhaften Umrisse einiger Metallspinde, Computerbildschirme, Aktenordner auf einem Tisch und ein beschriebenes Flipchart. Er kannte diese Umgebung, er wusste genau, dass er sie kannte. Es musste dafür doch … eine Erinnerung geben.

    Er versuchte aufzustehen, sich zu bewegen – doch sein Körper gehorchte nicht. Eine Weile dämmerte er so dahin, bewegungsunfähig, nutzlos, mit offenen Augen, wie im Wachkoma.

    Was war das Letzte, an das er sich erinnern konnte? Wo genau befand er sich?

    Die Erkenntnis kam wie ein winziges, aber plötzlich aufstrahlendes Licht: Die Käfige! Darin befanden sich Ratten, gehalten für Tierversuche. Er befand sich in einem Labor! In seinem Labor! An seinem Arbeitsplatz!

    Aber wie kam er in diesen Sessel? War er darauf eingeschlafen? Wenn nur sein Kopf wieder klar würde, wenn nur dieses Schwindelgefühl nachließ, welches ihn beständig in eine dunkle Tiefe zu ziehen drohte.

    Weitere Erinnerungen drängten nach vorn, doch sie waren undeutlich, traumhaft und verzerrt. Er hatte zu einer ungewöhnlichen Zeit sein Labor aufgesucht, dreiundzwanzig Uhr oder später. Aber warum? Hing es mit den Zweifeln zusammen, die ihn in letzter Zeit plagten?

    Das Denken strengte ihn an, machte ihn wieder müde, lethargisch … er musste sich verdammt noch Mal konzentrieren!

    Die Versuche liefen nicht wie erhofft. Mehr und mehr Tiere starben einen sinnlosen Tod. Briefe und E-Mails von Tierschutzorganisationen wurden zunehmend aggressiver. Auch die Anzahl der umsonst im Labor verbrachten Stunden summierte sich unaufhaltsam, während gleichzeitig die Beendigung des Projektes unmittelbar bevorstand. War es das alles wert gewesen? Mit einem Mal kamen ihm die letzten Jahre bedeutungslos und leer vor.

    Er schaffte es, die Finger seiner linken Hand zu bewegen, aber nach wie vor verweigerten die restlichen Gliedmaßen den Dienst. Hatte er einen Schlaganfall erlitten?

    Und was, zum Teufel, machte er auf diesem Sessel? Was hatte es mit dem eigenartigen Geruch auf sich? Oder roch es nur nach Alkohol? Er hatte zu oft versucht, damit Probleme zu lösen, obwohl er auf eine schizophrene Art wusste, dass das keinen Sinn ergab. Hatte er auch diesmal wieder zur Flasche gegriffen und war irgendwann einfach auf dem Sessel eingeschlafen? Was war das Letzte, an das er sich sicher erinnern konnte? Warum hatte er diese Lücken in der Erinnerung, die nur Fragmente von früher zuließen?

    Tick-Tick.

    Schnurr. Es klang wie das wohlige Mauzen einer Katze.

    Tick-Tick.

    Wieder drang das Geräusch in seinen Kopf, blieb dann dort haften und forderte schließlich seine Aufmerksamkeit. Es klang wie eine Uhr. Ein Wecker vielleicht, Zeit zum Aufstehen. War das hier nur ein Traum, ein dummes, haltloses Gespinst seiner Gedanken? Wieder benötigte er einige Zeit um zu erkennen, woher das Ticken kam. Direkt vor ihm auf einem Rollcontainer, keine fünfzig Zentimeter von dem Sessel entfernt, lag ein Gegenstand.

    Größer als eine Uhr. Unregelmäßige Form. Drähte.

    Keine Uhr.

    Tick-Tick.

    Schnurr.

    Sekunden später überfiel ihn die Assoziation wieder. Die unausgesprochenen, furchterregenden Dinge, die sich hinter dem Geräusch verbargen, manifestierten sich zu etwas, vor dem er plötzlich Angst bekam. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.

    Hatte er, in einem Anflug von düsterer Verzweiflung, mit Hilfe von Alkohol und Tabletten etwas in Gang gesetzt, was jetzt unaufhaltsam ablief? Was auch immer gerade stattfand, er musste von hier fort. Aufstehen und verschwinden, sofort. Er versuchte sich nach vorn zu werfen, zur Seite, Hauptsache irgendetwas tun. Umsonst. Erneut blockierte sein Körper die Zusammenarbeit. Es war, als hielt ihn ein unsichtbarer Gegner fest und ließ damit seine Anstrengungen ins Leere laufen.

    Schließlich schaffte er es, sich aufrecht zu setzen, so dass sich sein Oberkörper nur wenige Zentimeter entfernt von dem Gegenstand auf dem Rollcontainer befand. Vergebens versuchte er, einen seiner bleischweren Arme zu heben. Er wollte einen Plan entwickeln, eine Idee, doch seine Panik überlagerte jede dieser Überlegungen.

