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Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12): Mystery-Serie
Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12): Mystery-Serie
Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12): Mystery-Serie
eBook400 Seiten4 Stunden

Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12): Mystery-Serie

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Über dieses E-Book

Die spannende Fortsetzung der mehrfach ausgezeichneten Mystery-Serie "Darkside Park"! In dieser zweiten Edition findest du die nächsten sechs Folgen der Serie "Porterville" in einem Band: "Götterdämmerung" (Hendrik Buchna), "Die Chronistin des Bösen" (Anette Strohmeyer), "14 Sekunden" (Simon X. Rost), "Projekt Zero-Zero" (John Beckmann), "Der Hudson-Code" (Raimon Weber) und "Das Draußen" (Raimon Weber).
SpracheDeutsch
HerausgeberIvar Leon Menger
Erscheinungsdatum10. Okt. 2013
ISBN9783942261579
Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12): Mystery-Serie

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    Buchvorschau

    Porterville (Darkside Park) Edition II (Folgen 7-12) - Raimon Weber

    Menger

    Folge 7

    „Götterdämmerung"

    Hendrik Buchna

    Prolog

    „Ich fühle, wie ein Lächeln meine Lippen umspielt. Ich stehe wieder näher am Fenster und blicke hinunter auf die dunklen Straßen von Porterville. Die Stadt, die ich so sehr hasse … und doch so sehr liebe. Vom ersten Augenblick an hat sie mich in ihren Bann gezogen. Der schillernde Turm aus Kristall, die Trolle aus Stein, der grüne Kobold. Ich kichere, denn heute weiß ich, was es mit all den Dingen auf sich hat."

    Eleanor Dare-Sato

    Porterville, Jahr 0048

    - 1 -

    Dreißig Sekunden nach dem Ereignis

    Verstört irrlichtert Martin Preys Blick in der Crenlynn-Kammer umher, streift die erschütterte Madam Secretary und ihren kreidebleichen Mann Randolph, den blondmähnigen Football-Fan, dessen Zahnpasta-Lächeln einer Grimasse des Schreckens gewichen ist, meinen Leibwächter Clark, der jetzt mitten in der Bewegung erstarrt und vom bluttriefenden Attentäter ablässt, und richtet sich schließlich auf mich. Seine bebende Stimme ist von Angst und Fassungslosigkeit verzerrt.

    „Ich verstehe nicht. Wo … wo sind wir?"

    Törichter Narr. Nicht das Wo ist es, das alle bis ins Mark erschüttert, sondern das Wann

    Auch meine Selbstbeherrschung erlischt wie eine Kerze im Sturmwind, als mir die brachiale Tragweite der vier digitalen Ziffern auf der Datums-Anzeige bewusst wird:

    1584

    „Transfer beendet", verkündet die Computerstimme aus den beiden Lautsprechern, und mit einem hellen Piepton schaltet sich der Außenmonitor wieder ein.

    Doch da draußen ist … nichts.

    Nichts außer dichten, weißen Schwaden.

    Keine Welt. Kein Sein.

    Nur Nebel.

    „Oh, mein Gott …"

    Es waren meine Lippen, die diesen Satz formten, doch sie erscheinen mir fremd und fern.

    Es gibt kein Vokabular, das dieser Katastrophe gerecht werden könnte. Jeder Begriff, jeder Versuch einer Bezeichnung muss im Angesicht allumfassender Endgültigkeit in sich zusammenfallen.

    Ein Käfer kann den Mond vom Himmel stürzen sehen, doch er vermag es nicht in Worte zu fassen.

    Genauso fühle ich mich in diesem Augenblick. Jeder Sprache beraubt.

    Und dennoch existiert in der Terminologie unserer Wissenschaftler ein unscheinbares Akronym, das dem Unfassbaren, dem Undenkbaren einen Namen verleiht: LIT

    Lost in time

    - 2 -

    Eine Minute nach dem Ereignis

    Verloren in der Zeit.

    Gestrandet in einer Vergangenheit, aus der es keine Rückkehr mehr gibt.

