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Lass die Sonne scheinen
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eBook335 Seiten4 Stunden

Lass die Sonne scheinen

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Über dieses E-Book

Sesé, der inzwischen jugendliche Held aus José Mauro de Vasconcelos Autobiografie "Mein kleiner Orangenbaum", lebt mittlerweile bei einer gutsituierten Pflegefamilie. Doch wirklich angenommen fühlt er sich nicht. Daher rettet er sich in eine Fantasiewelt, in der er Besuch vom großen Schauspieler Maurice Chevalier bekommt. Dieser hat ihn im Kino sehr beeindruckt, Sesé sieht in ihm eine Vaterfigur. Auch sein Bruder Fayolle ist ihm eine große Hilfe. Mit diesen beiden – und nicht zuletzt durch die Hilfe der Kröte Adão – gelingt es ihm, sich schrittweise von seinen imaginären Freunden zu lösen und selbstständig seinen Weg zu gehen.

Am 26. Februar 2020 wäre José Mauro de Vasconcelos 100 Jahre alt geworden. Im zweiten Teil seiner romanhaften Biografie erfahren wir, wie sich sein Leben nach der großen Tragödie aus "Mein kleiner Orangenbaum" gestaltet hat. Ein ergreifender Roman vom Erwachsenwerden, reich an südamerikanischem magischem Realismus und berührenden Momenten.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Urachhaus
Erscheinungsdatum20. Feb. 2020
ISBN9783825162122
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    Buchvorschau

    Lass die Sonne scheinen - José Mauro de Vasconcelos

    Aguiar

    Erster Teil

    MAURICE UND ICH

    DIE VERWANDLUNG

    Plötzlich war alles Dunkel aus meinen Augen verschwunden. Mein elfjähriges Herz schlug aufgeregt in der ängstlichen Brust. »Mein Heiliger Jesus mit dem Lamm auf der Schulter, hilf mir!«

    Das Licht wurde heller. Und heller. Und je heller es wurde, desto größer wurde die Angst. So groß, dass ich nicht schreien konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte.

    Alle schliefen seelenruhig. Die dunklen Zimmer strahlten Ruhe aus.

    Ich setzte mich im Bett auf und lehnte meinen Rücken an die Wand. Meine weit aufgerissenen Augen sprangen fast aus dem Kopf.

    Ich wollte beten, alle meine heiligen Beschützer anrufen, doch nicht einmal der Name der Heiligen Mutter von Lourdes kam über meine Lippen. Es musste der Teufel sein. Der Teufel, mit dem sie mir immer solche Angst einjagten. Doch wenn er das Licht wäre, hätte es nicht die Farbe der Glühbirne, sondern die von Feuer und Blut, und sicher läge Schwefelgeruch in der Luft.

    Nicht einmal Bruder Feliciano konnte ich um Hilfe rufen, den lieben Fayolle. Fayolle dürfte um diese Uhrzeit in der Tiefschlafphase sein und Güte und Frieden schnarchen, dort in der Maristen-Schule.

    Eine sanfte, demütige Stimme erklang.

    »Keine Panik, mein Sohn. Ich bin nur gekommen, um dir zu helfen.« Mein Herz schlug gegen den Brustkorb, und die Stimme kam dünn und ängstlich heraus, wie das erste Krähen eines Hähnchens.

    »Wer bist du? Eine Seele aus dem Jenseits?«

    »Nein, Dummerchen.«

    Ein gutmütiges Lachen hallte durch das Zimmer.

    »Ich mache mehr Licht, aber erschrick nicht, es kann nichts Schlimmes passieren.«

    Ich brachte ein unschlüssiges Ja hervor, schloss jedoch die Augen.

    »Das gilt nicht, mein Freund. Du kannst sie öffnen.«

    Erst riskierte ich eins, dann das andere. Das Zimmer war in so schönes weißes Licht getaucht, dass ich dachte, ich wäre gestorben und im Paradies gelandet. Doch das war unmöglich. Alle im Haus sagten, dass der Himmel nicht für jemanden wie mich gedacht war. Leute wie ich kämen direkt als Bratspießchen ins Höllenfeuer.

