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Der raumlose Raum: Ein Puzzle 1949 - 1968
Der raumlose Raum: Ein Puzzle 1949 - 1968
Der raumlose Raum: Ein Puzzle 1949 - 1968
eBook328 Seiten4 Stunden

Der raumlose Raum: Ein Puzzle 1949 - 1968

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Über dieses E-Book

COMING-OF-AGE: Der Roman erzählt die Geschichte eines Kindes und Jugendlichen von 0 - 18 Jahren. Und dies seinem Erleben entsprechend, das sich aus vielen Parallelwelten zusammensetzt. Und seiner Wahrnehmung gemäß, die keine Zwangsläufigkeit und Reihung kennt. Fantastisch und diskontinuierlich und erst am Ende chronologisch, wenn er erwachsen wird.

Kapitel für Kapitel hüpfen die Geschichten hin und her und schaffen Raum, dessen erfahrbare Ausdehnung sich im Grenzenlosen verliert. Sie beschreiben Zustände und Erlebnisse, die ohne Raster sind und ohne Zeitgitter: Kinder kennen keine Zeit, sie leben in der Gleichzeitigkeit und erleben jede neue Perspektive der Wirklichkeit als eine andere Welt: Wechselnde Identität – Außen und Innen oszillieren und geben ersten Erfahrungen besondere Plastizität und Poesie.

Der Reichtum unseres Lebens ist nicht geordnet. Vergangenheit und Zukunft sind eine Funktion: In dem, was war, gewinnt es Realität, in dem, was sein wird, Identität. Das Heute aber ist schon vorbei, bevor es angefangen hat. Was heißt hier jetzt.

Das Buch ist ein Puzzle, Puzzlesteine (Kaleidoskop!), dessen Bild sich vor dem Auge des Lesers allmählich zusammensetzt: Zu einer (inneren) Geschichte, mit Anfang und Ende, deren unterschiedlichste Aspekte die Offenheit und Zufälligkeit der Existenz betonen und nicht dessen scheinbare Stringenz: Zufall ist der beste Koch.
Die Geschichte spielt zwischen 1949 und 1968. Im Wohlstand und Wirtschaftswunder, das gerade sein böses Wunder erlebt. Die Ruhe vor dem Sturm.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. März 2015
ISBN9783737537735
Der raumlose Raum: Ein Puzzle 1949 - 1968

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    Buchvorschau

    Der raumlose Raum - Peter Mussbach

    Peter Mussbach

    DER RAUMLOSE RAUM

    Ein Puzzle

    1949 – 1968

    RAUMLOSER RAUM

    Blog von Peter Mussbach

    www.peter-mussbach.de

    © 2015 by Peter Mussbach

    Alle Rechte vorbehalten

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-7375-3773-5

    Konvertierung: www.e-book-erstellung.de

    Die Phimoseoperation

    Wenn er nicht so geblendet wäre, könnte er die Farbblitze des sanften Gewitters rund herum, das ihn sich schon längst einverleibt hat, besser erkennen. Was auch immer mit einem geschieht, so muss es wohl sein, wenn man im aufgewühlten Meer dahintreibt, unter oder über Wasser, denn atmen muss man nicht, hört er irgendwo.

    Sagen kann er nichts, noch nicht einmal sprechen. Wenn er wenigstens stammeln könnte, Satzfetzen herauspressen wie „Aberomalieb oder „Raketetrakete oder „Glitzergeglitzer" zum Beispiel, er würde sich doch nicht verraten wollen, schon gar nicht in einer solchen Situation, wo man drinnen nicht wissen kann, mit wem oder was man es draußen zu tun hat.

    Bei allem seltsamen Zauber aber, hatte er nicht gerade noch versucht, herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat? So erinnert er sich später das eine oder andere Mal, wenn er irgendwo vor einem offenen Fenster sitzt, und das Draußen wie beiläufig an ihm vorüber zieht: Was ist „Empfindung", wenn alles sich wie selbstverständlich in Bewegung befindet? Und das Denken kreist, als würde es sich selber denken, obwohl es so richtig noch gar nicht da ist. Und, was sieht man, oder, was kann man denn sehen, wenn man durchs Fenster schaut. Der Blick um die Ecke, der macht nicht froh, wenn man sieht, was sich da so alles den Blicken entzieht: Seinen Augen kann man eben nur einen Schrittweit trauen.