    Selbst wer nur vage mit den Einzelheiten unserer Historie vertraut ist, wird ein bestimmtes Datum nie aus dem Gedächtnis verlieren, weil es mit der Muttermilch aufgesogen wurde:

    25. Mai 1727

    An jenem Tag, 150 Jahre vor der glorreichen Gründung von Porterville, nahm inmitten eines ausgedehnten Waldgebiets von Maryland die unterirdische Retro-Basis ihre Arbeit auf und löste damit die riskante Praxis der singulären ‚Chrono Jumps‘ ab. Es war die Geburtsstunde der Crenlynn-Kammer, die seither für bis zu dreißig Personen gleichzeitig einen fest fixierten, sicheren Transfer zwischen Zukunft und Vergangenheit ermöglicht. Ein Zeittunnel, der klaren Gesetzmäßigkeiten und unumstößlichen Konstanten unterliegt. Die ersten beiden Regeln sind gleichzeitig die wichtigsten:

    Der Ursprung markiert die Grenze.

    Die Grenze darf nicht überschritten werden.

    Wer bei einem Zeitsprung über diesen Punkt, den 25. Mai 1727, dennoch hinaustritt, kehrt nicht mehr zurück.

    Der Grund ist denkbar einfach: Die Crenlynn-Kammer benötigt an beiden Enden des Tunnels eine Basis, deren Technik den Transfer erst ermöglicht. Wird die Kammer infolge eines Unfalls oder menschlichen Versagens in eine Zeit vor Errichtung der Basis geschleudert, ist sie unrettbar verloren. Ohne auffangenden Hafen, den Timeport, gäbe es keinerlei Möglichkeit, ihre Ankunft zu koordinieren. Die Crenlynn-Kammer würde wie ein riesiger Metallsarg aus dem Zeittunnel gespuckt werden und mitten im Nirgendwo der endlosen Wälder einschlagen.

    Aufgrund des vollständigen Verbindungs- und somit auch Daten-Abbruchs hätten unsere Spezialisten aus der Zukunft keine Chance, den genauen Zeitpunkt der Strandung zu ermitteln. Und da vor 1727 das Kammer-System noch nicht existiert, könnte man keine Rettungs-Teams, sondern nur vereinzelte ‚Jumper’ auf gut Glück in zufallsgewählte Zeitzonen schicken. Sinnloser Aktionismus. Genauso gut könnte man versuchen, ein verlorenes Reiskorn in der Sahara wiederzufinden.

    Im Laufe all der Jahrhunderte ist es nie zu einem solchen Unglück gekommen. Ein derartiger Fall galt angesichts der perfekten Technik als rein hypothetisch.

    Bis heute.

    Erneut blicke ich auf die unerbittliche Datums-Anzeige. 1584.

    Wir haben den ‚Punkt ohne Wiederkehr’ um mehr als 140 Jahre überschritten. Statt von 2011 aus in die Zukunft zu reisen, sind wir durch die Folgen des Attentats in den Schlund der Vergangenheit gestürzt.

    Das zentralste aller Gesetze wurde gebrochen. Über die Schuld der Delinquenten besteht kein Zweifel. Eine Verhandlung geschweige denn Verteidigung wird nicht gewährt. Das Urteil steht längst fest und wird vom Hohen Gericht der Physik verhängt: die Todesstrafe.

    Wahlweise vollstreckt durch wilde Tiere oder indianische Nomadenstämme, die diese Gegend durchstreifen.

    So oder so – wir werden alle sterben.

    Wieder ertönt die Computerstimme.

    „Willkommen in Porterville!"

    Nur drei Worte. Unscheinbar. Alltäglich.

    Und doch ändern sie alles.

    Dieser kurze Satz ist es, der den Schalter in mir umlegt und mich aus meiner Starre reißt. Wie ein gleißend weißer Sturzbach spült mich die Erkenntnis zurück in die Wirklichkeit.

    Plötzlich ist mir alles klar.

    Würde das Datum stimmen, hätte uns der Bordcomputer gerade unmöglich willkommen heißen können. Im Jahr 1584 gab es keine Basis, die unserer Crenlynn-Kammer das Ankunftssignal hätte senden können. Auch der Schott-Mechanismus würde nicht funktionieren, weil es keine Zentrale gäbe, die den Autorisierungsprozess einleitet. Nichts würde um uns herum existieren.

    Da die Kammer aber immer noch fest in ihrem Gefüge ruht und die gesamte Elektronik, mit Ausnahme des ausgelösten Druckabfalls, tadellos zu funktionieren scheint, ist die Lage klar: Der Attentäter hat durch die heftige Rückkopplung des Strikers einen Systemabbruch hervorgerufen, der uns über eine Reversionsschleife wieder an unseren Startpunkt im Jahr 2011 versetzte. Dabei ist offensichtlich die Datums-Anzeige kollabiert.