    »Schau mich an. Ich bin hässlich, aber mein Blick ist gütig und weckt Vertrauen.«

    »Wo bist du?«

    »Hier, am Fußende des Bettes.«

    Langsam näherte ich mich der Bettkante und nahm meinen ganzen Mut zusammen, um zu schauen. Was ich sah, erfüllte mich mit Panik. Ich war so schockiert, dass sich ein kalter Schauder wie ein Reißverschluss durch meine Seele zog. Zitternd rutschte ich auf meinen alten Platz zurück.

    »So nicht, mein Sohn. Ich weiß, dass ich sehr hässlich bin. Aber wenn du solche Angst hast, gehe ich gleich wieder, ohne dir zu helfen.«

    Seine Stimme hatte sich in ein Flehen verwandelt, sodass ich beschloss mich zusammenzureißen. Trotzdem kroch ich nur sehr langsam in seine Richtung.

    »Warum diese Angst?«

    »Aber … du bist eine Kröte!«

    »Bin ich. Und?«

    »Aber könntest du nicht etwas anderes sein?«

    »Eine Schlange? Ein Krokodil?«

    »Das wäre mir lieber, denn Schlangen sind wunderschön und so glatt. Und Krokodile schwimmen so elegant.«

    »Entschuldige, aber ich bin nicht mehr als eine arme Cururu-Kröte und ein Freund. Gut, wenn dich das stört, werde ich gehen. Nur Geduld. Und ich wiederhole: Es ist schade.«

    Die Kröte war so traurig und aufgewühlt, dass nur wenig fehlte und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Das rührte mich, denn ich war so weich, dass mir sofort die Tränen in die Augen stiegen, wenn ich jemanden weinen oder leiden sah.

    »Also gut. Aber lass mich nochmal tief durchatmen, danach kann ich mich vielleicht sogar aufsetzen und langsam an dich gewöhnen.« Allmählich veränderten sich die Dinge wirklich. Vielleicht lag es am milden Schein seiner Augen und an der unbeweglichen Haltung seines absonderlichen Körpers. Ich wagte einen mitfühlenden Satz. Einen Satz, der ziemlich stotternd herauskam. Etwas riet mir, ihn zu siezen.

    »Wie heißen Sie?«

    Er lächelte. Klar, dass ihn diese Anrede erstaunte. Doch schließlich traf man eine sprechende Kröte ja nicht grundlos. Es verlangte Respekt von meiner Seite.

    Er kratzte sich den Kopf und antwortete:

    »Adão.«

    »Adão wie?«

    »Einfach Adão. Ich habe keinen Nachnamen.«

    Wieder überkam mich Schwäche. Warum in Teufels Namen sollte mich auch noch eine Kröte rühren?

    »Möchten Sie meinen Nachnamen benutzen? Es macht mir nichts aus. Hören Sie nur, wie schön es klingt: Adão de Vasconcelos.«

    »Vielen Dank, mein Freund. In gewisser Weise werde ich so lange bei dir wohnen, dass ich indirekt auch deinen Namen teilen werde.«

    Hatte ich richtig verstanden, was er gesagt hatte? Bei mir wohnen? Gott im Himmel, Heilige Mutter von Mangabas! Wenn meine Pflegemutter ihn in meinem Zimmer sah, würde sie so laut schreien, dass man es bis an den Strand von Ponta Negra hörte. Sie würde Isaura mit einem Besen rufen, damit sie Adão die Treppe hinunterjagte. Und als wäre das nicht genug, müsste Isaura Adão an den Beinchen packen und die Balustrade von Petrópolis herunterwerfen.

    »Ich errate alles, was du denkst. Diese Gefahr besteht jedoch nicht.«

    »Umso besser« atmete ich erleichtert auf.

    »Und wie soll ich dich ansprechen? Sesé?«

    »Nicht doch, Sesé existiert nicht mehr. Er war ein dummer kleiner Kerl aus einer anderen Zeit. Mit dem Namen eines Straßen jungen … Heute bin ich ganz anders. Ich bin ein höflicher, ordentlicher junger Mann …«

    »Du bist traurig. Vor allem traurig. Vielleicht einer der traurigsten Jungen der Welt, oder?«

    »Ich weiß.«

    »Wärst du gerne wieder Sesé?«

    »Nichts im Leben bleibt, wie es war. Einerseits wäre ich es gern. Anderseits nein. Diese ganze Sache mit den Schlägen, dem Hunger …«

    Der alte Schmerz, der mich immer verfolgte, kehrte zurück. Wieder Sesé sein, einen kleinen Orangenbaum haben, den Portugiesen erneut verlieren …?