    Er erinnert sich, auf einem kalten, vom vielen Desinfizieren schwefelgelb ausgeblichenen Wachstuch gelegen zu haben, mit dem das Gestell oben auf der Metallplatte überzogen war, es hätte aus der Anatomie stammen können, oder aus der Pathologie.

    Wie er sich da so liegen sieht, ahnungslos hingestreckt, hatte er damals überhaupt schon einen Anflug von Ahnung davon, was ein Wort wie „Gestell" bedeutet, oben auf dem Gestell? Wo ist oben?

    Später denkt er, dass er, der denkt, nichts anderes ist, als ein Abdruck der Welt, welche als Eindruck in ihm Wirklichkeit geworden ist. Was ihn nicht gedrückt hat, dafür hat er auch keinen Ausdruck. Und „Ich" – davon spricht er nur selten, nur dann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Was soll daran Denkenswertes sein.

    Im Grunde seines Herzens fühlt er sich eigentümlich wohl und geborgen, wenn da nicht jetzt, wie aus heiterem Himmel, von oben auf ihn unerbittlich niederstrahlende Lichtlanzetten zu tanzen begonnen hätten, die in die Seele brennen. So entstehen Geschichten im Kopf, schwirrt es ihm durch die Schläfen, so schnell vergisst man das nicht. Wo er sich befindet, weiß er nicht. Es spielt auch keine Rolle. Er wird es nicht herausfinden können. Also lässt er es sein, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

    Die sengenden Lichtflunkerstrahlen, welche aus unermesslicher Höhe wie böser Regen auf ihn herabprasseln, pieksen in den Augen. Zum Schutz will er die Hände vors Gesicht halten, aber beide Arme seines Körpers sind fixiert, mit festen Gurten gehalten, so dass seine Augen unverwandt den Strahlen ausgesetzt bleiben. Selbst wenn er versucht, die Augen zur Seite, nach schräg oben oder links unten zu rollen, sein blickloser Blick vermag sich ihnen nicht zu entziehen. Könnte es nicht sein, dass die Feuerlichtpfeile gar nicht von oben, sondern aus dem tiefsten Inneren geflogen kommen und sich gleichsam wie Spieße in den Augäpfeln festhaken?

    Bilder eines alles penetrierenden und perforierenden Sternenhimmelgelichter steigen in ihm auf, das im Widerschein der Erde erst Kontur verleiht, einem Sternensteinball, welchen die Gravitation gerade noch am Zügel hält.

    Er versteht ohne zu verstehen: Das Gestell hält ihn fest. – Wenn er später Nachtbilder der Erde in Händen hält, ängstigen ihn weniger die vielen dunklen Gebiete unter seinen Augen, als vielmehr die Lichtballungen der Ballungszentren, welche von unten ihren Schein nach oben pulsen, als wären sie allein im Dunkel der Nachbarn. Tagsüber lässt es sich nur scheinbar leichter leben. Wo ist dann der Mond! Er grinst, wenn er manchmal auch tagsüber am Himmel steht.

    Die abgründige, ihn Jahre später ins Bodenlose stürzende Empfindung aber, dass die Sterne am Himmel nichts anderes sind als verspätete Signale aus einer vielleicht schon ewig dunklen Vergangenheit, die als Sternensterne schon nicht mehr existieren, obwohl man ihr Flunkern noch leuchten sieht, macht ihn unsicher und still. Bald wird es keine Sterne mehr geben, dann ist auch die Nacht verleuchtet und ein anderer Tag bricht an.

    Der vage Schein von Vergangenem ist von da an für ihn als spürbarer Hauch in jedem und allem sichtbar enthalten. Und eine gedeihende Natur, die nicht auf der erdigen Kraft des Zerfalls beruht, ist keine Natur, sie würde unversehens verwesen, und alles Lebendige wäre auf immer getilgt. Dann gäbe es auch niemanden mehr, der die leblose Verwesung noch würde riechen können. Dann hätten es selbst die Hunde schwer.

