Der Symbiont
Von B. F. Joseph
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Über dieses E-Book
Martin Martens wird ins Weltall entführt. Er findet sich in einem unglaublichen Sonnensystem wieder, in einem lufterfüllten Ring um den fremden Stern. Dort kreisen unzählige Planetoiden in der gemeinsamen Umlaufbahn; eine völlig unmögliche Konstellation. In einem Feuerwerk phantastischer Abenteuer begegnet er faszinierend fremdartigen Völkern, taumelt aus einer Auseinandersetzung in die nächste. Neben den äußeren Problemen beschäftigt ihn auch noch das Ringen mit seinem Entführer, dem mentalen Symbionten, der von ihm Besitz ergreifen will.
Teil 1 der Trilogie "Kosmische Pfade"
B. F. Joseph
Tausende Erzählungen wurden mir geschenkt, vom Gilgamesch-Epos und der Odyssee bis zu Schattschneiders "Selbstgespräch mit Protoplasma" oder Komareks "Polt"-Krimis. Wie vielen Menschen durfte ich da in ihre Gedankenwelten folgen, Grimmelshausen etwa, oder Goethe, Nestroy, Karl May, Maupassant, Kafka, Dürrenmatt, Ray Bradbury, A. E. vanVogt, Silverberg, Philip K. Dick, Somerset Maugham, Agatha Christie, Graham Greene, Peter O ́Donnell, E. C. Tubb, William Voltz, Ernst Vlcek, James Tiptree jr., Cordwainer Smith, Wolf Haas, Daniel Kehlmann - um nur einige zu nennen, die mir besonders am Herzen liegen.Irgendwann musste ich ja dann den Punkt erreichen, an dem ich das Bedürfnis empfand, selbst zu gestalten, etwas auch selbst zurückzugeben für all die Schätze, die ich empfangen durfte.
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Der Symbiont - B. F. Joseph
1. Entführt
Martin gehörte zu jenen jungen Leuten, die es nicht als verrückt ansahen, in ihrem Urlaub tagelang allein durch ziemlich unberührte Waldgebiete zu wandern, nur mit den allernötigsten Dingen ausgerüstet.
Darum machte es ihm wenig aus, diese Nacht auf einem Strohhaufen verbringen zu müssen. Er rollte seinen Schlafsack auf und breitete ihn über das krachdürre Stroh, das in Bündel zusammengeschnürt und übereinander gestapelt war. Rucksack und Fotoapparat stopfte er in ein Loch zwischen den Ballen – man konnte ja nicht wissen! Bald darauf fiel er in einen tiefen Schlaf. Immerhin hatte er eine beträchtliche Tagesleistung hinter sich, und die würzige Landluft tat ein Übriges.
Allzu lang konnte er noch nicht geschlafen haben, als ein Heulen ihn hochschrecken ließ. Sollte es hier Wölfe geben? Martin tastete nach seinem Stock, einem knotigen Prügel, der sowohl Wanderstab als auch Waffe sein konnte. Dann spähte er durch die Finsternis; der Mond war noch nicht aufgegangen.
Vor ihm lag dunkel das Stoppelfeld, zerschnitten vom Weg, auf dem er vor ein paar Stunden aus dem Wald gekommen war. Drei Felsblöcke säumten seinen weiteren Verlauf. Findlinge, so wurden sie hier genannt. Doch – waren es nicht zuvor nur zwei gewesen? Hatte er den dritten etwa übersehen? Das war wohl schlecht möglich, denn er war der größte und zudem am regelmäßigsten geformt.
Während Martin noch darüber nachsann, war ihm, als würde hinter diesem Findling ein Leuchten bemerkbar. Tatsächlich – es wurde immer heller. Jemand musste ein Feuer entzündet haben, oder war das ein elektrisches Licht? Martin tippte auf Letzteres, denn er konnte kein Flackern erkennen.
Wer hatte mitten in der Nacht etwas in dieser verlassenen Gegend zu suchen? Auf alle Fälle beschloss Martin nachzusehen. Er glitt so leise wie nur möglich vom Strohhaufen und vergaß auch seinen Stock nicht. Stimmen wurden hörbar, tief und dunkel. War er gehört worden?
Er hielt den Atem an, als er Bewegungen hinter dem Fels erspähte. Etwas hüpfte auf und nieder und vollführte dazu noch fließende Zuckungen in seitlicher Richtung.
Martin sah ein, dass er näher heranschleichen musste, um Genaueres zu erkennen. Das Stoppelfeld unterstützte ihn jedoch nicht in seinem Bemühen, es den Indianern Nordamerikas in ihrer Kunst gleichzutun, sich unbemerkt an jemanden heranzupirschen.