    »Sag die Wahrheit. Wärst du es nicht doch gern? Damals hattest du etwas, das du seit Langem nicht mehr fühlst. Eine kleine und sehr gute Sache: die Liebe.«

    Entmutigt nickte ich.

    »Noch ist nicht alles verloren. Noch betrachtest du die Dinge ja mit Liebe, sonst würdest du dich nicht mit mir unterhalten.«

    Er machte eine Pause, dann erläuterte er sehr ernsthaft:

    »Schau mal, Sesé, dafür bin ich hier. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Dir zu helfen, dich gegen alles im Leben zu schützen. Und nicht mehr darunter zu leiden, ein sehr einsamer Junge zu sein … der Klavier üben muss.«

    Wie hatte Adão herausgefunden, dass ich Klavier spielte? Und dass es eine Qual für mich war?

    »Ich weiß alles, Sesé. Deshalb bin ich hier. Ich werde in deinem Herzen wohnen und dich beschützen. Glaubst du das nicht?«

    »Doch, ich glaube es. Ich hatte schon einmal in meinem Leben ein Vögelchen in meiner Brust, das mit mir die lieblichsten Lieder dieser Welt gesungen hat.«

    »Und wo ist es?«

    »Fort. Es ist fortgeflogen.«

    »Das bedeutet, dass du einen Platz hast, um mich aufzunehmen.«

    Ich wusste nicht, was ich denken sollte. War mir nicht sicher, ob ich träumte oder irgendeine Verrücktheit erlebte. Ich war dünn und hatte einen eingefallenen Brustkorb mit Rippen wie ein hölzernes Rhythmusinstrument. Wie sollte eine derart dicke Kröte da hineinpassen? Erneut erriet er meine Gedanken.

    »In deinem Herzen bin ich klein, sodass du mich kaum spüren wirst.« Als er mein Zögern bemerkte, erklärte er weiter. »Schau mal, Sesé, wenn du mich in dir akzeptierst, wird alles leichter. Ich zeige dir ein neues Leben, bewahre dich vor allem, was schlecht ist, und fege nach und nach dieses Netz der Traurigkeit hinweg, das dich umgibt. Du wirst, auch wenn du allein bist, nicht mehr so leiden.«

    »Brauche ich das denn so dringend?«

    »Du brauchst es, damit du kein einsamer Mann wirst. Wenn ich in deinem Herzen wohne, wird sich ein neuer Horizont eröffnen. Bald wirst du eine Metamorphose in deinem Leben bemerken.«

    »Was ist eine Metamorphose?«

    »Eine Veränderung. Eine Verwandlung.«

    »Verstehe.«

    Tatsächlich merkte ich, dass ich bereits alle Angst und Abneigung gegenüber der Cururu-Kröte verloren hatte. Es schien fast, als wären wir seit gut zweihundert Jahren Freunde.

    »Und wenn ich akzeptiere?«

    »Du wirst akzeptieren.«

    »Und was muss ich tun?«

    »Du nichts. Ich schon. Du musst nur sehr mutig und entschlossen sein, um zuzulassen, dass ich in deine Brust eindringe.«

    Mir standen die Haare zu Berge, als hätte ich in eine Steckdose gegriffen.

    »Durch den Mund?«

    »Nein, Dummerchen. Da würde ich gar nicht durchpassen.«

    »Wie dann?«

    »Du wirst deine Augen schließen und ich werde mich auf deine Brust legen und in dich eindringen, einfach eindringen …«

    »Und das tut nicht weh?«

    »Überhaupt nicht. Es wird dich nur sehr müde machen.«

    Ich kämpfte gegen meine Angst. Auf meiner Haut spürte ich die eisige Kälte seines glitschigen Bauches. Erneut las Adão meine Gedanken.

    »Gib mir deine Hand.«

    Mir brach der kalte Schweiß aus, doch ich gehorchte.