    Ergebnislose, pochende Gedanken wirbelten in seinem Kopf hin und her, bis auch das keine Rolle mehr spielte.

    Die Wucht der Explosion nahm in Sekundenbruchteilen alles mit sich: Seine diffusen Erinnerungen, seine Angst sowie das rasende Schlagen seines Herzens.

    2

    ESUS

    Der junge Kriminalkommissar stand mit zusammengekniffen Augen auf dem trostlosen, fast leeren Parkplatz. Es war Mitte Juli, kurz nach fünf Uhr. Seine Kopfschmerzen machten ihm zu schaffen und er fror, obwohl die Temperatur jetzt schon über 20 Grad betrug. Aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund hatte er schlecht geschlafen, sich hin und her gewälzt und war zwei Mal in der Nacht pinkeln gegangen.

    Vielleicht gehörte das irgendwie zum Alterungsprozess ab einunddreißig dazu, wobei der berufliche Stress die ganze Sache wahrscheinlich noch verstärkte. Dafür ging in zwei Wochen der Flieger nach Mallorca, wo er sich entspannen würde. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und betrachtete kritisch das Gebäude vor sich.

    Durch den Anruf vor einer Stunde wusste er, dass es sich um ein Gründer- und Gewerbezentrum handelte, irgendwann Anfang der neunziger Jahre errichtet. Soweit er es verstanden hatte, konnten hier neu gegründete Unternehmen mit geringem Startkapital erste Gehversuche wagen, begünstigt durch niedrige Mieten und andere Subventionen.

    An der glatten, kartongrauen Fassade rankten frische Brandspuren empor, sie ähnelten einem Geflecht dunkler Pflanzen. Die Feuerwehr hatte den Brand bereits vor zwei Stunden gelöscht, doch bei der anschließenden Sicherung des Gebäudes war sie auf eine Leiche gestoßen. Aus diesem Grund stand er jetzt in seiner Eigenschaft als Kriminalkommissar hier. Bis vor einem Jahr war er immer in Begleitung eines dienstälteren Kollegen unterwegs gewesen.

    Hunderte Bruchstücke der offensichtlich durch eine Explosion zersplitterten Fenster lagen sowohl auf dem Betonpflaster als auch dem kümmerlichen Rasen verstreut. Sie glänzten in der Morgensonne wie flach gedrückte Tautropfen. Eine monströse Attika bildete den Abschluss des vierten Obergeschosses, während auf dem Flachdach eigenartige Aufbauten in den Himmel ragten. Das längliche Gebäude verfügte über drei Haupteingänge, an der linken Front schloss sich ein eingeschossiger Flachbau mit großen Hallentoren an.

    Im Wesentlichen, fand er, glich das Gebäude in seiner Einfallslosigkeit und Form einer etwas zu groß geratenen, lädierten Schuhschachtel – ein Zeugnis misslungener Architektur.

    Er ging in Richtung des linken Einganges. Der davor postierte Polizeibeamte nickte ihm emotionslos und wissend zu. „Zweites Obergeschoss."

    Der junge Kriminalkommissar nickte wortlos zurück, dann trat er durch die breite Eingangstür. In dem ebenfalls sehr schlicht gehaltenen Foyer des Gebäudes hing eine schmucklose Tafel, die die Namen der Unternehmen und deren jeweiligen Standort in diesem Teil des Gebäudes preisgab. Im zweiten Obergeschoss schien es nur eine einzige Firma zu geben, zumindest fand er in der entsprechenden Zeile nur einen Aufdruck: `ESUS – Biomedizinisches Labor Berlin´.

    Er wandte sich dem Treppenhaus zu. Die stark abgenutzten Stufen und zerschrammten Betonwände waren ein weiterer Beweis dafür, dass das Gewerbezentrum seine besten Zeiten hinter sich hatte.

    Die beißende Ausdünstung nach verbranntem Kunststoff und etwas anderem, das sich mit Bildern von Sterbenden und alten Friedhöfen verband, intensivierte sich von Treppenstufe zu Treppenstufe. Es erinnerte ihn an einen Geruch von einem anderen Tatort vor einem Jahr. Damals lag diese Ausdünstung noch zwei oder drei Tage unter der Zunge und haftete wie angeklebt in der Nase. Eine halbe Flasche Wodka hatte seine Geschmacks- und Sinneseindrücke wieder in eine andere Richtung gelenkt.

    Am Treppenaufgang zum zweiten Obergeschoss stand ein weiterer, in sich versunkener Polizeibeamter mit unnatürlich blassem Gesicht. Der Mann sah aus, als hätte er sich gerade erbrochen oder sei im Begriff, dies in den nächsten Minuten zu tun.

