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Mr. Neboc: Anno 2039
Mr. Neboc: Anno 2039
Mr. Neboc: Anno 2039
eBook462 Seiten6 Stunden

Mr. Neboc: Anno 2039

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Über dieses E-Book

Anno 2039. Ein Konsortium aus den mächtigsten Firmen und der Regierung der USA hat mehrere baugleiche, unterirdische Städte errichtet - die IDC. Es sind gesicherte Refugien für die finanzielle und geistige Elite des Landes.
Vor Jahren programmierte Paul Mallory im Auftrag dieses Konsortium eine Software. Ihr Ziel: die Übertragung des menschlichen Bewusstseins in das Gehirn eines Klonkörpers - das SKIP-System und die NEBOC-Technologie.
Obwohl man ihn damals überraschend von diesem Projekt abgezogen hat, werden seine Kenntnisse einige Jahre später erneut benötigt. Doch seit seiner letzten Reise in die USA ist viel geschehen, und so entwickelt sich sein Aufenthalt und der neue Job zu einem Albtraum, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum11. Dez. 2019
ISBN9783740703103
Mr. Neboc: Anno 2039
Autor

Oliver Reiche

Oliver Reiche, Jahrgang 1965, arbeitet als Projektleiter in der Bau- und Immobilienbranche. Nebenbei schreibt er Romane oder Drehbücher, betätigt sich als Jugendleiter in einem Fußballverein oder gönnt sich Miniauszeiten in seinem Kleingarten. Er lebt mit seiner Familie in Dresden. Von ihm sind bereits die SF-Kurzgeschichtensammlung `Primus´ sowie die Romane `Outside´ und `Mr. Neboc´ verfügbar.

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    Buchvorschau

    Mr. Neboc - Oliver Reiche

    Für meine Tochter,

    die mir schon vorgelesen hat,

    als sie noch gar nicht lesen konnte.

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Kapitel 1: Ruinen

    Kapitel 2: The only chic

    Kapitel 3: Mr. Neboc

    Epilog 1: Neue Freunde

    Epilog 2: Freiheit

    VORWORT

    Das Konsortium, ein Zusammenschluss der mächtigsten Firmen und der Regierung der USA, ließ eben dort ab dem Jahr 2024 zehn baugleiche, unterirdische Städte errichten – die IDC, die Identical Cities. Der Baubeginn der einzelnen Städte erfolgte zeitversetzt, um aus möglichen Fehlern in der Planung, Logistik oder dem Bauablauf lernen zu können. Die Bauzeit betrug jeweils ungefähr 3 Jahre, während die mittleren Baukosten pro Stadt bei 250 Milliarden Dollar lagen.

    Das Konzept sah vor, dass bei Gefahr über jeder Stadt ein Schutzschild errichtet werden konnte. Da die technische Entwicklung von Schutzschilden bei Baubeginn der ersten drei Städte noch nicht abgeschlossen war, sollten diese im Laufe der Jahre nachgerüstet werden.

    Die IDC wurden, mit Ausnahme der vierten Stadt, immer in der Nähe von Metropolregionen und Gewässern errichtet. Dies sollte die zum Teil notwendige externe Versorgung vereinfachen. Die ungefähre Lage der jeweiligen Städte war in der Bevölkerung allgemein bekannt. Der genaue Standort sowie sämtliche Baupläne unterlagen jedoch der Geheimhaltung.

    Während der Entstehung der gewaltigen Bauwerke bürgerten sich bei der Bevölkerung Namen für die IDC ein, die dann von den eigentlichen Bewohnern mehrheitlich übernommen wurden.

    Mehr Informationen zu den IDC finden Sie am Schluss des Buches.

    1

    RUINEN

    1 - 1

    Unter mir gleiten die Ruinen von New York dahin. Die Continental Wing fliegt, fast so gemächlich wie ein Drache aus einer alten Saga, der nach Beute Ausschau hält, in vielleicht zweihundert Meter Höhe.

    Doch in dieser Welt gibt es nichts mehr zu holen.

    Ich kann von meinem Fensterplatz aus Details der freigelegten Gerippe der ehemaligen Skyscraper erkennen, verrostete Stahlträger, marode Schraubverbindungen oder gerissene Betonwände. Manchmal erhasche ich einen Blick in das trostlose Gebäudeinnere, wo von Plünderern zurückgelassenes, als unbrauchbar eingestuftes Interieur, verrotte Teppiche, verquollenes Parkett und nicht mehr definierbare Dinge schutzlos dem Verfall preisgegeben sind.

    Auch in den Straßenzügen liegen Berge von Müll und Schutt. Der Asphalt ist auseinandergebröckelt, er sieht aus, als wäre ein jahrelanger Krieg über ihn hinweggefegt. Chaotisch aufgetürmte Autowracks bilden kleine Tempel der Verwüstung. Ich bin mir sicher, dass in vielen der völlig demolierten Fahrzeuge noch Menschen sitzen beziehungsweise das, was mittlerweile von ihnen übrig geblieben ist.

    Ich glaube nicht, dass jemals der Versuch unternommen wurde, Ordnung in dieses Chaos zu bringen oder Tote zu bergen. Diese Szenerie bietet nichts, was das Auge erfreut oder gar Hoffnung macht.

    Es ist ein wilder, gespenstischer Anblick, schon am Tag. Ich wage mir nicht vorzustellen, wie unheimlich die Dinge wohl in der Dunkelheit wirken, wenn die Konturen verschwimmen, der Wind seufzend an geborstenen Verstrebungen entlangstreicht, wenn weißlich schimmernde Knochenteile von menschlichen Skeletten unter den Stiefeln knirschen.