    Als die Hand des Chirurgen das Skalpell mit routinierter Geste vom OP-Tisch aufnimmt, ist er schon längst ins Nirwana, dessen frisch belebtes Nichts ihm eigentümlich vertraut vorkommt, abgetaucht. Die widerwärtigen, alles Fleisch verzehrenden Lichtfeuerpfeile sind verschwunden, jetzt amalgamiert mit Myriaden anderer Spektrallichter, die ihn wie spätsommerliche Glitzerluft umhüllen und erwärmen. In seinen mutmaßlichen Gedanken und Empfindungen, welche ihn allmählich verlassen, ganz geborgen, dreht er sich zur Seite und schläft ein.

    Nach einer wunderbar langen Weile hat sich das Gewitter verzogen. Das flirrende Gelichter ist verschwunden, und sein Blick geht vor sich hin: Nass geschwitzt liegt er in seinem Bett, den süßlich stechenden Geruch von Äther in den Nasenhöhlen, der später, wenn er still sitzend den Kopf nach oben gereckt, den Nachthimmel studiert, um den Rätseln endlich auf die Spur zu kommen, immer wieder alles durchdringt: Äther und Äther. Er lacht.

    Der Komet

    Der Himmel will sich ihm um jeden Preis entziehen: Je schneller er rennt, je virtuoser er das Tempo wechselt und unvorhersehbare Haken schlägt, je überraschender er attackiert und wie aus dem Nichts nach oben hechtet, höllisch davon überzeugt, den Kometen endlich zu fangen, um ihn dann, glühend in seinen Händen, sofort wieder in den Himmel zurück zu schleudern wie bei einem irren Ballspiel mit der Ewigkeit, desto ruhiger und vollkommen unbeeindruckt dreht die Himmelsglocke wie von Geisterhand bewegt, immer in geschickter Distanz zu jeder seiner Bewegungen, die Achsen des Gewölbes von ihm weg und rückt den Kometen in unerreichbare Ferne, so dass er – letztlich nur noch ins Leere springend – zwangsläufig zu Boden stürzt.

    Reglos liegt er im Wasser einer Sommerregenwiese, das noch aufgeregt kleine Wellen schlägt und spürt die Kälte schon zwischen der Haut. Mit dem treuesten Blick schaut er spielerisch um sich ins Dunkle wie ein Hund, hat ein nasses Fell, dumme Schuldgefühle im Bauch und zittert tierisch am ganzen Leib, als würde der Himmelskörper jeden Augenblick herabstürzen und Chaos anrichten. Der aber ist lange weg und nicht mehr zu sehen. Er richtet sich auf. Die Strahlen der zwischen den Bäumen aufgehenden Sonne fangen seinen Blick und Körper. Das Flimmern im Auge, das sie in ihm provozieren, das Glitzern um ihn herum, verwirrt ihn. Hat er sich zu allem Überfluss am Kopf verletzt. Sieht er Sterne?

    Eine Weile hockt er mit angezogenen Beinen, welche seine Arme fest umschlungen halten, im Ungefähren und blinzelt erwartungsvoll ins Weite. Es ist still. Still! Er hat sein Gehör verloren. Die Resonanz seines Herzschlags schwingt in jeder seiner Adern, während die auf seiner bloßen Haut prickelnde Wärme der vor ihm aufgehenden Sonne eine unvermutete, nie gehörte Musik in jeder seiner Zellen provoziert – innen und außen im Einklang.

    Zuhause

    Im Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnt, steht die Luft, obwohl alles neu ist: Villa und Gartenpark. Swimmingpool mit Unterwasserbeleuchtung – allgemeines Wirtschaftswunder. Irritiert reibt er sich manchmal die Augen. Kaum wahrnehmbarer Dunst macht die Bilder unscharf, zeitweilig verschwimmen die Gesichter. Woher das rührt, kann er aus den unterschiedlichsten Gründen nicht sagen. „Der steht in jedem Zimmer, murmelt er vor sich hin, „wie der gelbschwarze Dunst auf einem alten Photo, der alles überzieht.