    Die Eingangstür des Labors, dem eigentlichen Ort des Geschehens, ragte windschief in den Gang hinein. Dies ließ auf eine äußerst heftige Druckwelle schließen, für die nur eine wirklich starke Explosion verantwortlich sein konnte. Die Glasscherben der Türfüllung verteilten sich wie von einem Blumenkind sorgfältig in dem langen Gang gestreut. In dem Mauerwerk aus weiß gestrichenem Kalksandstein steckten einzelne Glasstücke.

    Neben der Tür hing ein kleines Messingschild an der Wand mit der Aufschrift `ESUS´, das somit jeden Zweifel ausräumte. Ein unglücklich dreinblickender Polizeibeamter mit Mundschutz stand direkt daneben.

    Der junge Kriminalkommissar betrat vorsichtig den Raum, während er erfolglos versuchte, den starken, unnatürlichen Geruch zu ignorieren, der seine Kopfschmerzen augenblicklich verstärkte. Er sah sich um. In dem gesamten Labor für Tierversuche existierte auf den ersten Blick nichts mehr, was je wieder sinnvoll zu verwenden wäre. Das betraf sowohl die Reste der Käfige, die Computer und Messgeräte als auch das übrige Interieur. Auch die von der Explosion nicht in ihre Einzelteile zerlegten Gegenstände waren durch den anschließenden Brand deformiert und zu bizarren Formen geschmolzen, bis der Löschschaum der Feuerwehr das Wüten gnädig beendete. In einer Ecke des Raumes, mit dem Rücken zu ihm und in seine Tätigkeit vertieft, kniete ein glatzköpfiger Mann in einem weißen Kittel. Als der Kriminalkommissar sich räusperte, sah sich der Glatzkopf kurz zu ihm um, bis er ihn mit einer knappen Handbewegung zu sich winkte.

    Vor dem Gerichtsmediziner lag ein nur noch schwer als Mensch zu identifizierendes Etwas mit aufgerissenem Brustkorb, verrenkt wie eine Schaufensterpuppe. Durch den Brand war die Leiche so weit verkohlt, dass man kaum noch unterscheiden konnte, wo Kleidungsfetzen aufhörten und Haut begann.

    Der Weißkittel stand mühsam auf, während der junge Kommissar ihn kopfschüttelnd beobachtete. Auch wenn der Mann eine Koryphäe war, seine körperlichen Probleme waren unübersehbar. Wenn der Mann schlau war, gönnte er sich vor seinem Ausscheiden aus dem Dienst noch ein künstliches Hüftgelenk.

    „Was?, knurrte der Gerichtsmediziner mürrisch zur Begrüßung. „Irgendwann trifft es auch einen jungen Kerl wie dich. Das geht schneller als du denkst.

    Der Gerichtsmediziner war dafür bekannt, dass er jeden duzte, der ihm über den Weg lief. Dafür war er nicht nachtragend, wenn man ihm Paroli bot.

    „Möglich, räumte der Kriminalkommissar emotionslos ein. „Aber aktuell habe ich nicht vor, länger als notwendig im Polizeidienst zuzubringen. Ich glaube schon, dass ich ab einem gewissen Alter eingewickelt in eine Decke in irgendeinem Schaukelstuhl im sonnigen Süden sitze und Däumchen drehe. Das nennt sich Pensionierung. Er bemerkte den abweisenden Gesichtsausdruck seines Gegenübers. „Aber hier ist es natürlich viel schöner."

    „Irgendeiner muss es ja machen." Der Glatzkopf streifte sich die Handschuhe ab, um dann als Erklärung für seine Worte mit einer kurzen Kopfbewegung auf das zerstörte Labor zu deuten.

    Die beiden Männer schwiegen ein paar Sekunden, während der jüngere grübelte, was sich in den letzten Minuten vor der Explosion in diesem Raum wohl abgespielt haben mochte.

    „Was haben Sie für mich?", fragte er.

    „Ich bin erst seit fünfzehn Minuten hier, viel ist es also noch nicht. Der Glatzkopf wies mit einer weiteren kurzen Handbewegung auf die Leiche. „Vermutlich Professor Karl Oehme, der Laborleiter. Eindeutig Sprengstoff mit anschließendem Brand. Das Metallschild an seinem Kittel mit seinem Namen darauf ist erstaunlicherweise das Einzige, was die Sache hier halbwegs überstanden hat. Aber letztlich bedeutet so ein Schild gar nichts. Heute Nachmittag weiß ich bezüglich der Identifikation mehr.

    Der Kriminalkommissar sah sich wieder um. Bei jeder Bewegung drohte sein Kopf zu zerspringen. „Ich habe noch nie davon gehört, dass in einem Labor für Tierversuche mit Sprengstoff gearbeitet wird. Und schon gar nicht in den Größenordnungen, die einen solchen Schaden verursachen."