    Mitten in der Ödnis, tief unter mir, glaube ich eine Bewegung auf der toten Straße wahrzunehmen, womöglich ein hungriges Tier auf der Suche nach Nahrung, aber vielleicht auch nur ein müder Lichtreflex der Nachmittagssonne, deren Strahlen verbraucht wirken und alt.

    Der stählerne Drache fliegt unbeeindruckt weiter, als sich plötzlich das Gesicht meines fetten Nachbarn, der sich gleich zu Beginn des Fluges als Greg Norman vorgestellt hat, rücksichtlos neben meines drängt. Er hat einen unnormal großen Kopf, wie ein Elefant. Auch er versucht, so viel von den Überresten der geschändeten Stadt zu sehen wie möglich.

    Obwohl ich ihn nicht mag und er in meine kleine Privatsphäre eindringt, überlege ich, ob er möglicherweise Angehörige dort unten hatte. Frau und Kinder, die einen furchtbaren Tod gestorben sind. Angesichts dieser Vermutung beschließe ich, meine persönlichen Belange etwas zurückzustellen, um ihn gewähren zu lassen.

    Dennoch kommt er auf meine Liste mit Personen, die ich nicht ausstehen kann. Es ist eine relativ lange Liste und nur bei wenigen Individuen davon war ich der Ansicht, meine Meinung revidieren zu müssen.

    „Wahnsinn, was?", schnauft er.

    Ich nicke mechanisch als Antwort, lehne mich jedoch trotzdem schutzsuchend in meinen Sitz zurück.

    „Eine Vorwarnzeit von einer Stunde, aber alles umsonst. Er lässt sich schwer in seinen Sessel fallen, um sich gleich darauf die Stirn mit einem Taschentuch abzutupfen, als hätte er sich gerade ausgepowert. „Wahnsinn, wiederholt er. „Wussten Sie, dass der Tsunami eigentlich aus drei großen Wellen bestand? In einem Abstand von ungefähr zehn Minuten? Die erste, die die Häuser an der Küste erreichte, war ungefähr fünfundvierzig Meter hoch und fast dreihundert Kilometer pro Stunde schnell."

    Ich schüttele halbherzig verneinend den Kopf, während ich noch einen Blick aus dem Fenster auf die unter mir dahinziehende Trümmerwüste riskiere.

    „Wie man mittlerweile weiß, war die erste Welle bei der Ozeanüberquerung nur vier oder fünf Meter hoch und ungefähr vierhundert Kilometer pro Stunde schnell. Nur hat das so lange niemanden interessiert, bis eine der Bermudainsel vorgelagerte Überwachungsstation bemerkte, dass etwas im Gange war. Er verschränkt die Hände zufrieden vor seinem prallen Bauch, ganz offensichtlich glücklich damit, dass er mir sein Wissen vermitteln kann. „Aber kein Mensch hat bei der ersten Meldung damit gerechnet, dass sich die Sache zur Katastrophe des Jahrtausends ausweiten würde. Wahnsinn, was?

    Natürlich haben wir in Europa das amerikanische Desaster mitbekommen - immerhin war der Grund dafür, dass ein Teil der Kanareninsel La Palma innerhalb weniger Minuten ins Meer rutschte. Verursacht von einem Seebeben vor achtzehn Monaten.

    „Über vierhundert Hubschrauber, belehrt mich Greg Norman weiter, „sollen mit Filmteams unterwegs gewesen sein. Die Hälfte davon über der Metropolregion New York, der Rest hat sich auf die Küste verteilt. Als die erste Welle auf die strandnahen Skyscraper gekracht ist, heißt es, spritze die Gischt stellenweise bis zu einem Kilometer hoch! Wie ich hörte, betrug die Verlustrate an Hubschraubern über zehn Prozent. Sind entweder in der Luft zusammengeknallt oder im entscheidenden Moment zu niedrig geflogen. Wahnsinn, was?

    Ich versuche mir kurz vorzustellen wie es sein muss, wenn eine derart riesige Wasserwand mit der Geschwindigkeit eines startenden Flugzeuges auf ein Hindernis trifft. Es gelingt mir nicht.

    Während wir beide unseren Gedanken nachgehen, lassen wir die unheilvollen Ruinen zurück und näheren uns schweigend weiter im Tiefflug Philadelphia, dem nächsten geschundenen Ort.

    Doch die wohltuende Ruhe währt nur kurz.

    „Nächste Station Philadelphia, meldet sich mein Sitznachbar erneut. „800.000 Tote direkt in Stadt, wenn ich mich richtig erinnere. Das bedeutet, ein Drittel der Einwohner hat es nicht geschafft, sich innerhalb der Vorwarnzeit zu verpissen, informiert mich Greg Norman. „Was für ein beschissenes Katastrophenmanagement."

    Mit der Empathie des Wichtigtuers scheint es nicht weit her zu sein. So wie er redet glaube ich nun nicht mehr, dass er Familienangehörige in New York verloren hat.

    „Gemessen an den fünf Millionen in New York aber irgendwie nicht besonders viel, legt er emotionslos nach, „auch wenn das nur die Innenstadt betrifft.

    Soweit ich weiß, liegt die Zahl der Toten im Großraum New York bei elf Millionen. Rechnet man die menschlichen Verluste an der Ostküste dazu, Washington, Florida sowie Houston am Golf von Mexiko, kommt man auf fast vierzig Millionen. Eine unfassbare Zahl! Vierzig Millionen Tote in einer Stunde!