    Benommen blicke ich mich um. Im austretenden Dampf der überhitzten Kühl-Aggregate schimmern die kreidebleichen Gesichter der Passagiere wie geisterhafte Schemen. Immer noch starren sie entsetzt auf das Datums-Display. Wütend stelle ich fest, dass auch mein Leibwächter komplett von der Situation gefangen ist. Der Vollidiot hat endgültig von dem Angreifer abgelassen und stiert wie die anderen auf die grün blinkenden vier Zahlen, während das beschädigte Außenschott sich nur millimeterweise öffnet.

    Erst jetzt bemerke ich, dass es sich bei dem Überwältigten um einen Asiaten handelt. Vom Gesicht ist nicht mehr viel zu erkennen; Clark hat den Typen ziemlich bearbeitet. Falls er überlebt, wird das allerdings seine geringste Sorge sein. Dieses gottverfluchte Schlitzauge hätte uns mit seiner Kamikaze-Aktion beinahe umgebracht!

    Ich zögere und versuche, mich an den Moment zu erinnern, bevor das Chaos losbrach. Und schlagartig wird mir bewusst, dass es diesem Scheißkerl überhaupt nicht um die anderen ging. Er schrie meinen Namen, als er seinen Striker aktivierte. Das Ganze war ein eiskalt geplanter Mordanschlag! Fast nötigt mir die Tollkühnheit des durchgeknallten Reisfressers Respekt ab. Er hat es tatsächlich gewagt, sich des schwersten aller Vergehen schuldig zu machen: ein Attentat auf den Lordgouverneur des Temporalprotektorats Porterville. Bürgermeister Angus Hudson.

    Mich.

    Erneut lodert greller Zorns in mir auf, doch er gilt nicht dem blutenden Klumpen auf dem Stahlboden, sondern der Sicherheitsabteilung. Wie, zum Henker, war es möglich, dass ein Bewaffneter es durch die Kontrollen geschafft hat? Einzig und allein das ist es doch, was die Security unter allen Umständen zu verhindern hat! Nichts besitzt höhere Priorität als die Unversehrtheit des Bürgermeisters. Selbst wenn das Jüngste Gericht anbricht, Gottes Erzengel mit Flamme und Schwert über den Erdball ziehen und die ganze Welt in Glut und Asche versinkt, hat den Sicherheitsdienst, verdammt noch mal, nichts anderes zu interessieren, als meinen Arsch in Asbest zu packen!

    Auch Clark scheint diesen elementaren Anforderungspunkt seines Berufsprofils aus den Augen verloren zu haben, denn er steht immer noch am selben Fleck, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte man in seiner Rübe das Licht ausgeschaltet.

    Ich lächle grimmig. Nach Vollzug der Disziplinarstrafe wird das nicht mehr nur eine metaphorische Zustandsbeschreibung sein …

    Es besteht kein Zweifel, dass er und die anderen immer noch glauben, die Datums-Anzeige sei korrekt. Ihre schockverzerrten Gesichter sprechen Bände. Sogar die distinguierte Madam Secretary sieht aus, als würde sie uns gleich mit ihrem royalen Mageninhalt beehren. Ihnen allen blieb die Erkenntnis verwehrt, die mich soeben aus dem Tal des Jammers katapultierte. So mutet es nicht verwunderlich an, dass meine werten Mitreisenden immer noch so dreinschauen, als hätten sie gerade ihre Einweisungspapiere fürs Abidias Asylum erhalten.

    Ich kann mir ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen.

    Nur einer von ihnen weckt eine Spur von Anteilnahme in mir – Martin Prey, der tapfere kleine Rebell. Immer noch kauert er wie ein Häufchen Elend in seinem Sitz und hat nicht die geringste Ahnung, was hier passiert. Der Typ ist aber auch ein echter Pechvogel – macht zum ersten Mal einen Zeitsprung und gerät sofort in einen Anschlag …