    Manchmal ist alles irgendwie schief, schief und bewegungslos. Sein Vater will davon nichts wissen. Er sieht aus wie eine grobe Mischung aus Jean Gabin und Ludwig Erhard als Sportler, also dick, ja unförmig, aber sehr beweglich. Und charmant mit vielen Verhältnissen. Das riecht er. Aber er riecht auch den süßbitteren Hauch, welcher aus dem brandneuen, hautengen Strickkleid seiner Mutter dringt. Manchmal, ganz ohne Grund.

    „Was du wieder sagst, von welchem Geruch redest du?" – Seine Mutter will das nicht hören, denn sie ist nach der Trümmerfrau die nächste Generation von Frau, die betont, einfach Glück gehabt zu haben: Das läge ja schließlich in der Luft, man käme wieder voran, nach all den Entbehrungen. Sie sagt das wie die Knef, sieht aus wie die Pulver, will aber so sein wie Lollobrigida. Da ist der Geruch wieder, eine Art Mandelgeruch. Bittersüß. Als Seidenpapier in der Luft, das klammfeucht die Konturen verklebt.

    Häufig kommt Besuch; der heißt schnell „Freundekommen. Freunde sind die, welche auch Glück gehabt haben und viel verdienen, weil sie es verdient haben. Neidisch ist man trotzdem aufeinander. Was der eine hat, hat man möglicherweise selber noch nicht: Es herrscht Aufbruchstimmung, da will keiner zurückstehen! – Man bestaunt den neuen Kühlschrank im Keller der Freunde und bestellt am nächsten Tag denselben. Eine Bar im Keller, die man sich leisten können muss, ist der Geburtsort der Party. Wenn man keine Party machen kann, weil man noch keine Kellerbar hat, kommt der Innenarchitekt und überholt die Freunde rechts. Dann ist drunten „richtig Party, was die anderen Freunde in ihrem Keller so nicht hinkriegen.

    Man legt das Dekolletee frei und stelzt durch die Wohnzimmerhallen wie in Schöner Wohnen, dessen Hefte sich in der Bibliothek stapeln, weil sie die Hausbar ist. Und man spielt Tennis, schließlich will man fit bleiben und hasst den Gedanken, älter zu werden. Wer nicht mithält, sitzt ersatzweise auf dem Schiedsrichterstuhl und zählt 30 zu 40, bevor „Einstand" ist.

    Draußen in den Gartenanlagen steht Tropenholz vor den Fenstern, die bis zum Boden reichen. Die Heizungskörper drinnen haben sie versenkt, damit man ungehindert ins Freie treten kann. Der Fernseher läuft, es herrscht Heiteres Beruferaten: Wenn der Stargast kommt, zieht sich das Rateteam die Masken vor die Augen und stochert sich ein Bild zu Recht: „Ihr Haar ist dunkel und ihr Mann heißt Giller, dann können sie nur Nadja Tiller sein."

    Immer gibt es Stoffservietten, die montags frisch auf den Tisch kommen. Am Wochenende erinnern sie mit ihren ekelhaft gelbbraunrötlichen Flecken an das zu Tode desinfizierte Wachstuch mit seinen gelbbraunrötlichen Stockflecken, auf dem er operiert wurde, als er knapp ein Jahr alt war.

    Gemeinsam mit seinen Eltern sitzt er am Tisch, der mal größer, mal kleiner wirkt, je nachdem, wie die Stimmung ist. Die Dinge rücken von ihm ab oder rücken ihm auf den Pelz. Er kann sich nicht helfen: Wie er sich fühlt, so sieht er. Und was er sieht, so fühlt er.

    Sonntagmorgen. Gemeinsames Frühstück. Heute rückt ihm sein Vater auf die Pelle, ganz dicht vor ihm sein riesiges Gesicht, so schmal war der Tisch noch nie. Zwischen seinen ungeschlachten Fingern hält er ein vom Zweiten Dienstmädchen sorgsam gepelltes Ei, dessen dünnflüssigen Dotter er sabbernd in sich hineinschlürft. Da rennt er zur Toilette, weil er sich übergeben muss. Wenn er seinen kurzen Oberkörper endlich über das Becken beugt, kommt nichts als ein wenig gelbbraunrötlich anmutender Schleim aus seinem aufgerissenen Gesicht: Ladehemmung. Gefangen.