    „Nein. Das wäre mir ebenfalls neu, pflichtete ihm der Gerichtsmediziner ohne jede Ironie bei. „Es sieht für mich fast so aus, als hätte er das hier selbst zu verantworten. Er zeigte auf einen Sessel mit verkohltem und verschweltem Bezug, welcher umgekippt einen halben Meter neben dem Toten lag. „Möglicherweise saß er zum Zeitpunkt der Explosion darauf und der Explosionsherd befand sich sehr nahe an seinem Körper. Das würde den aufgerissenen Brustkorb erklären. Um das sicher beurteilen zu können, müsste ich allerdings Blut- oder Gewebereste auf dem Stoffbezug finden. Aber so, wie das Feuer hier gewütet hat … die labortechnische Untersuchung wird eine Weile dauern."

    Selbst mit pochenden Kopfschmerzen wunderte sich der junge Kommissar, mit welcher Selbstverständlichkeit der Gerichtsmediziner und dessen Kollegen aus der Pathologie über diese schlimmen Dinge sprachen. Vielleicht würde er sich nie daran gewöhnen.

    „Wie muss ich mir das vorstellen?, sinnierte er laut. „Er sitzt da auf seinem Sessel in seinem Labor? Mit der Sprengladung vor dem Bauch, weil er sich umbringen will? Er sitzt einfach da und wartet, bis es zu Ende ist? Wäre ich irgendwie nicht der Typ dafür.

    „Wir müssen abwarten, ob der Zündmechanismus rekonstruiert werden kann. Das könnte Rückschlüsse zulassen auf die Art und Weise, wie sich das hier abgespielt hat. Vielleicht musste er gar nicht dasitzen und warten, sondern hat einfach nur auf einen Knopf gedrückt?"

    „Ist das nicht genau das Gleiche?", wunderte sich der junge Mann.

    Der Glatzkopf zuckte mit den Schultern. „Das kannst du nicht wissen. Wer weiß, wie seine letzten Stunden verlaufen sind."

    „Vielleicht war er an dem Stuhl festgebunden?", kam die Gegenfrage.

    „Das wäre theoretisch eine Option. Nur existiert dafür nicht der geringste Hinweis. Auf den ersten Blick gibt es keine Faserspuren, weder an der Leiche, noch an dem Stuhl. Je nach Art der Faser eines Strickes finde ich vielleicht noch minimale Rückstände, aber wohlgemerkt, zwischen dem vermutlichen Zeitpunkt der Explosion und dem Beginn der Löscharbeiten lagen achtunddreißig Minuten. Die Feuerwehr ist nicht gleich auf das Gelände gekommen. Eine verflucht lange Zeit für ein Feuer, um sich auszutoben."

    Der junge Kriminalkommissar nickte zustimmend. Es war schon eine Legende, dass sein älterer Kollege immer erstaunlich gut informiert war. Das lag nicht zuletzt an dessen hervorragenden Kontakten sowie dem ausdrücklichen Wunsch, so schnell als möglich auch über scheinbare Nebensächlichkeiten informiert zu werden. „Was das Feuer fressen kann, das frisst es, oder?", bemerkte er tiefgründig.

    Statt einer Antwort zog der Gerichtsmediziner geräuschvoll Luft durch die Nase ein. „Riechst du das? Ausgehend vom Geruch würde ich sagen, er hat vorher Benzin über alles gekippt. Er hat also auch an die Zeit nach der Explosion gedacht. Würde mich nicht wundern, wenn wir hier irgendwo noch einen zerbeulten Kanister finden."

    Der Jüngere gab sich nicht die Mühe einer intensiven Geruchsprobe. „Interessant. Er bringt sich also nicht nur auf seiner Arbeitsstelle um. Er will auch, dass alles was dazugehört, mit zerstört wird. Moralische Bedenken, könnte man vermuten. Tierversuche und so."

    Der Mediziner zuckte mit den Schultern. „Möglich, ja. Einerseits merkwürdig, dass ihm das nach einer derart langen Berufstätigkeit einfällt. Andererseits kann sich das auch entsprechend aufgestaut haben. Die Psyche mancher Menschen ist eben ein Rätsel, von den Abgründen darin ganz zu schweigen. Vielleicht ist aber auch an anderer Stelle etwas gründlich schief gelaufen oder es sind einfach nur familiäre Probleme, die zu so etwas führen."

    „Familiär? Sich in die Luft zu sprengen, weil die Frau weggelaufen ist, halte ich dann doch für übertrieben."

    „Keine Ahnung. Wenn du vierzig Jahre verheiratet bist, hast du vielleicht eine andere Meinung darüber. Frag doch mal seine Mitarbeiter."

    Der Kommissar nickte mühsam, weil seine Kopfschmerzen einen kritischen Punkt erreicht hatten. „Ja, das wird wohl nicht ausbleiben. Er wischte mit der Schuhspitze ein wenig Ruß auf dem Fußboden breit. „Haben Sie zufällig eine Ahnung, wo ich hier in der Gegend einen Kaffee herbekomme? Eine Tasse Kaffee und eine Schmerztablette – manchmal reduzierten sich Wünsche auf ein Minimum.