    Mitten in diesem Gedanken stutze ich. Sollte das wirklich ein Zufall gewesen sein? Dieser Prey hat über Wochen hinweg den gesamten Sicherheitsapparat von Porterville auf Trab gehalten. Er brachte das Kunststück fertig, sämtliche Jäger und sogar die Eingangskontrolle zum Tower zu überlisten und schaffte es schließlich gar bis hinauf ins verbotene Stockwerk. Jedes Vergehen zöge für sich allein schon das Strafmaß der Extraktion nach sich. Aber da mir seine jugendliche Verve und sein unerschütterlicher Kampfgeist in gewisser Weise imponiert haben, entschloss ich mich dazu, ihm das Privileg der Absolution zu erteilen. Ich vermag es nicht abzustreiten – irgendetwas an diesem unscheinbaren Teufelskerl erinnert mich an meine eigene Jugend. Das allein wäre fraglos noch kein tragfähiger Anlass für Gnade. Pathosgeschwängerte Gefühlsduselei als Grundlage für systemrelevante Entscheidungen wäre gänzlich inakzeptabel. Aber dank der Dehnbarkeit des McLyron-Paragraphen verfüge ich über nahezu unbegrenzten Spielraum für Ausnahme-Beschlüsse, selbst wenn diese sich im Nachhinein als taktisch defizitär erweisen. Falls mein ‚spezieller’ Protegé also rapide an Unterhaltungswert eingebüßt hätte, wäre die Tür zur Antares-Abteilung jederzeit weit offen gewesen. Dort freut man sich immer über exotisches Spielzeug.

    All diese Überlegungen scheinen nun jedoch hinfällig zu sein, denn je länger ich über die Sache nachdenke, desto sicherer bin ich, dass zwischen Prey und diesem Asiaten eine Verbindung bestehen muss. Zwei H6-Fälle, die im Abstand weniger Stunden den Sicherheitsring durchbrechen und direkt zu mir vordringen – das kann keine Laune des Schicksals gewesen sein. Möglicherweise war Preys rührend naive Suche nach Sarah Freeman also nur ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, um das eigentliche Ziel zu verschleiern. Den Anschlag auf mein Leben.

    Eigentlich schade. Das war’s dann mit der amüsanten Reisebegleitung. Bei der Wiederholung des Zeitsprungs wird unser kleiner Bibliothekar definitiv nicht mehr dabei sein. Statt der Crenlynn-Kammer wird er mit einer anderen Räumlichkeit Bekanntschaft machen, zusammen mit seinem gelben Freund …

    „Exzellenz!"

    Überrascht blicke ich auf. Madam Secretary scheint ihren Schock als Erste überwunden zu haben. Zäh wie Dörrfleisch, die Alte. Mit ihren 17 Dekaden haut die so schnell nichts mehr aus ihren Designer-Peeptoes.

    „Was ist denn nur geschehen?", fragt sie und blickt mich mit ihren treuen Kuhaugen an. Sie möchte Erklärungen, Beistand, Stärke. Sie will den Bürgermeister.

    Aber der ist nicht verfügbar.

    Zweifellos könnte ich meine feste, souveräne Stimme erheben und den Mantel der Geborgenheit über meine Schafe breiten. Doch es wäre vergeudete Energie, denn ich weiß, was gleich passieren wird.

    Sobald das Schott weit genug geöffnet ist, wird eine Spezialeinheit die Kammer stürmen und alle Passagiere bis auf meine Wenigkeit betäuben.

    „Ereignet sich, sei es im Ansatz oder in Vollendung, eine Straftat in Anwesenheit oder unter Schädigung des Lordgouverneurs, so sind sämtliche im unmittelbaren Umfeld befindlichen Personen augenblicklich zu paralysieren."

    So lautet die offizielle Order.

    Sie stammt von mir.

    Erneut blicke ich zum Schott und trete etwas näher heran. Inzwischen müsste der Spalt groß genug sein, um draußen die chromglänzenden Wände und die Neonleuchten der Crenlynn-Anlage zu erkennen. Nur wenige Sekunden, dann kann ich endlich -

    Wie vom Blitz getroffen, verharre ich mitten in der Bewegung. Ein Faustschlag ins Gesicht hätte keine stärkere Wirkung haben können.

    Dort draußen ist weder Metall noch elektrisches Licht.

    Nur diffuser, dunkelgrüner Schatten.

    Vor meinem inneren Auge zerbricht die Welt, die ich mir in den vergangenen Sekunden so erfolgreich zurückerobert habe, in tausend Scherben. Die so felsenfest empfundene Gewissheit, dass wir den Zeitsprung nicht vollzogen haben, erweist sich als tödlicher Irrtum.