    Vater und Mutter

    Der Vater seines Vaters war Antinazi. „Es liegt eben in der Familie!" Darauf beharrt sein Vater, als wolle er es ungeschehen machen, in der Partei gewesen zu sein.

    „Hacket ihn ab, denn er ist zu nichts nütze", titelte der Völkische Beobachter über seinen Großvater, als der Mitte der dreißiger Jahre in der Universitätsaula eine gewagte Rede gegen den Braunen Terror gehalten hatte. Sein Sohn hörte ihm zu. Er stand an der weit geöffneten Tür des überfüllten Saales; sollte es brenzlig werden, hätte er schnell das Weite suchen können. „Der Mut meines Vaters damals ist noch heute zu bewundern", sagt er später.

    Als Anwalt verdient sein Vater so viel Geld, dass er sich selber manchmal die Augen reibt. Seit Ende der vierziger Jahre führt er die erste Kanzlei der Stadt, die er angesehen und erfolgreich betreibt. Schon damals hatte er gute Beziehungen, die Entnazifizierung war kein Problem.

    Als er sich genötigt sieht, seinen Sohn endlich aufzuklären, „bevor es zu spät ist, wie seine Mutter sagt, setzt er ihn sich im Wintergarten auf den Schoß: „Ziehe niemals einem Mädchen das Höschen von der Scham, wenn es nicht will, sagt er ihm, „stell dir vor, die sagt im Nachhinein noch, du hättest sie vergewaltigt, das kostet, besonders, wenn du sie geschwängert hast. Unseren Ruf kannst du dann ohnehin vergessen." Seine Mutter, die stets kontrolliert wirken möchte und vorgibt, alles im Griff zu haben, hat nichts im Griff. Vielleicht redet sie deshalb in unangenehmen Situationen immer wieder von Bertha Krupp: „Die war tapfer und versuchte zusammenzuhalten, was zusammenzuhalten war, aber alles hatte selbst sie nicht im Griff."

    Im Griff hat sie ihn nur einmal, da ist er gerade mal ein halbes Jahr alt. Sie muss ihn wickeln, weil die Dienstmädchen frei haben. Und wieder schreit er wie am Spieß, weil er ihre groben Griffe nicht erträgt. Die Halsschlagadern schwellen, im Kopf kommt kein Blut mehr an, und er droht – wie immer in solchen Situationen – ohnmächtig zu werden und sinkt leblos zur Seite. Da packt sie ihn kopfüber und prügelt ihn kräftig durch, so, wie der Kinderarzt es ihr geraten hatte. „Schließlich habe ich schon zwei Kinder verloren, was sollten wir denn machen", sagt sie zu seinem Vater, „aber immerhin, es hat etwas gebracht, er hat das nie mehr wieder gemacht.

    In seiner Mutter herrscht unbestimmbare Unruhe. Das ist ihr einziges, wahres Geheimnis. Egal wie ihr zumute ist, sie ist angespannt. Bald schon wirft sich sein Vater in die Arme der Miezen vom Tennisclub. Und er übt nachmittags nach der Schule stundenlang Klavier, nur um sich der Mutter zu entziehen. Oder er haut in sein Zimmer ab. Oder er radelt davon und keiner weiß, wo er steckt. Oder er kriegt Magenschmerzen und darf im Bett bleiben. Ein weiteres „Oder" bleibt ihm nicht.

    Auf dem Flügel, auf dem er übt, „wie ein Wahnsinniger, spottet sein Vater, stehen die in Silberrahmen gezwängten Familienangelegenheiten: Die Photos seiner beiden toten Brüder zum Beispiel. Oder der merkwürdige Vater seiner Mutter, sein „schiefer Großvater, der ihm ein Rätsel ist, ganz im Gegenteil zum Vater seines Vaters, der ein offenes und lustiges Gesicht hat – ein echter Antinazi. Oder sein Vater als Nachrichtenoffizier im besetzten Paris, der gerade zum Militär eingezogen, jung und frisch, keck dem Feind ins Gesicht schaut. Oder seine Mutter, adrett im Tenniskostüm. Oder, schön wie Grace Kelly, vor dem Bayreuther Festspielhaus.