    Der Glatzkopf steckte nachdenklich die Hände in seine Kitteltaschen, doch er sah nicht einmal auf, als er antwortete. „Tankstelle. 300 Meter."

    3

    RATTENPLAGE

    Der junge Kriminalkommissar betrachtete den ihm gegenüber sitzenden Mann interessiert. Leon Wagenburg entsprach mit seinen als Zopf zusammengebundenen langen Haaren, den bunten Shorts sowie dem straff über seinen Bauch spannenden, verwaschenen T-Shirt nicht unbedingt dem klassischen Bild eines Wissenschaftlers. Ebenso wirkte er auf den ersten Blick nicht sonderlich intelligent, sein Doktortitel jedoch sagte etwas anderes. Wagenburg war fünfundvierzig Jahre alt und ihm damit etliche Jahre voraus. Er besaß die schwammigen Gesichtszüge eines Mannes, der zu viel und zu ungesund aß und wog vermutlich um die 100 Kilogramm.

    Jetzt saßen Wagenburg und er allein in der Cafeteria des Gründer- und Gewerbezentrums – die sich in einem anderen Gebäudeteil als das zerstörte Labor befand – an einem Esstisch für sechs Personen, während vom Tresen leise Radiomusik herüberdudelte.

    Die Explosion war nun vier Tage her. Der Kriminalkommissar fühlte sich nach der Kopfschmerzattacke erholt und wieder bereit, Verbrechen aufzuklären.

    „Wie ich hörte, war Professor Oehme sehr beliebt?", begann er so behutsam wie möglich.

    Wagenburg nickte mechanisch, während er ihn mit einem seltsam leeren Blick ansah. „Ja. Definitiv. Manchmal ein wenig verdreht, aber ansonsten absolut auf der Höhe. Mit ihm konnte man immer konstruktiv diskutieren, er hat fast nie den Chef raushängen lassen."

    „Tut mir leid für Sie."

    „Ja." Wagenburg presste die Lippen aufeinander, um schließlich den Blick abzuwenden.

    Der junge Kriminalkommissar folgte dem Blick und sah in den trostlosen Innenhof des Gebäudes, in dem ein einsamer, dürrer Strauch im Schatten um sein Überleben kämpfte. Das erinnerte ihn an den Innenhof eines Gefängnisses, in dem er einmal zu einer Befragung gewesen war. Die ganze Atmosphäre war einfach deprimierend gewesen.

    „Wie lange arbeiteten Sie schon für ihn beziehungsweise für ESUS?"

    „Sechs Jahre und acht Monate. Ich bin kurz nach Projektbeginn zum Team gestoßen."

    Die Antwort kam sofort und ohne jede Überlegung. Es klang, als hätte Wagenburg mit dieser Frage gerechnet, was der junge Kriminalkommissar als nicht ungewöhnlich einschätzte.

    „Nach Projektbeginn? Er zog aus dem vor ihm liegenden hellbraunen Umschlag einen Hefter mit nur wenigen Seiten Papier heraus, öffnete ihn und zeigte Wagenburg die erste Seite. „Das Projekt?

    Der Angesprochene warf einen kurzen Blick auf das Papier, um den Polizeibeamten danach traurig anzusehen. „Ja, genau das Projekt. Das ist der letzte Quartalsbericht. Wo haben Sie den her?"

    „Datiert auf März diesen Jahres, ergänzte der Kriminalkommissar, ohne auf die Frage seines Gegenübers einzugehen. „Neben Ihnen und Karl Oehme gab es noch drei weitere Projektbeteiligte. Zwei davon habe ich schon befragt, Laura Steinbrück weilt leider noch in Australien. Unabhängig davon habe ich den Bericht gelesen und versucht, die ganze Sache zu verstehen. Hat auf Grund der fehlenden Fachkenntnisse nicht wirklich funktioniert.

    Wagenburg sah ihn mit nachsichtiger Miene an. Dann fuhr er sich mit einer Hand auf eine fast schon kokette Art durch seinen blonden Zopf, die trotz der weiblichen Attitüde irgendwie zu ihm passte.

    „Im Wesentlichen, sagen wir mal, geht es um neuronale Vernetzung durch Reizstimulierung bei zwei Versuchstieren, in dem Fall Ratten. Ist ein Tier erregt oder hat Hunger, geht es dem andern genauso. Dafür benötigt man unter anderem eine präzise Feinabstimmung mehrerer körpereigener Parameter, die Messung der Hirnstromaktivitäten und so weiter. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir im Laufe der letzten sieben Jahre mehr als einhundert Ratten verbraucht."

    „Meinen Sie mit `verbraucht´ die Anzahl der Tiere, die bei den Versuchen gestorben sind?"