    Über diese traurigen Gedanken döse ein, bis mich ein leichter, melodischer und sich wiederholender Ton wieder in die Wirklichkeit zurückholt. Über meinem Kopf blinkt, im gleichen Rhythmus wie das Geräusch, ein kleines rotes Lämpchen. Ein Warnsignal. Mein fetter Nachbar nimmt dies als Anlass, sich eifrig den Gurt über seinen dicken Bauch zu legen. Dann wendet er sich mir zu.

    „Sie haben Philadelphia verpasst."

    In seinem Tonfall schwingt Unverständnis und ein leichter Vorwurf mit. Als hätte ich leichtfertig die Hauptattraktion in einem Vergnügungspark ausgelassen, nur um mir ein Eis zu kaufen.

    „Tja", antworte ich einsilbig, nur um etwas zu sagen.

    „In Washington D.C. und Baltimore sieht es übrigens ähnlich aus, schnauft er. „Wie Sie sich sicherlich denken können, hat der zweite Tsunami der Ostküste den Rest gegeben.

    Zwei Tage nachdem die ersten Wellen Tod und Verwüstung gebracht, als die zurückweichenden Fluten die Überreste ganzer Ortschaften mit ins Meer gezogen hatte, kamen nach und nach die Rettungskräfte, Feuerwehren und Katastrophendienste, um sich einen Weg ins Innere der Städte zu erkämpfen. Dort begannen sie mit ihrer traurigen Arbeit, während bereits einige Tage später die ersten traumatisierten ehemaligen Bewohner auf ihre leergefegten, schlammüberzogenen Grundstücke zurückkehrten.

    Am elften Tag nach der Katastrophe mit La Palma kam es zu einem weiteren heftigen Seebeben im Atlantik, der den zweiten Tsunami verursachte.

    Die Warnung traf, wieder mit einer Vorlaufzeit von einer Stunde, ungefähr zwei Uhr früh an der Ostküste der USA ein. Als man begann, die erschöpften Menschen in ihren provisorischen Behausungen wachzurütteln und zu informieren, blieben noch dreißig Minute Zeit, bis die Flut auf die Küste treffen würde – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, noch mit dem Leben davonzukommen.

    Auch wenn in den Städten nur ein Bruchteil der ehemaligen Bevölkerungsanzahl zugange war, so erschwerten die Dunkelheit, die völlig zerstörte Infrastruktur und die sofort aufkommende Hysterie eine neuerliche Evakuierung.

    „Noch einmal zwei Millionen, die es nicht geschafft haben. Wahnsinn, was?"

    Wenn er noch einmal das Wort `Wahnsinn´ benutzt, schlage ich ihm ins Gesicht.

    „Und so ist es jetzt wie es ist: den Floridazipfel haben sie komplett aufgegeben, King Jax ist verschwunden und wie ich das einschätze, wird das auch nichts mehr. Alle größeren Städte im Golf von Mexiko sind sowieso hinüber, Tallahassee, Corpus Christi, Mobile, Houston, nur noch Ruinen. In New Orleans finden Sie noch nicht einmal mehr Straßen. Und was macht der Staat? Erklärt die gesamte Ostküste und den Golf kurz darauf für gesperrt! 120 Kilometer, vom Strand landeinwärts, für Leute wie Sie und mich nicht mehr betretbar. Eine Schande ist das für die amerikanische Freiheit!"

    Da ich nicht auf seine Äußerung reagiere, beschenkt er mich mit einem misstrauischen Seitenblick. „Außer Sie sind von der Regierung oder irgendeiner speziellen Behörde oder so, da verfügen Sie natürlich über einen Freibrief."

    „Nicht, dass ich wüsste", quäle ich mich zu einer Antwort, während ich darüber nachdenke, was gewesen wäre, wenn die Vorwarnsysteme so funktioniert hätten, wie sie sollten, Dann hätten die Menschen vielleicht drei oder vier Stunden Zeit gehabt, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch es gibt anscheinend nur noch wenige Dinge, die im Zusammenhang mit den USA normal funktionieren.

    „Sie sind doch Europäer, wenn ich mich nicht irre? Was gibt es denn noch Sehenswertes in unserem geplagten Land, das den eminenten Ticketpreis rechtfertigt? Katastrophentourismus?" Die neugierige Stimme von Greg verdrängt die Bilder der Sterbenden und der Zerstörung.

    „Es ist etwas Persönliches."

    Er nickt schwer mit seinem Elefantenschädel. „Familie. Schon klar. Hatten Sie viele Verluste zu beklagen?"

    Dieser Idiot. Als würde er über einen Krieg sprechen. Ich habe keine Verwandtschaft in den Staaten, aber meine persönlichen Verhältnisse oder Beweggründe gehen Greg nichts an. Auch die Tatsachen nicht, dass ich diesen Flug bereits drei Mal hinter mich gebracht habe und mein Helitax nach San Antonio in neunzig Minuten abfliegt.

    Die Continental Wing überfliegt jetzt ein Waldgebiet, danach erstrecken sich ausufernde Industriegebiete bis hin zum Flughafen, der jede Sekunde näher rückt. Endlich. Dann bin ich den dicken Schwätzer los.

    „Ich glaube, wir sind gleich in Charlotte. Höchstens noch zwei Minuten bis zu Landung", sage ich mit fast schon fröhlicher Stimme.

    Die Folgen der beiden Tsunami haben die unbeschädigte Stadt Charlotte zu der Destination mit dem ersten Flughafen im Ostteil der USA gemacht, auf dem man, von Europa kommend, mit einer Continental Wing problemlos landen kann. Es bestanden zwar Überlegungen, von der besseren Infrastruktur in Atlanta zu profitieren, aber die damaligen gewalttätigen Religionsunruhen hatten Teile der Stadt weitestgehend unbewohnbar gemacht – die halbe Stadt verwandelte sich gewissermaßen in eine no-go-Area.