    Die Stimme des Bordcomputers hat mich genarrt. Nicht Porterville empfängt uns, sondern die archaische grüne Hölle der endlosen Wälder Marylands …

    Der gellende Befehl „Zugriff!" lässt mich und alle anderen Passagiere zusammenzucken. Entgeistert beobachte ich, wie ein silberner Gegenstand mit einem surreal melodischen Sirren durch das halb geöffnete Schott fliegt, scheppernd auf dem Stahlboden aufschlägt und seinen qualmenden Inhalt in die Luft entlädt.

    Eine Gaspatrone …

    Und dann erkenne ich ihn – den riesigen, grünen Kevlar-Schutzschild, der bis jetzt das gesamte Sichtfeld hinter dem Schott ausgefüllt hat und mit dessen Deckung die Spezialeinheit nun die Crenlynn-Kammer stürmt. Bevor mich die grauen Gasschwaden erreichen, stülpt mir einer der ganzkörpervermummten Männer eine Gasmaske über das Gesicht und führt mich, flankiert von zwei Kollegen, an den niedersinkenden Passagieren vorbei nach draußen.

    Doch welches Draußen ist es?

    - 3 -

    6 Minuten nach dem Ereignis

    Während der Security-Van mich durch den unterirdischen Speedway zurück zum Terminal bringt, nehme ich die Gasmaske ab und wende mich zögernd einem der beiden hinter mir sitzenden Bodyguards zu.

    „In … welchem Jahr befinden wir uns?"

    Ein Anflug von Irritation huscht über die stoische Miene des Manns. „2011, Exzellenz. Vor wenigen Minuten haben Sie die Kammer betreten, doch der Transfer wurde aus noch ungeklärtem Grund abgebrochen."

    Ein Stein von der Größe des Hudson Towers fällt mir vom Herzen. In tiefer Erleichterung drehe ich mich wieder um und lasse den Kopf auf das Stützpolster sinken.

    Ein solches Wechselbad der Gefühle habe ich während meiner gesamten Amtszeit noch nicht durchgemacht.

    Nach wenigen Minuten haben wir das Terminal erreicht und man eskortiert mich an die Oberfläche. Auf dem Weg dorthin erwische ich mich mehrmals dabei, wie ich mich unwillkürlich umschaue, um zu kontrollieren, ob auch wirklich alles beim Alten ist.

    Es ist.

    Lediglich die Aufregung und Nervosität in den Gesichtern des Basis-Personals ist ungewöhnlich. Aber schließlich wird nicht alle Tage ein Attentat auf den geliebten Bürgermeister verübt. So etwas geht an meinen treuen Schäfchen natürlich nicht spurlos vorüber.

    Oben wartet bereits die Stretch-Limousine. Während der Bordcomputer den Motor startet, gebe ich die Weisung, Temperatur und CFC-11-Anteil in der Luft leicht zu reduzieren und einen Hauch von Oleander hinzuzufügen. Anschließend tauche ich in Händels unvergänglichen „Giulio Cesare in Egitto" ein – die glorreiche Majestät unter den Heldenopern. Balsam für die Seele. Anker der Stärke im Sturm der Zeiten.

    Eines fernen Tages wird man auch mir ein solches Monument für die Ewigkeit setzen.

    Ich weiß es, denn ich kenne bereits Jahr und Stunde.

    Vor mich hinsinnend blicke ich aus dem Fenster. Selten habe ich es so genossen, das vertraute Angesicht meiner Stadt zu betrachten.

    Das prunkvolle Olympic Regent Hotel, in dem ich mir, sofern es mein Terminplan zulässt, jeden Mittwoch- und Samstagvormittag von Melinda McFaden meinen Spezial-Cocktail und bisweilen auch etwas ‚anderes‘ servieren lasse.

    Der üppig blühende, insbesondere bei Touristen außerordentlich beliebte Laym’s Garden mit seinen malerischen Wäldchen und Seen.

    Die pittoresken Villen der Schönen und Reichen von Munjoy Hill.

    Das urige ‚Corey’s‘ – die Bar mit der bei weitem größten Auswahl exquisiter Import-Biere in der Stadt.

    Sogar die variationslos tristen Fassaden der entfernt vorbeiziehenden Haywood-Wohnblocks vermögen mir allein aufgrund ihrer Anwesenheit ein Lächeln zu entlocken.

    Seufzend lehne ich mich zurück und schließe für einen Moment die Augen.