    „Ja, sicher. Leon Wagenburg bekam einen störrischen Gesichtsausdruck. „Das wird doch jetzt von Ihrer Seite keine ethische Diskussion, oder? Außerdem ist die Verwendung sämtlicher Tiere genau dokumentiert und es gibt glaube ich nur sehr wenige Lebewesen, die derartig viele Nachkommen produzieren wie Ratten. In manchen Städten Deutschlands spricht man sogar schon von einer Rattenplage. Wie im Mittelalter. Da kann man schon mal großzügiger sein.

    Der Kriminalkommissar schob den Forschungsbericht zurück in den Umschlag. Dass eine Spezies sehr viel Nachwuchs bekam stellte seines Erachtens keinen Grund dar, sorglos mit deren Leben umzugehen. Andererseits gab es sicherlich in verschiedenen Bereichen der Forschung wenig Alternativen zu Tierversuchen.

    „Wie ich schon andeutete, ich bin ein Laie auf dem Gebiet, drückte er sich um eine klare Stellungnahme. „Vielleicht aber können Sie mir deswegen erklären, wo Ihre Forschung Anwendung findet?

    Wagenburg drehte die fast leere Tasse Kaffee in seiner Hand um deren Achse wie ein verlegener Schuljunge. „Momentan findet sie noch nirgendwo Anwendung, wir reden hier von erweiterter Grundlagenforschung. Doch wenn es ausgereift ist, gibt es einige Einsatzmöglichkeiten, denken Sie nur an die Medizin. Er stellte mit einer entschlossenen Bewegung die Tasse zur Seite, atmete tief aus und lehnte sich dem Kriminalkommissar entgegen. „Das Projekt wurde übrigens eingestellt, falls man Ihnen das noch nicht gesagt hat. Wenn Sie also nach Gründen für seinen Tod suchen – die hätten ihm das Projekt lassen sollen, verdammt! Fünfzehn Jahre Projektarbeit, einfach umsonst!

    „Ich dachte, es waren nur knapp sieben Jahre?", unterbrach der Kommissar seinen Gesprächspartner.

    „Ja, stimmt. Aber nur, soweit es das offizielle Projekt betrifft. Doch er hat auch schon davor acht Jahre daran geforscht, nur eben mit privaten Mitteln! Karl hat sogar manchmal nachts noch dagesessen und getüftelt, ist Versuchsanordnungen wieder und wieder durchgegangen. Er hat dafür gelebt, war von seiner Vision überzeugt! Manchmal hat er es als sein Lebenswerk bezeichnet. Kein Wunder, dass… Wagenburg wischte sich fahrig mit einer Hand über sein Gesicht und sah sich dann gehetzt um. „Einfach so das Projekt einzustellen, fuhr er erbost fort, „das machen nur Bürokraten, die keine Ahnung haben, was wirklich dahintersteckt."

    Der plötzliche Ausbruch des Mannes überraschte den Kriminalkommissar nicht. Durch die Befragungen der zwei Kollegen von Leon Wagenburg wusste er bereits, dass auch diese sich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlten.

    „Bezüglich der Einstellung des Projektes – kennen Sie Details?, erkundigte er sich milde. „Ich hoffe doch, er hat sein Team irgendwie eingeweiht.

    Wagenburg zuckte mit den Schultern, bevor er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. „So weit ging die Demokratie dann doch nicht. Vor ungefähr zwei Monaten ist ein Typ von irgendeinem EU-Gremium bei ihm vorbeigekommen, hat eine halbe Stunde mit ihm geredet … und das war es dann: Die Fördermittel werden im Monat Juli das letzte Mal gezahlt, sämtliche Unterlagen sind spätestens bis dahin zu übergeben, danach wird das Projekt eingestellt. Der Mann schüttelte den Kopf, so dass sein Pferdeschwanz hin und her schwang. „Und ich Idiot dachte noch, die erhöhen uns das Budget.

    Trotz seiner kurzen polizeilichen Laufbahn war der junge Kriminalkommissar schon mit seltsamen Entscheidungen in Berührung gekommen, wo er feststellen musste, dass es Dinge gab, die sich ihm einfach nicht erschlossen. „Ich muss zugeben, dass ich das nicht wirklich verstehe. Was hat die Europäische Union mit Ihrer Forschung an Ratten zu tun?"

    „Wie gesagt, Karl hatte ja schon eine Weile alleine daran gearbeitet. Irgendwann ist ihm die Arbeit über den Kopf gewachsen, außerdem ging das Geld zur Neige. Zu dem Zeitpunkt wäre es gegenüber der Wissenschaft geradezu fahrlässig gewesen, aufzugeben. Und für die wirklich tieferen Untersuchungen benötigt man auch die entsprechenden Geräte. Also hat er denen in Brüssel seine bisherigen Ergebnisse unter die Nase gehalten und sich damit um einen Forschungsauftrag beworben. Es hat funktioniert. Dort oben im Labor stehen, oder standen, Geräte im Wert von ein paar Millionen Euro herum. Dann hat er ein paar Leute angestellt und los ging es."