    „Der einzige Flughafen im Osten dieses Landes, auf dem Interkontinentalflüge noch landen dürfen. Begrenzt auf achtundvierzig Stück am Tag, plaudert Greg weiter, als könne er Gedanken lesen. „Macht rein rechnerisch zwei Flugzeuge pro Stunde. Vom Präsidenten höchstpersönlich festgelegt. Wie ich hörte, hat er bei der Fluggesellschaft einen Schwager im Aufsichtsrat sitzen. Vetternwirtschaft vom Feinsten. Wahnsinn, was?

    „Trotzdem, Charlotte ist nicht zu beneiden."

    „Nicht zu beneiden? Es ist die Stadt der Hoffnung! Dort habe ich meine erste Million gemacht. Wahnsinn. War geradezu lächerlich einfach." Er krempelt den linken Ärmel seines Hemdes hoch und zeigt mir eine protzige Armbanduhr. Sie ist vergoldet, rings um das Ziffernblatt ist sie zudem mit einigen kleinen Edelsteinen besetzt.

    „Eine Marsmaster, limitiere Auflage. Am anderen Arm schleppe ich eine Lloyd Jackmann 98 mit mir herum. Wahnsinn, was? Der Gewinn von einer Woche harter Arbeit, sauber investiert in unvergängliche Werte!"

    So verschieden können die Blickwinkel sein: Ich kenne Charlotte als die Stadt der Verzweifelten. Ein Teil der durch die Katastrophe Entwurzelten und Vertriebenen blieben in Charlotte hängen, nach Pittsburgh im Norden eine der größeren Städte im Speckgürtel der Ostküste. Auch der nationale Katastrophenschutz hatte hier nach dem Unglück sein Lager aufgeschlagen, während Leute von überall aus den USA anreisten auf der Suche nach vermissten Angehörigen.

    In der Summe bescherte dies der Stadt einen Boom: sie explodierte praktisch über Nacht von einer Million auf vier Millionen Einwohner. Wie es aussieht, hat Greg Norman davon profitiert.

    Ein gedämpfter Glockenschlag kündigt an, dass der Pilot einige Worte an die Passagiere richten möchte. „Sehr geehrte Passagiere, wir werden in wenigen Sekunden sicher auf amerikanischem Boden landen, um fünfzehn Uhr zehn Ortszeit. Wir bitten darum, dass alle Passagiere, die einen Weiterflug innerhalb der nächsten drei Stunden gebucht haben, ausschließlich die roten Shuttleplattformen nutzen. Der Mann spricht wie ein Conférencier, der eine exquisite Solonummer ankündigt. „Alle anderen Passagiere begeben sich bitte auf die blauen Plattformen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.

    Die mich umgebenden Passagiere nehmen die Ansage anscheinend emotionslos zur Kenntnis, während ich über das soeben gesagte nachdenke. Die Vorgehensweise entspricht nicht der üblichen Prozedur. Es kann ein Dutzend Gründe dafür geben, aber mich beschleicht der Verdacht, dass mir keiner davon gefallen wird.

    Als würde sie mich beruhigen wollen, landet die Continental Wing sicher und sanft, wie eine Daunenfeder.

    1 - 2

    Während das Flugzeug sich eine Andockstelle sucht, verlöschen die kleinen roten Lämpchen im Kabinendach. Die Passagiere beginnen aufzustehen und ihr Handgepäck zu suchen, jeder in der sinnlosen Hoffnung, das Flugzeug als Erster verlassen zu können.

    Ich reise leicht. Ich führe, außer einem fast schon winzigen Rucksack und einem biokompatiblen Speichermodul, nichts mit mir.

    Direkt nach Verlassen des Flugzeuges packt mich die Hitze. 35 oder 40 Grad mögen es sein, eine erbarmungslose Septemberglut, die die Haut auszehrt und die Luft überall zum Flirren bringt. Ich möchte so schnell wie möglich wie die Kühle meiner Kabine zurück, doch hinter mir drängen schon die anderen Passagiere ins Freie.

    Ein Stück neben dem unteren Ende der Gangway warten bereits die Shuttleplattformen. Sie schweben völlig ruhig nur wenige Zentimeter über dem grauen Betonboden, während ein paar Angestellte Passagiere einweisen oder geduldig Fragen beantworten.

    Ich suche mir eine rote Plattform und bin froh, diese nur mit einem Dutzend anderer Passagiere teilen zu müssen. Auf einer anderen roten Plattform entdecke ich Greg Norman, der sich angeregt mit einem Mann unterhält, der von der Statur her sein Zwilling sein könnte. Gleich und gleich gesellt sich gern.

    Eine Stewardess gibt, weit über uns an der Kabinentür des Flugzeuges stehend, dem Bodenpersonal ein vereinbartes Zeichen – offensichtlich befinden sich keiner der einhundertvierzig Passagiere mehr an Bord. Die Maschine war, trotz der unglaublich teuren Tickets, komplett ausgebucht. Fensterplätze sind besonders kostenintensiv – glücklicherweise musste ich mein Ticket nicht selbst bezahlen.

    Sekunden später schweben die roten und blauen Shuttleplattformen lautlos in entgegengesetzte Richtungen davon, getragen wie von Zauberhand.

    Das Terminal, in das die rote Plattformen uns bringen, liegt fast ausgestorben vor uns, ein seltsamer wie beunruhigender Kontrast zum emsigen Treiben auf dem gesamten restlichen Flughafengelände.