Die dumpfen Stimmen verstummten, als er gar zu laut raschelte. Etwas trat hinter dem Findling hervor – und Martin stockte das Blut in den Adern!
Auf zwei stämmigen Säulenbeinen erhob sich ein unförmiger Klumpen, an dem verschiedene weitere Auswüchse saßen, die in ständiger Bewegung schienen. Ein jeder Fortsatz versuchte, die anderen an Fremdartigkeit zu übertreffen, sowohl in Form als auch in Gestik, so dass ein derart bizarres Gesamtbild entstand, dass Martin gar nicht erst an Mummenschanz dachte. Irgendwie war ihm von vornherein klar: Es konnte sich nur um einen Außerirdischen handeln!
An dunklen Samt von ledriger Beschaffenheit erinnerte die Stimme des Fremden.
Martin suchte Deckung in einer Ackerfurche. Doch nachdem er den menschenhandähnlichen Auswuchs direkt auf sich gerichtet sah, begriff er, dass die unverständlichen Sätze an ihn gerichtet waren. Sinnlos, weitere Handlungen zu überlegen, wenn sich aus dem Pseudozeigefinger ein nebeliger Lichtstreif bildet, der auf einen zu kriecht, einen trifft, erst lähmt und dann endlich jeglicher Besinnung beraubt!
*
Solltest du eines Tages in einem großen, leeren Raum aufwachen, der rund geformt ist und weiß leuchtet, so milchig weiß, dass man meinen könnte, das Licht habe Gestalt angenommen und bilde nun eine nahezu transparente architektonische Gliederung jenes Raumes, hinter der man weitere Personen oder auch Gegenstände zwar erahnt, doch nie wirklich wahrnehmen könnte, – wenn du also je diese Eindrücke gewinnst, dann befindest du dich auf einem arbonischen Sklavenkutter.
Martin wusste zwar nicht, was unter einem arbonischen Sklavenkutter zu verstehen war, doch der Rest der Mitteilung traf seine Lage so genau, als hätte er sie selbst beschrieben.
Was für einer Mitteilung?, fuhr es ihm jäh durch den Kopf. Eher war es wohl doch sein eigener Gedankengang gewesen, den er geistig bloß ungewöhnlich klar artikuliert hatte – wenn man von den beiden letzten Worten absah. In Verbindung mit ihnen schien die ganze Information ...
Martin war verwirrt. Selbst als die Erinnerung an jene nun traumhaft wirkenden Geschehnisse in ihm zurückkehrte, vermochte er nicht, seine gegenwärtige Lage irgendwo sinnvoll einzuordnen. Sie passte einfach in kein bekanntes Schema. Dazu kam noch die Unmöglichkeit, sich zu bewegen. Zwar funktionierten nun wieder alle seine Sinne, doch die Bilder, Geräusche, Gerüche und Tasterfahrungen vermittelten ihm nichts Bekanntes. Stand, lag, hing, schwebte er? Der Körper war wohl ausgestreckt, berührte aber nirgends etwas Festes; oder überall das sichtbare Nichts?
Da er durch Erfahrungen körperlicher Art zu keinem Ergebnis gelangen konnte, trat noch einmal jener Satz in den Vordergrund seiner Gedanken. Verbunden mit seiner Erinnerung an die (letzte?) Nacht, gewannen auch die Schlussworte darin Sinn: Arbonisch konnte bedeuten, der Herkunft des Fremden zugeordnet, und Sklavenkutter ein zweckgebundenes Transportmittel desselben.
Wer aber war der Sklave: Martin oder der Außerirdische? Die Lage Martins gab ziemlich deutlich die Antwort; nur, wo war der andere? Im milchig weißen Licht verborgen, sagte Martin sich ironisch. Da befand er sich, kaum dass er sich´s versehen hatte, mitten in einem unwahrscheinlichen SF-Abenteuer. „Fremde Monster entführen nichtsahnenden Erdenmenschen in die Sklaverei im Weltraum." Martin lachte. Die meisten Romanleser hätten romantische oder technisch-fantastische Beschreibungen eines Raumschiffsinneren erwartet, doch er lag in einem anscheinend leeren, milchig weiß leuchtenden Raum – wenn er überhaupt lag! Alles wirkte so unpassend wie nur möglich.
So sann er noch eine Weile vor sich hin, aber die Kette seiner Überlegungen schloss sich jedesmal zu einem Kreis, aus dem es keinen Ausweg gab, es sei denn, er ließe seiner Fantasie freien Lauf. Aus Langeweile malte er sich in den buntesten Variationen aus, wie es später weitergehen sollte. Doch keine der ersonnenen Möglichkeiten traf ein.