    „Was es nicht alles gibt", sinnierte der Kommissar verwundert. Er hatte schon im Studium davon gehört, dass die Beantragung von Geldern aus dem Topf der EU, wie letztens für die dringend notwendige Erhöhung der inneren Sicherheit, ein umständliches und aufwändiges Verfahren darstellte. Umso erstaunlicher fand er, dass ein völlig unbekannter Wissenschaftler über mehrere Jahre Fördergelder für ein derartiges Forschungsprojekt erhalten hatte.

    „Ja, riss ihn Wagenburg aus seinen Überlegungen. „Es war ein tolles Projekt mit Perspektiven, man brauchte nur etwas Phantasie. Es hat zwar fast ein Jahr gedauert, bis die Genehmigung kam, aber dann sind die Gelder problemlos geflossen, auch wenn nur Karl die genauen Beträge kannte.

    „Aber warum stellt die EU das Projekt ein, wenn es so toll ist wie Sie sagen?"

    „Wie gesagt, Karl hat uns die offizielle Begründung des Gremiums für den Projektabbruch nicht mitgeteilt. Wie er sagte, sei diese Geheimhaltung ein Teil des Vertrages über die Fördergelder. Ich persönlich gehe davon aus, dass den feinen Herren der Projektfortschritt nicht weit genug gediehen war. Auch wenn wir nie einer klar definierten Zielsetzung unterlagen, vermute ich, dass sich der Geldgeber nach der Projektlaufzeit mehr erhofft hat als das, was wir vorzuweisen hatten. Vielleicht wurde in Brüssel auch eine neue Tierschutzrichtlinie verabschiedet und wir sind damit über Nacht zu den Bösen avanciert. Keine Ahnung. In jedem Fall aber haben die uns ersatzlos den Hahn zugedreht, damit nicht noch mehr Geld verbrannt wird."

    Ein Projekt, das nach sieben Jahren nicht über Grundlagenforschung herausgekommen war. Aus der Sicht eines Steuerzahlers konnte der junge Kriminalkommissar die Herangehensweise des EU-Gremiums durchaus nachvollziehen.

    Die Tür zur Cafeteria öffnete sich und eine Gruppe Männer in blauschwarzer Arbeitskleidung kam herein. Sie unterhielten sich weithin vernehmbar, wobei sie den zwei bereits Anwesenden nicht die geringste Beachtung schenkten.

    Wagenburg beugte sich wieder zu seinem Gesprächspartner hinüber. „Darf ich Sie noch etwas fragen?", sagte er mit bittendem Unterton, während sich die Ankömmlinge gegenseitig lautstark über ihre Überlegungen zur Essensbestellung informierten.

    „Ja, selbstverständlich."

    „Hat man denn etwas retten können? Unsere Forschungsergebnisse, das ganze Material, was ist damit?" Seine Augen fixierten den jungen Mann auf eine seltsame Art und Weise, wie ein Fiebernder, der sich ein Mittel gegen seine Krankheit erhofft.

    „Nein, tut mir leid, nicht das Geringste, antwortete der Kriminalkommissar nach ein paar Sekunden des Nachdenkens. „Was die Explosion nicht sofort zerstört hat, ist geschmolzen oder verbrannt. Sogar der Server im Nebenraum. Alles in allem kein schöner Anblick, glauben Sie mir.

    Der Mann mit dem Zopf sah missbilligend zu der Gruppe der Männer hinüber, wobei nicht erkennbar war, ob das an der Antwort des Polizeibeamten lag oder auf die Anwesenheit der Männer zurückzuführen war.

    „Das heißt, der Bericht, den Karl normalerweise in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte, ist verbrannt, fasste Wagenburg zusammen. „Jede digitale Kopie im Labor ist unbrauchbar. Und das Exemplar, das jetzt in Brüssel liegt, ist für uns vermutlich nicht zugänglich. Wahrscheinlich verrottet es gerade in irgendeinem Kellerarchiv. Wir haben also gar nichts, das Projekt ist komplett tot.

    Ein neuer Schwung Männer kam in die Cafeteria, was den Kommissar veranlasste, die Unterlagen in seine Aktentasche zu stecken. „Wenn Sie so wollen, ja, erwiderte er Wagenburg. „Andererseits gehören die Forschungsergebnisse meines Erachtens dem, der die Forschung bezahlt. So gesehen hätte das Gremium nicht einmal eine Begründung für die Einstellung der Arbeiten liefern müssen. Aber selbstverständlich verstehe ich Ihre Sichtweise.

    Wagenburg schüttelte erneut den Kopf. „So viel Jahre Forschung für Nichts. Was für ein Irrsinn."

    Der Kriminalkommissar musterte den Mann, der nun gedankenverloren ins Leere sah. „Auch wenn es Ihnen jetzt vielleicht unangebracht erscheint: Was haben Sie an jenem bewussten Abend vor vier Tagen getan?"