    Insgesamt mögen es ungefähr achtzig Personen sein, die darauf hoffen, dass man ihnen erklärt, was eigentlich los ist. Wir müssen nicht lange warten. Ein großer Schwarzer, der mich an einen Schauspieler erinnert, tritt durch eine der Milchglastüren. Er trägt einen eigenwilligen beigefarbenen Anzug, baut sich vor uns auf und räuspert sich kurz. Sofort hat er unsere Aufmerksamkeit.

    „Mein Name ist Marc Wellington, ich bin der Flughafensprecher. Ich bin beauftragt, mich um Ihre Angelegenheiten zu kümmern. Wir möchten uns zuerst bei Ihnen für die bislang entstandenen, respektive möglicherweise noch entstehenden Unannehmlichkeiten entschuldigen."

    Der zweite Teil seines Satzes klingt nicht gut. Irgendetwas liegt in der Luft.

    „Es hat auch keinen Zweck, lange darum herumzureden: Die Regierung der Vereinigten Staaten hat bis auf weiteres alle Inlandflüge gestrichen."

    Der Mann namens Wellington rudert mit den Armen in dem Versuch, das nach einer Schrecksekunde sofort aufkommende Stimmengewirr sowie die Unmutsäußerungen zu beschwichtigen.

    „Uns ist klar, dass Sie alle zu verschiedenen Destinationen unterwegs sind, Termine haben, Verabredungen einhalten wollen und dergleichen. Ich kann Ihnen versichern, wir arbeiten mit Hochdruck an einer Lösung. Ihr Reisegepäck erhalten Sie natürlich umgehend."

    „Das ist ja reizend, poltert die tiefe Stimme von Greg, „seit wann wissen Sie das denn?

    Der Schwarze wendet sich mit ausdrucklosem Gesicht an Greg Norman. „Seit etwas über einer Stunde. Es kam für alle hier vollkommen überraschend."

    Eine attraktive junge Frau in einem feuerroten Kleid drängt sich in den Vordergrund. Warum hat man uns das nicht schon im Flugzeug mitgeteilt?

    „Das war Bestandteil unserer Überlegungen. Wir haben uns dagegen entschieden, um die Ruhe und Ordnung an Bord zu bewahren. Außerdem, sagt der Schwarze, während er sich ein wenig vorbeugt, „was hätte Ihnen diese Information genutzt? Die Continental Wing wäre in jedem Fall in Charlotte gelandet. Gleichwohl hätten Sie während des Fluges auch niemanden informieren dürfen.

    „Wer bezahlt den Mehraufwand?", fragt eine jugendlich klingende Stimme, die ich keiner Person zuordnen kann.

    „Sämtliche Kosten werden von uns, respektive der Regierung übernommen. Möglicherweise erhalten Sie auch ein zusätzliche Entschädigung."

    „Warum wurden die Inlandflüge gestrichen? Und warum so plötzlich?" Eine Frau von ganz hinten.

    „Leider kann ich Ihnen weder die eine noch die andere Frage beantworten. Ich bin jedoch sicher, dass die entsprechenden Stellen in Kürze Licht in die Angelegenheit bringen werden. Der Schwarze lockert seinen Krawattenknoten, dann lächelt er verschwörerisch. „Jedwede Information darüber geben wir selbstverständlich umgehend an Sie alle weiter.

    Ein Mann mit sonnengebräunten Gesicht und perfekt sitzendem Anzug tritt einen Schritt vor, während er die Arme vor der Brust verschränkt. „Was ist, wenn ich eine private Maschine chartere und den Piloten überrede, mich von A nach B zu fliegen?" Der Kerl sieht aus, als könnte er sich diese Nummer leisten.

    Der Flughafensprecher blickt den Mann an, als ob er an dessen geistiger Gesundheit zweifelt. „Die Anordnung der Regierung erstreckt sich auf sämtliche Luftfahrzeuge. Somit wären auch Kleinflugzeuge oder Hubschrauber von Privatpersonen betroffen. Sie riskieren also, von irgendeiner Bodenstatio abgeschossen zu werden." Eine nette Abfuhr, und das vor allen Leuten.

    Ein grauhaariger, kräftiger Mann hebt kurz erlaubnisheischend die Hand, fängt dann aber sofort an zu sprechen. „Können Sie uns schon sagen, an was Sie als Lösung denken?"

    „Ja. Momentan werden Fahrzeuge für drei Routen organisiert. Die erste Route umfasst Nashville, Birmingham, Atlanta, die anderen zwei Routen geht hoch nach Cincinnati und Pittsburgh, beide Mal über Charleston, wo sie sich teilen. Über mehr und weitreichendere Optionen wird zur Stunde noch diskutiert."

    Das Gemurmel wird lauter. Offensichtlich stellen die angebotenen Lösungen die Gruppe mehrheitlich nicht zufrieden.

    „Bullshit, dröhnt wieder die Stimme meines Sitznachbarn. „Und wie komme ich nach Portland? Mit dem Taxi?

    Wenn Greg Norman Portland an der Westküste meint, hat er in der Tat noch ein ganzes Stück Weg vor sich.

    „Und nach San Diego? Was bitte wird aus meiner Vorstandssitzung?"

    „Was ist mit Kansas City? Warum fahren die Konvois nicht wenigstens bis dahin?"

    Gute Frage. Nächste Frage.

    „Ich muss morgen 10.30 Uhr in Cedaredge sein. Die Hochzeit meiner Schwester."