*
Das Folgende wirkte wiederum äußerst untypisch. Der große, leere Raum mit den Lichtwänden wurde allmählich von einem leisen Wispern und Raunen erfüllt, und spinnennetzartige, feine Sprünge durchzogen das milchige Weiß. Die Erscheinungen intensivierten sich noch: Schwingend schwollen die Geräusche an, die Fäden verfärbten sich gelb und dann orangegelb, Ozongeruch verbreitete sich. Als die akustischen Wogen immer rascher aufeinander folgten und ohrenbetäubend laut wurden, als heftige Entladungsblitze zwischen den nur noch wenigen weißen Flecken über rote Risse hinwegsprangen, begriff Martin endlich, dass etwas mit dem fremden Raumschiff nicht in Ordnung war. Was aber wirklich vorging, konnte er nicht einmal vermuten.
Und dann geschahen mehrere Dinge zugleich: Der Lärm endete in einem furchtbaren Krachen, auf das eine beängstigende Stille folgte; die ehemals weißen Lichtwände erloschen vom schmutzigen Rotbraun zur völlig schwarzen Finsternis. Und plötzlich war auf eine unangenehme Weise Boden vorhanden. Er rutschte unter Martins hart aufschlagendem Rücken weg, berührte ihn abermals, entglitt von neuem und blieb dann endgültig verschwunden. Diese Rutschpartie und der darauffolgende Schwebezustand hatten Martin so arg zugesetzt, dass er befürchtete, jeden Augenblick könnte sein Magen hochkommen.
Da sah er plötzlich die Sterne! Langsam zogen sie durch sein Gesichtsfeld und verschwanden am anderen Ende wieder hinter einem großen, schwarzen Fleck. Den kannte Martin doch! Die Form erinnerte in frappanter Weise an jenen dritten Findling. Hieß das, er war außerhalb des fremden Raumschiffes, schwerelos schwebend, also im freien Weltraum? Aber er atmete doch Luft in seine Lungen ein, und die sichtbaren Sterne flimmerten ein wenig. Das bedeutete, dass ihn eine Atmosphäre umgab, deren Dichte und Zusammensetzung der irdischen Lufthülle gleichen musste. Wie sollte das alles zusammenpassen?
Martin fand nun gar nichts mehr dabei, als auch noch die Sonne aufging. Nein, nicht die, sondern eine Sonne, verbesserte er sich, denn sie leuchtete nicht gelb wie Sol, sie strahlte vielmehr bläulich-weiß. Zuvor war sie hinter dem Raumschiff verborgen gewesen, das sich jetzt immer weiter von Martin entfernte. (Oder war es umgekehrt?) In der grellen Beleuchtung war nun deutlich ein großes Leck zu erkennen, das vermutlich vom Zusammenstoß mit einem anderen Körper stammte. Martins Augen suchten die Umgebung ab, in der Hoffnung, das zweite Objekt zu erspähen. Es erstaunte ihn keineswegs, gleich deren acht zu finden. In dieser Lage wäre nicht einmal ein U-Boot-Überfall auf ein Indianerdorf in den Alpen unwahrscheinlicher erschienen als die Vorgänge rund um ihn!
Da selbst Verrückte einen logischen Aufbau ihrer krankhaft verzerrt empfundenen Umwelt brauchen, versuchte sich auch Martin, der bereits langsam an seinem Verstand zu zweifeln begann, in einer vernunftsmäßig erklärbaren Beschreibung seiner Umgebung. Das Raumschiff, das ihn entführt hatte, war mit einem anderen Körper zusammengestoßen, dabei beschädigt worden und hatte ihn deshalb freigegeben. Gegenwärtig schwebte Martin in einiger Entfernung von ihm durch einen lufterfüllten Weltraum. Wenn er etwas unternehmen wollte – und das musste er -, hatte er sich einem der acht Objekte zu nähern, die vor ihm so majestätisch im violetten Nichts schwammen. Das war jedoch leichter gesagt als getan! Im schwerelosen Raum bewegt sich ein Mensch nur höchst unbeholfen und langsam fort, er hat ja keine Reibungsfläche zur Verfügung, die ihm Widerstand bieten könnte.
Martin erinnerte sich an die Versuche der ersten Weltraumflieger. Die Astronauten waren mit Schwimmversuchen am erfolgreichsten geblieben, also probierte auch er es damit. Das All schlug Purzelbäume, und Martin bildete die Nabe des riesigen Rades! Mit Schwerpunktverlagerungen erzielte er nur ungewollte Rotationen, die kaum dazu angetan schienen, ihn irgendeinem der acht Ziele näherzubringen.