    Auf einer Photographie sieht er sich selbst, wenn er spielt, wie er da beim Spazierengehen einem Teddybären gleich zwischen seinen Eltern hängt. Die hat er selber auf den Flügel gestellt. Früher lag sie im Keller im Schrank, unter hundert anderen versteckt. – Immer dann, wenn er eine ohnmächtige Wut im Bauch hat, donnert er auf die Tasten und lässt die Bilder auf dem Flügel tanzen wie verrückt: „Du spielst ganz toll, mein Junge, sagt sein Klavierlehrer zu ihm, „warum aber immer so laut? Damit die Bilder tanzen", antwortet er lakonisch.

    „In dir erkennt man die typische Frau nach der Trümmerfrau, sagt sein Vater zur Mutter, „du hast das Gröbste hinter dir und willst jetzt endlich das schöne Leben, nachdem er im Halteverbot bei laufendem Motor ewig auf seine Frau gewartet hat, die noch schnell im Laden ihre Bestellungen abholen muss. „Und mit dir habe ich die beste aller Partien gemacht!", antwortet sie. – Das erzählt sie auch jedem in der Stadt, wenn sie in ihrem Karmann Ghia mit einem der Dienstmädchen beim Einkaufen unterwegs ist: „Ich helfe beim Wiederaufbau und mache alles schön. Und mein Mann hilft mir dabei, weil er gut verdient."

    Am Abend legt man vor dem neuen Fernseher die Füße hoch und macht es sich gemütlich. Jeden Abend, wenn man zuhause ist und keinen Besuch hat. Bald gibt es schon zwei Kanäle, was zwischen ihm und seinem Vater zum Krach führen kann. Die Mutter lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie erzählt von ihren Einkäufen, während der Vater die umfangreiche Briefmarkensammlung komplettiert und nur die Tagesschau sehen möchte: „Du wirfst mein Geld zum Fenster raus, sagt er. Sie aber springt auf und macht vor laufendem Programm mit einer quietschenden Pirouette vor dem Fernsehgerät ihr eigenes Programm: „Nun sieh doch hin, das nennst du Geldverschwendung, das neue Kostüm, du hast es noch gar nicht angeschaut, es ist doch wie für mich gemacht, findest du nicht auch, so schau doch her! Weitere Pirouetten. Er verzieht sich nach oben, in sein Kinderzimmer und zieht die Tür hinter sich zu.

    Im Kinderzimmer

    „Träumt sie etwa von einem anderen, einem ungeahnten Leben? Er denkt an seine Mutter. „Vater will ein anderes, glaubt er, ist sich aber nicht sicher. Sein Kopf kreiselt. „Meine Eltern?" – er ist verwechselt worden!

    Als die Gedanken endlich in seinen Gefühlen versinken, fühlt er sich ganz unvermittelt eigentümlich beschwingt. Die angenehme Dunkelheit, welche sich in seinem Zimmer vor ihm ausbreitet, belebt der Lichtscheinhauch einer fernen Straßenlaterne, welche draußen in den vom Nachtwind leise bewegten Zweigen vor sich hin schaukelt. In sanft schimmernder Wellenbewegung spielt der Raum mit seinen Proportionen und Konturen, eröffnet ihm raumlose Landschaften, die in zartem Wechsel beinahe unmerklich ihren Charakter verändern: Nähe und Ferne paaren sich, drinnen ist draußen und draußen drinnen. Er macht sich auf den Weg; dorthin will er.

    Er hat noch nicht ein paar Schritte getan, als er hinter sich die bramarbasierende Stimme seines Großvaters hört, der, als er sich erschrocken umwendet, in der jetzt weit geöffneten Zimmertüre aufragt und mit ausfahrenden Gesten ihm von wilden Jagden berichtet. „Merkwürdig, denkt er, „was macht mein ‚schiefer' Großvater hier? – Hat seine Mutter ihm ihren Vater nachgeschickt, um ihn zurückzuhalten?