    »Du wirst spüren, dass meine auch weich ist.«

    Es war wie ein Wunder. Die Hand der Cururu-Kröte war so groß wie meine und fühlte sich warm und vertraut an.

    »Siehst du?«

    Mit den Fingern untersuchte ich seine Handfläche.

    Ich war fassungslos.

    »Spielen Sie auch Klavier?«

    Er lachte belustigt.

    »Warum?«

    »Weil Sie nicht eine einzige Schwiele auf der Hand haben. Auch bei mir ist es so, ich darf keinen Baum hinaufklettern, mir nicht die Finger verletzen, nicht einmal mit ihnen schnipsen. Alles verboten, um das Klavierspiel nicht zu vermasseln.«

    Ich seufzte entmutigt.

    »Siehst du? Du brauchst mich.«

    »Und irgendwann werde ich aufhören, Klavier zu üben?«

    »Hasst du die Musik so sehr?«

    »Es ist nicht, dass ich sie nicht mag. Was ich nicht mag, ist, dass ich mein Leben über den Tasten verbringe. Mit endlosen Übungen und Tonleitern, die nie aufhören.«

    Da fiel mir etwas ein.

    »Wissen Sie, Senhor Adão, die chromatische Tonleiter spiele ich sogar ganz gern.«

    »Ich weiß, lieber Sesé.«

    Jetzt verstand ich, dass unsere Vertrautheit es mir verbot, ihn mit Senhor anzusprechen. Wir lachten gleichzeitig.

    »Könnte es sein, dass Sie mir dabei helfen, mit dem Klavierspielen aufzuhören?«

    »Nun, Sesé, das kann ich nicht garantieren. Doch vielleicht finden wir einen Weg, damit du nicht weiter so leiden musst.«

    »Das ist schon mal was.«

    Er warf mir einen eindringlichen Blick zu. Dann schaute er auf die Armbanduhr, als wollte er mich daran erinnern, dass die Stunden vergingen.

    Ich würde nicht weiter schwanken. Allein die Tatsache, mich nicht mehr mit dem Klavier langweilen zu müssen, hatte mir die Entscheidung abgenommen.

    »Was soll ich tun?«

    »Knöpf deine Schlafanzugjacke auf und hab keine Angst.«

    »Ich werde keine haben.«

    »Jetzt musst du mir helfen. Lass die Ecke des Bettlakens herunter und zieh mich hoch.«

    Gesagt, getan. Adão befand sich jetzt sehr dicht neben mir. In der Nähe des Lichts nahmen seine Augen eine himmelblaue Farbe an. So wie der Himmel, wenn er richtig blau ist. Schon kam er mir nicht mehr so hässlich und unangenehm vor.

    »Ich möchte nur, dass du mir die Wahrheit sagst. Wird es wehtun?«

    »Überhaupt nicht.«

    »Du wirst mein Herz nicht aufessen?«

    »Doch, werde ich. Es wird so zart sein, als kaute ich eine Wolke.«

    »Und wenn mein Vater irgendwann ein Röntgenbild machen lässt?«

    »Niemand wird es herausfinden. Denn mit der Zeit werde ich ein Herz werden, das genauso aussieht wie das, das du früher hattest.«

    »Ich möchte alles sehen.«

    »Möchtest du nicht lieber schlafen?«

    »Nein. Ich werde mich an die Wand lehnen und zuschauen.«

    »Dann werde ich deine Ohren eine besonders schöne Musik hören lassen.«

    »Darf ich eine auswählen?«

    »Darfst du.«

    »Ich würde gern die Serenade von Schubert und die Träumerei von Schumann hören.«

    »Am Klavier?«

    »Ja.«

    Adão strich mit seinen Fingern über meine Haare und lächelte.

    »Sesé! Gib zu, dass du das Klavier doch nicht so hasst.«

    »Manchmal finde ich es schön.«

    »Fangen wir an?«

    »Fangen wir an.«

    Liebliche Musik erklang. Adão legte sich auf meine Brust und alles war sanft wie der Wind.