Da ihm jedoch nach einiger Zeit der Resignation langweilig wurde, begann er von neuem mit seinen Versuchen und stellte sie nun bereits überlegter an. Er zog Jacke und Hemd aus und band beide Kleidungsstücke mühselig an je einem Bein fest und am Gürtel. Darauf spannte er mit den Händen das Ganze zu einem notdürftigen Flügelersatz aus und begann zu flattern. Am Luftzug glaubte er zu erkennen, dass er sich tatsächlich fortbewegte. Es mochte aber auch sein, dass dieser vom „Flügelschlag" selbst erzeugt wurde.
Mangels einer besseren Idee setzte Martin seine Bemühungen weiter fort, trotz einiger unbeabsichtigter Salti. Später hatte er den Eindruck, als sei er den acht Himmelskörpern nähergekommen. Möglicherweise hatte ihm auch das defekte Raumschiff schon vorhin einen Bewegungsimpuls versetzt.
Langsam vergrößerten sich die acht Objekte, und dahinter tauchten einige weitere auf. Für eins von ihnen musste er sich nun entscheiden. In der Hoffnung auf pflanzliche Nahrungsmittel wählte er ein grün erscheinendes. Die Kugel mochte einige zehn Kilometer Durchmesser haben, so genau konnte man das, ohne Bezugspunkte frei schwebend, nicht abschätzen.
Die grüne Farbe erwies sich tatsächlich als Hinweis auf Vegetation. In wenigen Metern Höhe strich Martin über den fremdartigen Dschungel. Die geringe Anziehungskraft des Planetoiden reichte eben noch, den aus einer tangentialen Bahn nahenden Martin einzufangen. Somit bildete er jetzt den lebendigen Mond dieser Miniaturwelt. Schmunzelnd stellte er sich vor, wie er für einen hypothetischen Bewohner des Himmelskörpers am Firmament aufging. Als er aber bedachte, wie wenig umgänglich sein Entführer ihn behandelt hatte, gefror ihm das Grinsen zu einer verzerrten Grimasse, und er verspürte das Verlangen nach einer Deckung.
Nach ein paar Umkreisungen fand er eine geeignete Landestelle. Moosartige Pflanzenpolster fingen seinen ohnehin sanften Fall auf. Er blieb einige Minuten liegen, musterte die Umgebung, entledigte sich seiner seltsamen „Flügel" und sog den betäubenden Duft Zehntausender Blüten ein, zwischen denen er, fast schwebend, eingebettet lag, unter einem violett leuchtenden Himmel.
Noch vor fünfzig Jahren hätte ich es für unwahrscheinlich gehalten, mich auf einer Welt Becedes wiederzufinden, wurde in Martin gedacht.
„Wie komme ich dazu, mir solch einen Unsinn zusammen zu spintisieren?", fragte er sich sogleich verblüfft. „Wenn ich schon unwillkürlich einen Namen für diesen Planetoiden verwende – wobei zu untersuchen bliebe, wie ich gerade auf Becede komme -, so ist die Zeitangabe blanker Unsinn, da ich noch nicht einmal drei Jahrzehnte existiere.
Irgendetwas in mir stimmt nicht, und ich kann nicht feststellen, wie normal oder verrückt ich eigentlich bin. Etwas geht vor in mir, das sich meiner bewussten Kontrolle entzieht. Ich ..."
Martin wurde von seinen Gedanken abgelenkt, da ein Schatten auf ihn fiel. Er blickte auf und sah am violetten Himmel einen Gegenstand, der mit großer Geschwindigkeit vorbeizog. Ein Mond? Oder das Raumschiffswrack? Oder gar ein Lebewesen wie zuvor er selbst? Noch konnte er es nicht genau erkennen, da es im Gegenlicht der weißblau strahlenden Sonne flog. Als es aber in einen größeren Winkel zu ihr kam, glaubte Martin, rhythmische Verformungen an dem Objekt zu bemerken, wie sie nur von einem Lebewesen stammen konnten. Orange und Ocker mischten sich und verliehen der Haut des Wesens ein eigenartig mattes Aussehen.
Martin zog sich vorsichtig in den Schatten einer bizarren Pflanze zurück, ließ aber dabei kein Auge von dem Flugwesen. Es als Wesen zu bezeichnen, fiel Martin noch ein wenig schwer. Daran war die Form schuld: ein Krug mit ausgestülpten Rändern am einen, mit einem halbkugelförmigen Wulst am anderen Ende. Die Verformung des Körpers, die in regelmäßigen Zeitabständen stattfand, ließ auf die Technik der Fortbewegung schließen. Durch die Vorderöffnung wurde Luft angesaugt, im Leib verdichtet und durch eine düsenförmige Wulstöffnung am anderen Ende wieder ausgestoßen!