    Der Großvater erzählt ihm von seinen Kasperlepuppen, die ihm den Schlaf geraubt hätten: Selbst er, der Großvater, hätte es zunächst für unmöglich gehalten, so entfährt es dem aufgebrachten Alten mit schwerem Atem, aber die Gretel und der Teufel hätten an der weit ausschwingenden Lampe gehangen und sich über ihn – den Witwer da unten allein im Bett – lustig gemacht und dabei auch noch demonstrativ wild Zärtlichkeiten ausgetauscht, so dass die Lampe beinahe aus ihrer Verankerung gerissen und ihm auf den Kopf geflogen wäre. Wenn, Gott sei Dank, nicht im letzten Augenblick das Krokodil gekommen wäre und von der Kommode aus warnende, ja flehende Zeichen nach oben zu Gretel und Teufel und Himmel hin gemacht hätte, um das Allerschlimmste zu verhüten. Als plötzlich, für ihn vollkommen überraschend, um sein Bett herum ein wahrer Veitstanz verrückt kostümierter Affen losgegangen wäre, die ihn daran hätten hindern wollen, das Bett fluchtartig zu verlassen, was doch die letzte Möglichkeit gewesen wäre, dem Inferno zu entkommen. In Panik habe er sich aufgerichtet, mit buchstäblich zu Berge stehenden Haaren, als er mit einem Male den Paradiesvogel auf sich herabstürzen sah. Dessen mörderischer Attacke habe er zwar mit einem verzweifelten Satz zur Seite gerade noch ausweichen können. Aber dann – mit gefrorenem Blut in gefrorenen Adern – sei er in seinem Bett erstarrt, weil eine Armee aus Mickeymausfiguren in Ritterrüstungen vom Fußende des Bettes gespenstisch mechanisch über die Bettdecke gegen ihn vorgerückt kam und ihn dazu gezwungen habe, sich mit unbeholfenen Sätzen ans Kopfende seines Bettes zurückzuziehen, wobei er sich, nicht nur als Großvater, lächerlich vorgekommen sei, weil er beinahe sein Gesicht verloren hätte. Denn unter seinem völlig zerwühlten Kopfkissen heimtückisch versteckt, habe ein Nilpferd auf ihn gewartet, um ihm, dem Großvater, einen halben Todesstoß zu versetzen und ihn mit seinen wilden Hauern in den Hintern zu beißen. Vor Schmerz habe er aufgeheult, was die Gretel augenblicklich mitleidsvoll dazu veranlasste, sich den anzüglichen Fängen des Teufels zu entreißen, um sich – im freien Fall von der Lampe wie eine weltberühmte Akrobatin – nach unten in seine Arme zu werfen. Sofort habe die Gretel angefangen, herzzerreißend zu weinen, um urplötzlich und vollkommen überraschend, ekstatisch aufzulachen und ihn so inbrünstig an die Brust zu nehmen, wie er, der Großvater, es in seinem ganzen langen Leben von keiner Frau je hätte sich erträumen dürfen.

    Am nächsten Morgen

    Am nächsten Morgen erzählt er begeistert beim Frühstück davon, dass der Großvater ein Verhältnis mit der Gretel hat: „Sie ist ihm einfach ins Bett gesprungen", und das ist dem Großvater in seinem ganzen Leben noch nie passiert, dass eine Frau so mir nichts dir nichts ihm in sein warmes Bett hüpft, und das auch noch splitterfasernackt von oben wie ein Himmelsgeschenk, so dass er – ohne es richtig zu wollen – einen Steifen kriegt.

    „Den habe ich sogar schon einmal gesehen, als ich ohne anzuklopfen ins Badezimmer komme und den Großvater sehe, wie er sich rasiert. Unten, unter seinem Busch heraus, wächst eine riesige Palme empor, mit einem kleinen glitzernden Tropfen als Krone oben drauf, wohl um die Bienen anzulocken", sagt er mit der Stimme eines Botanikers.

    „Wenn dein Großvater zu Besuch ist, hat man ihn im Badezimmer nicht zu stören, sagt seine Mutter, „im Duschzimmer liegt die Zahnpasta, was musst du da auch im Badezimmer herumschnüffeln! – „Der darf ja sogar in meinem Bett schlafen, wenn er zu Besuch ist, und ich muss in die Ritze, versucht er sich zu wehren. „Damit ist jetzt Schluss, dafür sind wir alle zu alt, sagt sein Vater entschieden, „das nächste Mal

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