    Was für ein Tag …

    Ich lasse die vergangenen Wochen Revue passieren und versuche, mich zu erinnern, wann es das letzte Mal vergleichbar brenzlig war. Die Fitzgerald-Affäre war zweifellos sehr heikel, doch wie stets gab es auch 1963 eine nachhaltige Problemlösung. Ebenso wie für den Problemlöser.

    Aber diesmal ist es anders. Statt einer externen Bedrohung kam die Gefahr von innen; wie ein hinterhältiger Parasit, der sich durch die Organe meiner Stadt fraß, ohne von ihren Antikörpern unschädlich gemacht zu werden. Erst mit dem heutigen Paukenschlag ist der Spuk endlich ausgestanden. Doch die Ereignisse haben schmerzhaft aufgezeigt, dass auch der stärkste Schutzpanzer nur so sicher ist wie das schwächste seiner Kettenglieder. Und einige dieser Glieder waren bestürzend rasch geborsten … Deren umgehende Beseitigung würde lediglich den Auftakt der anstehenden Gegenmaßnahmen darstellen. Die Kernfrage lautet: Wie weit hat die ‚Prey-Infektion’ bereits gestreut? Wenn der Asiate tatsächlich Bestandteil einer konzertierten Aktion war, dann haben die Guerilla-Umtriebe des Bücherwurms größere Kreise gezogen, als wir bisher vermuteten.

    Laut Sicherheitsdienst sind alle direkten Kontakte identifiziert worden – angefangen bei diesem Schmalspur-Shaft Reginald Broadus bis hin zum psychotischen Terror-Junkie Jason Hincks. Letzterer steht für Verhöre bedauerlicherweise nicht mehr zur Verfügung, weil er es vorgezogen hat, als verschmortes Barbecue im Wrack eines gestohlenen Mitsubishi zu enden. Da Suizid ein Kapitalverbrechen ist, das automatisch sämtliche Straftatbestände des Betreffenden ins Register seines nächsten Verwandten übergehen lässt, wird sich nun Hincks’ vierzehnjähriger Halbbruder Nathanael vor dem Sanktions-Ausschuss verantworten müssen. Gemäß unserem „Ex aequo"-Grundsatz steht ihm dieselbe ‚Behandlung’ bevor, die Hincks seinem letzten Opfer Dr. Barrett angedeihen ließ. Armes Kerlchen, aber so lautet das Strafmaß für Mord an einem Würdenträger der Inneren Instanz.

    Kompromisslose Konsequenz war und ist einer der tragenden Grundpfeiler unseres Systems – gleichgültig, was irgendwelche heilsbeseelten Gutmenschen-Kommissionen darüber befinden mögen. Klare Regeln und rigide Ahndung ihrer Verstöße sind die unabdingbaren Garanten für das Funktionieren dieser Stadt.

    Meiner Stadt.

    Gemäß diesen Regeln steht Preys Frau Camilla nach Absolvierung der Standard-Befragungsreihe unter verschärftem Hausarrest, ebenso wie alle weiteren Personen, mit denen er Berührungspunkte hatte. Sei es seine ehemalige Kollegin Frida Johannsen aus der Bibliothek, der Immobilienmakler Jacob Sullivan, Phil Bannister, der Besitzer des Mitsubishi oder Cecilia Farnham, die Walmart-Kundin, der Prey ein Paar Sportschuhe aus ihrem Auto entwendet hat.

    Darüber hinaus werden eventuelle Verbindungen zu zeitnahen Anomalie-Erscheinungen überprüft. Insbesondere der Vorfall mit Charles Preston birgt immer noch zahlreiche ungeklärte Fragen, deren Beantwortung sich der Polizeichef von Porterville höchstpersönlich auf die Fahnen geschrieben hat: Sheriff Parker.

    Ein weiteres Spezialistenteam versucht noch immer, die Entstehung von Broadus’ detailliertem Tunnelplan zu rekonstruieren und schnellstmöglich zu prüfen, ob außer Prey noch weitere Personen in diese hochsensiblen Kenntnisse eingeweiht wurden. Dass Broadus selber zu Aufklärung beitragen wird, ist unwahrscheinlich, weil dieser Idiot unter bislang unklaren Umständen in einen Weißraum geraten ist; mit entsprechenden Folgen.