Staunend sah Martin ihm nach, bis es verschwand.
Vor den Düsenlöwen musst du dich in Acht nehmen. Wenn sie hungrig sind und Beute wittern, saugen sie nicht nur Luft an ...
Schon wieder diese Stimme in seinen Gedanken! Wie war es möglich, dass sein Gehirn etwas dachte, das sich vom Bewusstsein nicht kontrollieren ließ?
„Bin ich schizophren?, fragte er sich. „Ich unterhalte mich mit mir selber wie mit einem Fremden, der mir auch noch seltsame Antworten gibt!
Das wäre noch kein zwingender Hinweis auf Schizophrenie, Martin. Nein, es ist wohl an der Zeit dich aufzuklären.
Martin sah um sich, konnte aber niemanden entdecken.
„Bist du Telepath, dass du aus meinem Geist zu mir sprichst?"
Auch das. Doch es ist müßig, nach mir Ausschau zu halten. Du kannst mich nicht sehen; ich bin in dir!
„Also doch Persönlichkeitsspaltung? Oder ..."
Nein. Ich werde dir jetzt alles erklären, muss dazu aber weiter ausholen.
Dass in dieser Galaxis verschiedene intelligente Lebensformen existieren, ist dir ja nichts ganz Neues mehr, nachdem du die Arbonier bereits kennen gelernt hast.
Einige von den galaktischen Völkern, und zwar meist solche, die das Geheimnis der Reise zu den Sternen gelöst haben, schlossen sich vor undenklichen Zeiten zu einem losen Bündnis zusammen, das im Laufe der Epochen oftmals den Zweck seines Bestehens abänderte. Es war auch so, dass die Zahl der Mitgliedsvölker wechselte. So manche starben aus oder fielen einer Naturkatastrophe zum Opfer, einige wurden wegen Vergehen gegen die Satzungsbestimmungen ausgeschlossen, andere stießen neu hinzu.
Was immer auch zwischen den Verbündeten vertraglich festgelegt wurde, ein Punkt verlor nie seine Gültigkeit: Kein Mitglied darf eine Handlung begehen, die einem anderen Mitglied schaden könnte.
Die lautlose Stimme in Martin schwieg eine Weile, um das Gesagte auf ihn einwirken zu lassen.
„Wie kontrolliert man die Einhaltung dieser Regel?", wollte Martin wissen.
Zu diesem Zweck hat man uns Wächter bestellt, fuhr die Stimme fort. Unsere Natur befähigt uns, die Körper anderer Wesen als Aufenthaltsort zu benützen.
„Symbiose! und „Parasiten!
, fuhr es durch Martins Gedanken.
Diese Bezeichnungen treffen nur sehr bedingt zu und im weitesten Sinn, Martin, wenn du sie in diesem Fall anwenden möchtest. Ich beziehe zwar Energie aus deiner Nahrung, doch könntest du den Anteil nicht einmal in Promillen ausdrücken. Die Symbiose bringt keinem von uns beiden Nachteile und kann leicht beendet werden.
„Und seit wann wohnst du in mir?"
Schon seit immer. Du hast mich von deinem Vater geerbt.-
Ich wurde also als Wächter über die Erde eingesetzt. Fälle von Sklavenhandel waren uns gemeldet worden, wir hatten jedoch keine Beweise gegen die Arbonier. Es war notwendig, sie auf frischer Tat zu ertappen. Ich musste auch nur wenige Generationen lang warten, bis ich meinen Wirt – dich, Martin, – als Sklavenanwärter einschleusen konnte. Leider passierte dann diese Kollision mit einer Welt Becedes. Wir müssen sehen, wie der Wachtpunkt Becede zu erreichen ist. Von dort aus kann ich eines unserer Polizeischiffe herbeirufen, den Beweis unseres Verdachts melden und dich der Rückwanderungsbehörde übergeben.
„Du sprichst, als sei Zeit für dich kein Problem. Wie viele Jahre sind vergangen, seit du zur Erde gesandt wurdest?"
Ich habe eure Erdenjahre nicht gezählt, doch dein Urgroßvater war mein erster irdischer Wirt.
„Dann hast du etwa hundert Jahre auf der Erde verbracht!, staunte Martin. „Wie groß ist deine Lebenserwartung?
Was dir ein Erdenmonat bedeutet, war mir dieser Zeitraum.-
Dennoch drängt auch mich die Zeit: Wir sollten so bald wie möglich zum Wachtpunkt Becede aufbrechen!