    Ein leichtes, bitteres Lächeln erschien auf dem Gesicht von Wagenburg. „Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann einmal nach einem Alibi gefragt werde. Anderseits habe ich mich schon gewundert, dass die Frage nicht eher gekommen ist. Seine Zunge strich kurz über seine Lippen, wie bei einer Katze, die vor ihrem Fressnapf sitzt. „Ich war zu einem Vortrag. Im Hilton-Hotel. Es ging mit um Neurolinguistik, zumindest im weitesten Sinne. Die Veranstaltung ging bis ungefähr 22.00 Uhr. Er sah den Kriminalkommissar an. „Das können Sie gern überprüfen. Ich glaube, ich habe zu Hause auch noch die Einladung herumliegen."

    „Kann jemand bestätigen, dass Sie dort waren?"

    „Mit Sicherheit. Ich habe mich während der Veranstaltung mit ein paar Kollegen unterhalten. Danach sind einige noch ein Bier trinken gegangen, mich eingeschlossen. Ich kann Ihnen gern die Namen und Kontaktdaten heraussuchen, soweit ich das zusammenbekomme."

    „Ja, das wäre nett, antwortete der junge Polizeibeamte nüchtern. „Eine Frage hätte ich trotzdem noch: Hatte Professor Oehme Probleme?

    Wagenburg verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Probleme? Sie meinen, außer der Tatsache, dass man ihm sozusagen im Handstreich sein Lebenswerk weggenommen hat? Soll das ein Scherz sein?"

    „Nein. Ich meine persönliche Probleme, die schon vor der Mitteilung über die Einstellung des Projektes ersichtlich waren. Frau? Kinder? Alkohol? Streitigkeiten mit anderen Kollegen? Fehlende wissenschaftliche Anerkennung? Geldsorgen?", stellte der Kriminalkommissar seine Frage in ruhigem Tonfall richtig.

    „Nun ja, antwortete Wagenburg nach einer Weile gedehnt, „genaugenommen war fast von jedem etwas dabei. Seine Frau ist gestorben, das ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Ob er Kinder hatte – keine Ahnung. Der Projektfortschritt hat ihn auch nicht zufriedengestellt, denn schließlich musste er die Fördermittel irgendwann anteilig zurückzahlen. Zudem kamen ihm in jüngster Zeit hin und wieder Bedenken, ob seine Arbeit aus ethischer Sicht vertretbar ist.

    „Die einhundert Ratten."

    „Manchmal muss man zu diesem Thema nur den falschen Artikel in der Zeitung lesen. Wagenburg hob die Hände, um die Widrigkeiten, den sie ausgesetzt waren, zu verdeutlichen. „Wenn man da einen schlechten Tag erwischt, kann man schon ins Grübeln kommen. Das hat jeder von uns schon einmal durchgemacht. Der Professor hat mich die letzten Monate ab und an zu einem Feierabendbier überreden wollen, das war früher gar nicht seine Art.

    „Wie haben Sie sich entschieden?"

    Wagenburg zuckte mit den Schultern. „Ich hatte manchmal den Eindruck, er trinkt nach Feierabend. Wegen seiner Frau. Ich wollte dem keinen Vorschub leisten und bin außerdem der Meinung, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Das Fiasko mit dem Projekt hat seine Trinkgewohnheiten sicherlich nicht verbessert. So richtig glücklich hat er auf mich in letzter Zeit nicht gewirkt. Ich meine, ich habe ihn manchmal murmeln hören, dass er alles beenden will, aber ich habe dem nie wirklich eine große Bedeutung beigemessen. Wie man so etwas eben sagt, wenn es mal auf ganzer Linie nicht rund läuft. Ich weiß auch nicht, ob man seine letzte E-Mail wirklich so bewerten sollte, wie sie geschrieben ist."

    Der Kriminalkommissar beugte sich überrascht vor. „Welche letzte E-Mail?"

    Der Mann mit dem blonden Zopf griff in die Brusttasche seines Hemdes, zog einen zusammengefalteten Zettel heraus und reichte ihn zögernd über den Tisch. „Ich dachte mir schon, dass Sie das vielleicht interessieren könnte. Ein Ausdruck von der eben genannten E-Mail. Liest sich, zumindest im Nachhinein gesehen, ein bisschen wie ein Abschiedsbrief. Die E-Mail hat er mir an dem bewussten Abend kurz nach Mitternacht geschrieben. Es ist niemand anderes im Verteiler. Da muss er schon im Labor gewesen sein, weil er seinen Laptop nie mit nach Hause genommen hat. Als ich es am nächsten Morgen gelesen und dann von den Ereignissen erfahren habe, war ich völlig fertig."

    Der junge Kriminalkommissar nahm das Blatt Papier entgegen. Er las es kurz durch, um

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1