    Wo, verdammt, liegt Cedaredge?

    Der Mann im beigefarbenen Anzug hebt beide Hände und gestikuliert, was die Lage nicht wesentlich verbessert. Ein plötzlicher, scharfer Pfiff, mitten aus der Menge abgegeben, bringt schließlich die erwünschte Wirkung. Alle Augen wenden sich wieder dem großen Schwarzen zu.

    „Bitte beruhigen Sie sich. Zuerst möchten wir an die appellieren, denen die Routen der Konvois etwas nutzen. Wie bereits gesagt, Atlanta und Nashville, Cincinnati über Lexington, Pittsburgh. Wir versuchen, jede Destination im Umkreis von 500 – 600 Kilometern abzudecken. Sicherlich ist es möglich, von den jeweiligen Standorten Anschlussfahrten zu organisieren, sollte Ihr Ziel abweichen. Wir bitten alle die es betrifft, durch die rechte Glastür zu gehen. Dort wird man alles Weitere mit Ihnen besprechen."

    Die Leute stecken ihre Köpfe zusammen und beraten sich, während der Schwarze unvermittelt sein Comm aus der Hosentasche nimmt, um dann leise, mit abgewandtem Gesicht, auf einen Anruf zu reagieren.

    Ich muss immer noch nach San Antonio, wobei ich, wie ich gerade erfahren habe, das Helitax vergessen kann. Die Mitfahrgelegenheit nach Nashville über Birmingham verkürzt die Strecke zwar um 500 Kilometer, trotzdem bleiben eintausend Kilometer übrig. Völlig inakzeptabel. Ich bin gespannt, was man mir als Lösung anbietet.

    Schließlich verlässt, einzeln und in kleinen Gruppen, ungefähr die Hälfte der Anwesenden das Terminal durch die rechte Glastür. Unter ihnen befindet sich auch der Greg Norman. Lebe wohl, Fettsack.

    Die verbliebenen Personen sehen sich ratlos an. Wie es aussieht sind wir von den einhundertvierzig Passagieren der Continental Wing diejenigen, die jetzt irgendwie in der Luft hängen wie bestellte und nicht abgeholte Ware.

    Der Schwarze hat mittlerweile sein Comm wieder verstaut und sieht uns prüfend an. „Befindet sich ein Paul Mallory unter Ihnen?"

    Mit der Frage habe ich nicht gerechnet, trotzdem hebe ich pflichtschuldig die Hand.

    „Ah. Der Schwarze lächelt. „Sie werden bereits erwartet. Wenn Sie durch diese Tür gehen…. Er zeigt auf eine stählerne Tür mit dem Logo des Flughafens darauf.

    Ich bin überrascht. Bei keinem meiner letzten drei Besuche habe ich eine derart bevorzugte Behandlung genossen. Doch offensichtlich haben sich die Umstände nun dramatisch in einer Art und Weise verändert, die diese Maßnahme sinnvoll erscheinen lässt. Mir kann es recht sein, es erspart mir hoffentlich eine Menge Ärger und Zeit.

    Ich nicke Marc Wellington zu, gehe an ihm vorbei und öffne die mir genannte Tür. Ein kleiner, völlig schmuckloser Raum liegt vor mir, ähnlich einer Schleuse, in dem lediglich ein winziger Tisch sowie zwei Stühle stehen. Auf einem der Stühle sitzt ein Mann, der sich bei meinem Eintreten erhebt. Ein bulliger Typ mit dem Gesicht eines Boxers. Lange, strähnige Haare, humorlose Augen. Er ist vielleicht 1,95 Meter groß und um die siebzig Jahre alt. Er scheint noch gut im Saft zu stehen. Ich habe den Mann nie zuvor gesehen.

    Es ist, als schüttele man einem Grizzlybär die Pfote.

    „Lou Parkins."

    Das passt zu ihm. Lou der Bär.

    „Paul Mallory."

    „Willkommen im Land der unerwarteten Möglichkeiten."

    Sein Sarkasmus ist unüberhörbar, aber ich reagiere nicht darauf. „Wer schickt Sie?"

    „Genaugenommen Buzz Anderson, mein Chef. Aber der Name, den Sie vermutlich hören wollen, lautet Vince Dunningham, Ihr Kontakt. Er ist der Chef von jemanden, der der Chef von meinem Chef ist."

    Ich nicke zufrieden und erlaube mir ein kleines Lächeln. Aber es hält nicht lange.

    „Ihre Weiterreise nach San Antonio entfällt, beziehungsweise der komplette Standort. Das behalten Sie aber bitte für sich. Es gibt einen neuen Treffpunkt. Ich bringe Sie dort hin. Wo genau `dort´ ist, sage ich Ihnen unterwegs. Ab sofort bin ich Ihr Begleitschutz. Sie können mich gern unterwegs alles fragen, was Ihnen am Herzen liegt."

    Auch wenn mir der Inhalt nicht gefällt, schätze ich doch die klare Wortwahl. Ich bin ein Freund von kurzen präzisen Aussagen. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich geschwätzige Leute wie Greg Norman nicht mag.

    „Führen Sie Gepäck mit sich?"

    „Nur das hier." Ich hebe den mickrigen Rucksack ein wenig in die Höhe.

    „Hm. Er schiebt überrascht die Unterlippen vor. „Haben Sie Dinge im Depot verstauen lassen, die Sie noch benötigen? Ihre Waffe zum Beispiel?

    „Nein."

    „Sonst irgendetwas?"

    Was auch immer er damit meint. „Nein."