„Dazu brauche ich Nahrung; und ein Transportmittel. Ich kenne weder die Pflanzen noch die Tiere dieser Welten. Wie stellst du dir die Reise also vor?", wandte Martin ein.
Der Wächter zeigte ihm einige Pflanzen, die fremdartige Früchte trugen. Sie sind genießbar für deinen Organismus, behauptete er. Martin stellte fest, dass sie sogar vorzüglich mundeten. Auf Anraten des Wächters legte er auch noch einen Vorrat an, den er in seinem zusammengeknoteten Hemd unterbrachte.
Aus Lianen-ähnlichen Pflanzen fertigte er dann ein seltsames Gebilde, ganz nach den Vorstellungen des Wächters, ohne jedoch den künftigen Verwendungszweck zu erraten.
Es ist das Pferdegeschirr für unsere Kutsche, antwortete der Wächter auf eine Frage Martins.
„Schön, und woher nehmen wir hier Pferde? Vor allem aber, was sollten wir im schwerelosen Raum mit ihnen anfangen?"
Unser Zugtier wird ein Düsenlöwe sein, eröffnete der Wächter dem verdutzten Martin. Du wirst ein Exemplar einfangen und vor die Kutsche spannen.
„Ich dachte, die Tiere seien gefährlich", wandte Martin ein.
Nicht gefährlicher als ein irdischer Löwe. Mit Schläue und ein wenig Geschick kann man sie zähmen. Ich habe von einem Volk Becedes gehört, das Düsenlöwen züchtet.
Die Kutsche wurde ein noch seltsameres Gebilde als das Geschirr. Martin brach zwei T-förmige, dicke Äste von den Bäumen, was ihm wegen ihrer porösen Beschaffenheit nicht schwer fiel, verband sie miteinander unter Verwendung weiterer Lianen und Äste zu einem Viereck und knüpfte daran das vierseilige Geschirr, das weiter vorn in zwei Ringen endete.
Auf den T-förmigen Ästen findest du Halt während der Fahrt, erklärte der Wächter, und der Rückstoßluftstrahl kann ungehindert durch den freien Raum zwischen den Ästen hindurch strömen. Jetzt aber zu unserem Düsenlöwen ...
Der Wächter entwickelte für Martin einen Plan, wie er relativ ungefährdet einen Düsenlöwen fangen konnte. Martin willigte ein, obwohl ihm die Sache nicht wenig riskant erschien. Er war aber auf die Ratschläge des Wächters angewiesen, wenn er je eine Chance auf Heimkehr erlangen wollte.
Martin rüstete sich mit einer Liane aus, stieß sich kräftig von der Oberfläche des Planetoiden ab und schlug eine Kreisbahn um die kleine Welt ein. Damit hatte er den Schutz der Deckung aufgegeben und war für jedes visuell orientierte Wesen der näheren Umgebung sichtbar, für Räuber wie Düsenlöwen sogar ein Köder!
Nachdem er die zehnte Umkreisung vollendet hatte, gab Martin das Mitzählen auf. Er starrte in die scheinbar unendliche Weite des lufterfüllten Weltraums. Der Wächter hatte ihm berichtet, dass hier Zehntausende von Miniaturwelten in mehr oder weniger dichten Gruppierungen die Sonne Becede umkreisten. Ein seltsames Kraftfeld sorgte dafür, dass sich die Millionen Kilometer ausgedehnte Atmosphäre nicht in den Weltraum verflüchtigte. Die Planetoiden allein hätten das nicht vermocht. Dieser Ring um die Sonne Becede bildete für zahlreiche intelligente und niedere Lebewesen einen exotischen Siedlungsraum.
Martins Augen suchten den nächsten Stern, und er fragte sich, ob er wohl zu den bewohnten zählen mochte. Seltsam erschien ihm aber, dass sich dieser Himmelskörper anders bewegte als seine Nachbarn. Als er ständig größer wurde, erkannte Martin erst, wie nahe der Düsenlöwe bereits war!
Gib Acht, dass du nicht in sein Maul gesaugt wirst!, warnte ihn der Wächter. Lockere die Schlinge!
Immer rascher vergrößerte sich der Umriss des Raubtiers. Martin sah es genau von vorn. Alles an ihm schien zu pulsieren: der Maulwulst, der Körperumfang und sogar seine Umgebung. Die angesaugte Luft blähte die Bestie auf und vermittelte so den Eindruck, als sei diese noch näher herangekommen. Martin hatte die Entfernung erneut falsch eingeschätzt, da er nicht ahnen konnte, wie groß der Düsenlöwe wirklich war. Außerdem fehlte ihm hier im freien Raum jeder Bezugspunkt. Es war aber zu seinem Vorteil gewesen, das Tier bereits näher geglaubt zu haben. So blieb ihm mehr Reaktionszeit, um mit Hilfe von Schwerpunktverlagerungen ein Geringes auszuweichen und die Lianenschlinge weiter zu lockern.