    Auch der Asiate, der inzwischen auf der Intensivstation des Kennedy Medical Centers liegt, wird wegen seiner demolierten Fresse bis auf Weiteres zu keinen Auskünften in der Lage sein. Bleibt vorerst also nur Martin Prey als Informationsquelle. Möge sie reichlich sprudeln …

    Angespannt massiere ich meine Nasenwurzel. Beiläufig registriere ich, dass der Verkehr auf dem Expressway für diese Tageszeit ungewöhnlich stark ist und nur zäh fließt. An einer roten Ampel hält neben uns ein großer Truck. Am seitlichen Aufdruck erkenne ich sofort, dass es sich um einen unserer ‚Willingdon‘-Fleischtransporter handelt. Dem aufrecht stehenden Schwein wurde bereits ein großes Filetstück aus dem Rücken geschnitten. Dennoch grinst es, als wäre dies der glücklichste Tag seines Lebens.

    Im Führerhaus baumelt ein grünes Fellmonster am Rückspiegel, das den Fahrer als Fan der ‚Porterville Patriots‘ ausweist. Auch ich schätze unser glorreiches Football-Team sehr. Genauer gesagt – ich werde es sehr schätzen, denn seine Gründung erfolgt erst in vielen Jahren.

    Versonnen blicke ich an dem Truck vorbei auf die belebte Fußgängerzone der Van Buren Street. Dann plötzlich sehe ich ihn. Und allein dass er mir so direkt ins Auge fällt, ist ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Der hagere Obdachlose im zerschlissenen Parka humpelt mitten durch den dichten Menschenstrom und rempelt dabei ständig Passanten an. Ein solches Verhalten ist vollkommen unzulässig. Unsere Undercover-Beobachter zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie niemandem auffallen, sondern mit ihrer Umgebung verschmelzen und gleichsam im Stadtbild zerfließen wie flüchtige Schatten. Dieser Typ da ist jedoch alles andere als ein Schatten – er ist eine beschissene Planierraupe!

    Kurz geht mir die Frage durch den Kopf, ob Prey und der Asiate etwas mit dem Vorfall zu tun haben. Könnten dies die Nachwirkungen irgendeiner weiteren Sabotage-Aktion sein? Umso wichtiger, dass diesem unwürdigen Spektakel schnellstmöglich Einhalt geboten wird.

    Nachdem die Ampel auf Grün gesprungen ist, gebe ich den Befehl, an der Ecke Fillmore zu halten, um die Situation weiter beobachten zu können. Endlich entdecke ich einen uniformierten Mitarbeiter des Ordnungsamts, der sich dem Störfall von hinten nähert. Wurde auch höchste Zeit. Irritation und Unruhe sind wie juckende Ekzeme auf dem Antlitz dieser Stadt – hässlich und umgehend behandlungsbedürftig, um eine Ausbreitung zu verhindern. Sonst wird aus makelloser Schönheit rasend schnell die widerwärtige Fratze einer syphilitischen Crack-Hure.

    Einmal ist das passiert. Der Dunford-Eklat. Die Folgen waren so gravierend, dass sie letztlich einen Neustart erzwangen. Ein zweiter GAU konnte abgewendet werden, indem wir die Risiko-Figur Wilcomb vom Spielbrett nahmen. Mit dem Umweg über Stewart Falkner scheint der Staffelstab nun an Martin Prey übergegangen zu sein, doch auch diesmal hat das System gesiegt. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Was auch immer der Bibliothekar und seine Helfershelfer zu bezwecken hofften – sie werden das Gleichgewicht dieser Stadt nicht erneut ins Wanken bringen.

    Nicht unter meiner Herrschaft.

    Inzwischen hat der Mann vom Ordnungsamt dem Obdachlosen, kaschiert durch eine vertrauliche Berührung an der Schulter, eine Injektion verpasst und führt ihn nun zu seinem Dienstwagen.

    Problem erkannt, Problem isoliert, Problem beseitigt. Das heilige Dreigestirn von Porterville.

    Als wir an dem nach mir benannten Tower ankommen, streift mein Blick beiläufig ‚Wayne’s Drugstore’, wo nach dem plötzlichen Ausscheiden von Mrs. Harding nun eine neue Fachkraft gesucht wird. Dabei fällt mir ein, dass ich noch Peggy Waters‘ abschließendes Verhörprotokoll unterzeichnen muss, bevor es an die Vollzugskommission weitergeleitet wird. Das von Peggy empfohlene Strafmaß von 45 Jahren isolierter Wohnungs-Haft halte ich zwar für etwas hart, zumal Mrs. Harding die neuralgische Frage nach Dr. Frank Morgan mit ‚Nein’ beantwortet hat, aber versuchte Flucht ist nun mal ein Kapitalverbrechen, dessen Ahndung keine Milde zulässt.