    „Gut. Dann erledigen Sie den Einreise-Papierkram und besorgen sich erst einmal eine Waffe. Ich warte in der Cafeteria, ich brauche einen Kaffee. Bin seit vier Uhr auf den Beinen und gestern spät ins Bett. Vertrödeln Sie nach Möglichkeit nicht zu viel Zeit. Und vergessen Sie nicht: offiziell wollen Sie immer noch nach San Antonio."

    Ich muss lächeln. Kein Mensch benutzt heutzutage noch das Wort `Papierkram´.

    1 - 3

    „Identifizieren Sie sich!" Die Stimme des Wachpostens klingt ungefiltert und klar durch den Helm, ebenso wie der strenge, befehlsgewohnte Tonfall an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Er hält mir ein kleines Kunststoffpaneel entgegen, dafür bestimmt, meine rechte Hand darauf zu legen. Ich presse widerspruchslos meine Hand auf das violett leuchtende Feld. Ein leises Piepsen ertönt als Signal, dass mein Identifikationsring aktiviert wurde, womit meine Daten ins System wandern.

    Der Wachposten nickt bestätigend.

    „Was ist der Grund Ihres Aufenthaltes?"

    Diese Frage entlockt mir ein innerliches Grinsen. Jeder, der das Territorium der Vereinigten Staaten betreten möchte, muss einen achtseitigen Fragebogen ausfüllen. Dieser beinhaltet derartig viele Informationen zu einer Person, dass er einem nahezu lückenlosen Lebenslauf von der Geburt bis zum heutigen Tag und noch eine Zeit lang in der Zukunft gleicht. Die Frage nach dem Grund des Aufenthaltes trägt der Absatz drei des Fragebogens ausführlich Rechnung. Ich weiß das so genau, weil ich mich zu Hause an meinem Schreibtisch eine Weile gequält habe, um möglichst passende Aussagen zu liefern.

    „Ich bin Informationsarchitekt. Ich weiß, wie das klingt, weil ich bei dieser Aussage oft verständnislose Blicke ernte. Deshalb helfe ich dem Wachposten auf die Sprünge. „Datenverarbeitung, Künstliche Intelligenz, so etwas. Ich kann eine Einladung zu einem Network-Symposium in San Antonio vorweisen. Position drei des Fragebogens. Ein bisschen unwohl ist mir schon, denn in gewisser Weise lüge ich den Wachposten an, auch wenn mir das erst seit zehn Minuten klar ist.

    Der Posten lässt sich die Daten meines Fragebogens in das Innere seines Helmes einspiegeln, um den Wahrheitsgehalt meiner Angabe zu prüfen. Schließlich ruckt der Helm mit der schwarzen Frontblende, die einen Blick ins das Gesicht des Mannes unmöglich macht, ein paar Zentimeter in meine Richtung.

    „Ich belehre Sie hiermit, dass Sie, solange Sie sich auf dem Territorium der Vereinigten Staaten aufhalten, zu jedem Zeitpunkt zum Tragen einer Schusswaffe verpflichtet sind. Davon ausgenommen sind private Räume und extra ausgewiesene Zonen, wie zum Beispiel dieses Flughafengebäude. Es werden zu diesem Zweck regelmäßige Überprüfungen durchgeführt. Wird ein Verstoß festgestellt, wird dieser mit einer Geldstrafe geahndet. Beim dritten Verstoß erfolgt die Ausweisung aus den Vereinigten Staaten. Die dafür notwendigen Geldmittel werden Ihrer hinterlegten Kaution entnommen. Bestätigen Sie die Belehrung bitte verbal. Weigern Sie sich, erfolgt die sofortige Ausweisung."

    Die Amerikaner lassen nichts anbrennen.

    „Ich bestätige die Belehrung."

    Ich überlegte, wie oft am Tag er diese Sätze wohl von sich gibt. Natürlich weiß ich um das Prozedere. Außerdem hat man definitiv auf keinem der sich noch in Betrieb befindlichen drei europäischen Großflughäfen eine Möglichkeit, die entsprechenden Hinweisschilder zu übersehen.

    Allerdings musste ich von der Regelung des unbedingten Waffenbesitzes noch nie Gebrauch machen. Ich fliege normalerweise einfach von einem Flughafen zum nächsten, wo zum Schluss ein Helitax bereitsteht, das mich an mein Ziel bringt. Das bedeutet, ich bewege mich immer in privaten Räumen oder extra ausgewiesenen Zonen.

    „Ich übergebe Ihnen für die Dauer Ihres Aufenthaltes ein Comm zur Nutzung. Es enthält zwei Notrufnummern, ist nicht absperrbar und Sie können damit ausschließlich innerhalb Amerikas telefonieren. Sämtliche Gespräche werden aufgezeichnet."

    Der Wachposten entnimmt einer Halterung neben ihm umständlich ein kleines Telefon, um es mir in die Hand zu drücken. Dann hebt seinen gepanzerten Arm, um damit in eine Richtung zu zeigen. „Sie führen keine Waffe mit sich und es wurde keine auf Ihren Namen deponiert. Bitte begeben Sie sich daher unverzüglich zum Waffenraum, wo Sie eine Waffe erwerben. Immer der roten Linie entlang. Weichen Sie nicht von dieser Linie ab. Ausdrücklich untersagt ist das Folgen der gelben oder grünen Linie, was zur sofortigen Ausweisung führen kann."

    Er klebt mir einen altmodischen roten Sticker auf den rechten Ärmel, bevor er sich brüsk abwendet.

    Der Papierkram ist damit wohl erledigt.