Dennoch traf ihn ein furchtbarer Stoß, als das Raubtier mit seinem Vorderende gegen ihn prallte. Wie ein Gummiball wurde der benommene Jäger davon geschleudert, und die Schlinge verfehlte den Maulwulst meterweit.
Martin schlug die tollsten Purzelbäume im freien Raum. Es kostete ihn alle Mühe, seine Bewegungen wieder einigermaßen zu beruhigen. Indessen hatte aber der Düsenlöwe bereits gewendet und näherte sich mit beängstigender Geschwindigkeit.
Nur dem Umstand, dass er sich immer noch langsam überschlug, hatte Martin es zu verdanken, dass er auch diesmal nicht im Maul der Bestie landete. Die Schlinge verfing sich zwar am Maulwulst, aber der Schrei des Wächters in Martins Gedanken Zieh fest! nützte nichts. Mit einem gewaltigen Ruck befreite sich das Raubtier von der verknoteten Liane. Der neue Impuls trieb Martin auf „seinen" Planetoiden zu. Er fürchtete bereits einen heftigen Aufprall, driftete jedoch tangential knapp über der Oberfläche an ihren Unebenheiten vorbei.
Er hatte genug von seinen Rodeo-Abenteuern und warf die Schlinge, die er immer noch krampfhaft umklammerte, über die Äste eines Baumes unter ihm. Etwas unsanft, aber heil geblieben, landete er.
Wie es scheint, hat es auf diese Weise keinen Sinn, meldete sich der Wächter. In seinem natürlichen Lebensraum befindet sich der Düsenlöwe dir gegenüber im Vorteil.
Wir müssen zu einer List greifen.
Siehst du die schwarzen Früchte jener Staude dort drüben? Sie werden Chanat genannt und enthalten genügend Nervengift, um zehn Erdenmenschen auf der Stelle zu töten. Pflücke eine Chanatfrucht und wirf sie dem Düsenlöwen in die Flugbahn!
„Was sollen wir mit einem toten Düsenlöwen?", wollte Martin wissen.
Er wird durch das Gift nur ein wenig betäubt werden. Diesen Zeitraum der Passivität musst du nützen, um ihm das Kutschengeschirr überzustreifen. Wenn er danach aus seiner Betäubung erwacht, wird er uns auf seine – vorerst sicher etwas stürmische – Reise mitnehmen.
Mit einer gewissen Scheu pflückte Martin eine Chanatfrucht und schleuderte sie in eine Umlaufbahn. Der Düsenlöwe hatte sich die ganze Zeit über in der Nähe des Planetoiden herumgetrieben, weil er hoffte, dass Martin sich wieder aus seiner Deckung wagen würde. Noch war die Gier des Raubtiers nach dem Opfer nicht groß genug, dass es die Mühen einer Landung auf sich nahm. Nun schien es, als hätte sich sein Warten gelohnt: Ein dunkler Punkt entfernte sich langsam von der Miniaturwelt. Sofort beschleunigte der Düsenlöwe. Diesmal würde er genauer zielen!
Martin beobachtete, wie das Raubtier die schwarze Frucht verschlang.
Spring jetzt mit dem Gespann hinauf!, befahl der Wächter.
Martin versuchte, seine Sprungrichtung auf den Düsenlöwen zielen zu lassen, doch das Gestell mit dem Geschirr beeinflusste die Bahn seines Fluges äußerst ungünstig. Er würde die betäubte Bestie nicht erreichen.
Gib Acht! So betäubt ist sie noch gar nicht, warnte der Wächter.
Tatsächlich wendete das Raubtier seinen Kurs und schlug einen weiten Bogen ein, der es in Angriffsposition führen musste.
„Wirkt die Chanatfrucht nicht? Ist der Düsenlöwe gegen ihr Gift immun?" Martin hatte sich ganz auf die Voraussagen des Wächters verlassen.
Du musst dem Gift seine Zeit lassen. Sieh hin, der Düsenlöwe hat zu pulsieren aufgehört! Jetzt wird er dir ganz friedlich in die Arme treiben!
„Die sind zu kurz, sagte Martin trocken. „Ich verlasse mich lieber auf die Schlinge.
Es dauerte ihm viel zu lang, bis der Koloss ihn erreichte.
„Wie viel Zeit habe ich noch, ehe die Wirkung des Giftes nachlässt?", fragte er besorgt.
Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch ist Eile geboten!