    Beim Gedanken an Morgan muss ich kurz schmunzeln. Es wird höchste Zeit, dass ich den alten Kauz mal wieder besuche – die Gespräche mit ihm sind wahre Licht-Inseln im trüben Meer bürokratischer Uniformität. Wenn der Weg zu ihm nur nicht so verdammt weit wäre …

    Bevor ich den Haupteingang des Towers erreiche, setzt leichter Regen ein. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass wir für diesen Freitag wolkenloses Sonnenwetter vorgesehen hatten. Auch die Außentemperatur von 20,9 Grad Celsius, die mir meine Armbanduhr anzeigt, liegt mehr als ein halbes Grad unter Norm. Offensichtlich hat irgendein Eierkopf aus der meteorologischen Abteilung bei der Programmierung geschlampt. Vor meinem inneren Auge erscheint ein übergewichtiger Computer-Nerd mit Scheißfrisur und Riesenbrille, der sich während der Arbeit nebenbei ununterbrochen Porternet-Clips reinzieht. Das Ganze weitet sich intern zu einer echten Plage aus. Der neueste Renner ist das heimlich gedrehte Video eines Pflegers aus der psychiatrischen Abteilung des Kennedy Medical Centers. Der gefilmte Patient, ein untersetzter, etwa siebzigjähriger Mann, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Jack Nicholson hat, rastet vollkommen aus. Zuerst reißt er sich alle Kleider vom Leib und rennt dann wie ein Hamster auf Dope im Kreis herum. Dabei reckt er immer wieder beide Fäuste zur Decke und brüllt: „Marylin Monroe war ein Mann!" Der Clip fand rasend schnell unter dem Titel Jacky Leaks – die brisantesten Geheimnisse Hollywoods Verbreitung. Nur der Himmel weiß, wie viele Leute allein dieser nackte Zausel schon von der Arbeit abgelenkt hat.

    Wie dem auch sei – ich werde ein deutliches Wörtchen mit Forrester aus der Klima-Sektion reden müssen. Ein weiterer Punkt, der meine ohnehin schon stattliche To-do-Liste für heute erweitert.

    Beim Aussteigen bemerke ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, halb verdeckt vom Schatten einer schmalen Gasse, einen weiteren Obdachlosen. Er lehnt regungslos an der Mauer. Das allein wäre nichts Ungewöhnliches, da unsere ‚Hobos’ häufiger solche Positionen einnehmen. Irritierend ist jedoch, dass er es mit dem Gesicht zur Wand tut.

    Wie eine kaputte Puppe, die jemand achtlos in einer Zimmerecke abgestellt hat.

    - 4 -

    49 Minuten nach dem Ereignis

    Das 56. Stockwerk. Mein Reich.

    Legendenumwittertes Zentrum der Macht. Autarkes Refugium der Kontemplation.

    Und der einsamste Ort in Porterville. Zumindest normalerweise.

    Heute ist der Tag der Ausnahmen. Ich sitze an meinem Schreibtisch und genieße den hervorragenden Château Pétrus, während Sally mir vom Vorzimmer aus einen Besucher nach dem anderen ankündigt. Sicherheits-Offiziere, Ressortleiter, Gremiums-Vorsitzende und so weiter. Einen Stock tiefer sorgt meine rechte Hand Howard K. Brenner dafür, dass tatsächlich nur die wichtigen Fälle zu mir vorgelassen werden. Doch das scheinen sie alle zu sein.

    Sheriff Parker steht etwas abseits vor der gewaltigen Fensterfront und redet hektisch in seinen Gray-Stick. Er ist sichtlich aufgebracht. Kein Wunder. Als Polizei-Chef von Porterville trägt er die Verantwortung für eine Abteilung, die mehrfach in gravierendem Ausmaß versagt hat. Er wird alles dransetzen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und mit ‚alles’ meine ich wirklich alles. Parker war nie ein Mann der Halbherzigkeiten und Kompromisse, weder damals als Leiter der Nervenklinik noch heute. Und er weiß nur zu gut, dass er es allein meiner Intervention zu verdanken hatte, dass er nach den Geschehnissen im Februar 1932 eine zweite Chance bekam. Wenn ihm sein Laden jedoch erneut um die Ohren fliegt, werde ich seinen Arsch nicht mehr aus der Schusslinie

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