    Ich folge der breiten roten Linie auf dem Fußboden, die durch einen verhältnismäßig engen Gang verläuft. Vor mir geht eine Familie mit zwei kleinen dicken Kindern, hinter mir ein junger Mann, der mich nervös ansieht, als ich mich zu ihm umdrehe. Unsere Schritte hallen in einem immer wiederkehrenden Rhythmus durch den Gang. Nach einer Weile zweigt erst der grüne Pfad in einen anderen Gang ab, dann der gelbe, dem sowohl die Familie als auch der junge Mann folgt.

    Ich bin allein, was aber so wiederum auch nicht stimmt. In regelmäßigen Abständen hängen Kameras an der Decke, die jede Bewegung aufzeichnen. Sie sind demonstrativ auffällig angebracht, wie ein wenig dezenter Hinweis, den Anordnungen unbedingt Folge zu leisten.

    Nach zwei Biegungen schließlich endet die rote Linie an einer stählernen Tür, die sich automatisch öffnet, als ich mich ihr nähere.

    Eine füllig ältere Frau mit einer riesigen Hornbrille und aufgedunsenem, rotfleckigem Gesicht kommt mir mit watschelnden Schritten entgegen. Im Gegensatz zu den militärischen akkuraten Uniformen des Wachpersonals besteht ihr Äußeres aus bunt zusammengewürfelten Kleidungsstücken. Über ihrer ausladenden linken Brust hängt ein kleines, altmodisches Namensschild. Offensichtlich heißt sie Loretta De Lima. Merkwürdiger Name, finde ich, der überhaupt nicht zu ihr passt, unter anderem, weil sie kein bisschen so aussieht, als hätte sie südländische Wurzeln. Sie wirkt eher wie eine Alkoholikerin, die sich zufällig in der falschen Gegend aufhält. Sie sieht mich neugierig an, als wäre ich ein seltener Käfer. In gewisser Hinsicht mag das sogar stimmen, mehr noch als bei ihr selbst. Ihrem Blick kann ich jedoch nicht entnehmen, was sie denkt.

    „Oh, jemand aus dem alten Europa, sagt sie leidenschaftslos, als sie meine Einreisezertifizierung auf ihrem Paneel geprüft hat. „Und keine Waffe deponiert, nichts. Arglos wie ein Säugling. Herrgott, ihr von drüben denkt wahrscheinlich, es wird schon irgendwie gehen ohne Waffe. Die Statistiken aber sagen etwas anderes, und nur wenn man schnell und präzise reagiert hat man eine Chance, teilt sie mir ihre geneigte Einschätzung mit. „Vielleicht."

    Sie dreht sich um und geht bis zur Mitte des fensterlosen, achteckigen Raumes, wo sie mit einer großzügigen Rundumbewegung meine Aufmerksamkeit auf Schaukästen an den Wänden lenkt, in denen dutzende Waffen schlummern.

    „Was soll es denn sein, junger Mann? Nahkampf oder Reichweite? Bevorzugen Sie Energieimpulsprojektile, dann ist eine CEPW500 die richtige Wahl. Oder sollten es herkömmliche Patronen sein? Splittgeschosse? Großkaliber? Sollen Ihre Schüsse automatische an die Polizei gemeldet werden oder nicht? Wieviel Ersatzmagazine können Sie normalerweise mit sich tragen? Möchten Sie die jeweilige Luxusausführung, ein Premiummodell, oder ist eine Standardwaffe ausreichend? Sind Sie allein unterwegs oder mehr in einer Gruppe? Wenn letzteres, empfehlen wir eine Kommunikationseinheit mit zu erwerben. So wissen Sie immer, über welche Munition die anderen Teilnehmer der Gruppe noch verfügen."

    Ich verstehe das nicht. Es klingt, als müsste ich in den Krieg ziehen und benötige daher einen adäquaten Schutz. Dabei bin ich zwei Jahre vor dem Tsunami das letzte Mal in den Staaten gewesen, da erschien mir die Lage noch halbwegs normal.

    „Eigentlich möchte ich nur zu einer Konferenz, bleibe dort ein paar Tage und fliege schließlich zurück. Keine große Sache."

    „Das mit dem fliegen hat sich ja nun erledigt, stellt sie nüchtern fest. „Umso wichtiger ist die richtige Wahl der Waffe. Sie betrachtet mich mit einem prüfenden, fast schon geringschätzigen Blick. „Sie sind der Typ für eine Energieimpulswaffe. Einfach in der Handhabung, durch das Carbon wenig Gewicht. Jedes Magazin 500 Schuss. Bei der Luxusausführung gibt es eine Doppelfunktion. Soll heißen, Sie können die zur Verfügung stehende Energie einer Ladung für ungefähr zwanzig Sekunden als Laser mit kurzer Reichweite nutzen. Den Laser können Sie in der Intensität verstellen, ergibt bei Höchstlast eine tolle Schneidwirkung und ist im Nahkampf auch nicht zu verachten. Das reicht, um einen Arm abzutrennen."

    „Ich wüsste nicht, wo ich in einen Nah…"

    „Sie sind nicht in Europa. Besser ist doch, man ist vorbereitet und benötigt die Waffe nicht, als anders herum. Hin und wieder tauchen Leute auf, die nicht besonders zimperlich sind, wenn sie etwas wollen. Mit guten Worten oder einem schlauen Spruch kommen Sie da nicht weiter. Keine Ahnung, wie Sie nach San Antonio kommen oder welche Umwege Sie nehmen, aber zum Beispiel der Yellowstone hat ein paar Gegenden in ziemlich finstere Ecken verwandelt. Eine Einladung für jeden Wegelagerer. Ich an Ihrer Stelle würde lieber ein

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