Endlich schwebte das gelähmte Raubtier nur noch ein paar Meter vor Martin. Der hatte sein improvisiertes Lasso bereits vorbereitet und schlang es um den Maulwulst. Diesmal gelang seine Absicht.
Während das wuchtige Vieh Martin mit auf einen gemeinsamen neuen Kurs schleppte, bemühte sich dieser, ihm das Kutschengeschirr überzustreifen. Die Lianen mussten noch festgezurrt und auf ihre Haltbarkeit überprüft werden, und darüber verlor Martin beinahe zu viel Zeit. Er merkte das, als ein jäher Ruck ihn davon schleuderte. Der Düsenlöwe war erwacht und flog Amok!
Zu seinem Glück hatte sich Martin krampfhaft an dem Seil festgehalten, das er eben als Letztes untersucht hatte, und flog nun hinterdrein.
Es wurde eine Teufelsfahrt, ein Ritt in die Hölle! Nichts anderes konnte das Ziel der erwachten Bestie sein. Martin hätte nie gedacht, dass im schwerelosen Raum ein solcher Zickzackkurs möglich wäre. Das Vieh schlug Haken bis zu 270 Grad und jagte mit einer Geschwindigkeit dahin, dass der Fahrtwind Martin den Atem raubte. Das Geschirr ächzte, als ob es sich jeden Augenblick in seine Bestandteile oder gar in Trümmer auflösen wollte.
Trotzdem arbeitete sich Martin immer näher zum Kutschengestell vor, und als er auf einem der beiden Aststücke „saß", fand er sogar Gefallen an seiner abenteuerlichen Reise. Schließlich wagte er die ersten vorsichtigen Lenkversuche, und siehe da: Der Düsenlöwe reagierte! Das kam weniger daher, dass er plötzlich gehorsam geworden wäre, sondern resultierte einfach aus den physikalischen Gesetzen von Kraft und Gegenkraft. Zog Martin an einem oder zwei der vier Zügel, so befand sich die Kutsche nicht mehr in einer Geraden mit Vorder- und Hinterteil des Tieres. Damit stimmte die Rückstoßrichtung der ausgestoßenen Luft nicht mehr mit der ursprünglichen Fahrtlinie überein, und statt geradeaus flog der Düsenlöwe eine Kurve, deren Krümmung Martin leicht beeinflussen konnte, auch wenn die Bestie zu korrigieren versuchte.
Als ihre gemeinsame Fahrt sie an acht oder zehn Planetoiden verschiedener Größe vorbeigeführt hatte, sah der Düsenlöwe ein, dass er seinen Meister gefunden und sich in sein Schicksal zu ergeben hatte. Er verringerte sein Tempo, hielt sich geradeaus und pulsierte nur noch schwach.
Gratuliere, sagte die Stimme des Wächters zu Martin, du hast ihn gezähmt!
*
Während der Phase, da sich der erschöpfte Düsenlöwe von seinem Amokflug erholte, kontrollierte Martin noch einmal die Haltbarkeit seines Gespanns. Dabei fiel sein Blick auch mehrmals auf die Bestie. Es schien, als wäre ihre ocker-orange Haut noch matter geworden. Und an einer Stelle knapp vor der Wölbung des riesigen Körpers entdeckte Martin ein Mal. Es war seltsam geformt; an einen Kreis schloss sich eine gerade Linie an. Ein Symbol? Eine Narbe aus früheren Kämpfen?
Unwillkürlich musste Martin an den Brauch mancher Viehzüchter auf der Erde denken, ihre Rinder mit Brandzeichen zu versehen.
Ein grüner Punkt inmitten eines dunstigen Kreises zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es musste ein weiterer Planetoid sein, der etwa in ihrer Flugrichtung lag. Vorher hatte ihn der Leib des Düsenlöwen verdeckt.
„Vielleicht sollte ich dort eine Landung versuchen, überlegte er, „aber bis dahin könnte ich ein wenig ausruhen.
Er hatte seit jener Nacht seiner Entführung von der Erde nicht mehr richtig geschlafen – abgesehen von der Bewusstlosigkeit an Bord des Sklavenkutters von Arbon. Bevor er nun der Müdigkeit nachgab, schlang er sein letztes Stück Seil um die Hüften und band sich am Sitz fest. Damit war er auch für den Fall gesichert, dass der Düsenlöwe wieder plötzlich Fahrt aufnahm.
Dann dachte er an den Wächter. Ruhte auch er? Er hatte sich nun schon längere Zeit nicht gerührt. Mit dem Gedanken, dass er ihm bei weitem noch nicht alle Geheimnisse geoffenbart hatte, schlief Martin ein.
In seinen Träumen versuchte er die unwahrscheinlichen Erlebnisse zu