    »Bis gleich.«

    Ich sah, wie er den Mund auf meine Brust legte und anfing, in mich einzudringen. Adão hatte nicht gelogen. Es tat nicht weh und ging sehr schnell. Bald darauf sah man nur noch seine Beinchen in meinem Fleisch verschwinden. Ich strich mit der Hand über die Stelle, alles war unversehrt geblieben. Trotzdem schlug mein Herz erwartungsvoll. Ich wartete ein bisschen, dann hielt ich es nicht mehr aus.

    »Adão, bist du da?«

    Die Stimme war jetzt nur leise zu vernehmen.

    »Bin ich, Sesé.«

    »Hast du mein Herz schon gegessen?«

    »Ich bin gerade dabei. Aber ich kann nicht mit vollem Mund sprechen. Warte kurz.«

    Ich gehorchte und zählte meine Finger. Es war wunderbar. Niemand ahnte, dass ich kein gewöhnliches Herz mehr hatte. Sondern einen so guten Freund wie die Cururu-Kröte.

    »Schon fertig?«

    »Fertig. Es war lecker. Jetzt musst du schlafen, morgen ist ein neuer Tag.«

    Glücklich rekelte ich mich. Dann zog ich die Bettdecke hoch, um meine Brust und meine Cururu zu wärmen, die gleichmäßig und furchtlos schlug.

    Etwas ließ mich im Bett hochschrecken.

    »Was ist los, Sesé?«

    »Du hast vergessen, das Licht auszumachen. Das ist los.«

    »Ich bringe es dir bei. Blas die Backen gut auf und puste.«

    Ich gehorchte, schon war es in meinem Zimmer wieder dunkel. Meine Lider waren schwer vor Müdigkeit. Doch ich lächelte.

    »Adão, schläfst du schon?«

    »Nein, warum?«

    »Vielen Dank für alles. Und du darfst mich immer Sesé nennen. Selbst wenn ich eines Tages erwachsen bin. Du kannst mich so nennen, weil es mir gefällt, in Ordnung?«

    Die Antwort kam von weit, weit her, man konnte sie kaum noch hören. »Schlaf, mein Sohn. Schlaf, denn die Kindheit ist wundervoll.«

    PAUL LOUIS FAYOLLE

    Dadada klopfte an meine Zimmertür, und als ich nicht antwortete, legte sie die schwieligen Hände auf die Klinke und öffnete sie. Zuerst erschrak sie wegen meines Stöhnens. Dann nahm sie es nicht weiter ernst.

    »Avie, mein Junge. Zeit für die Schule. Du wirst doch nicht die ganze Zeit schlafen wollen!«

    Da ich nicht aufhörte zu stöhnen, näherte sie sich dem Bett und wunderte sich über meine Mattigkeit. Nie war ich einer dieser faulen Jungen gewesen. Musste ich aufstehen, tat ich es normalerweise sofort.

    Dadada trat noch näher an das Bett und erschrak wegen meiner geröteten Augen. Sofort legte sie ihre Hand auf meine Stirn und murmelte sorgenvoll.

    »Heiliger Franziskus von Canindé, wache über diesen vor Fieber glühenden Jungen.«

    Sie knöpfte meine Schlafanzugjacke zu und zog die Decke über meinen Körper. Hastig verließ sie das Zimmer, um Hilfe zu holen.

    Wieder fielen mir die Augen zu. Ich fühlte mich dermaßen matt, dass ich nicht einmal meine Arme spürte.

    Meine Mutter kam schimpfend aus dem Wohnzimmer.

    »Wahrscheinlich hat er wieder was ausgefressen. Denkt sich einen Grund aus, um nicht in die Schule gehen und heute kein Klavier üben zu müssen.«

    Doch als sie die Hand auf meine Stirn legte, änderte sie ihre Meinung. Sofort gab sie allem Möglichen die Schuld.

    »Das sind die Mandeln. Er hat bei offenem Fenster geschlafen und durch die Morgenkälte eine Grippe bekommen. Das hat gerade noch gefehlt!«

    Dadada wurde bereits nervös und ergriff für mich Partei.

    »Armes Ding. Das Würmchen ist krank. Immer so ruhig, so schweigsam. Warten wir, bis der Doktor aus der Messe kommt.«

    Als mein Vater aus der Messe kam, zögerte er keinen Moment.

    »Lungenentzündung, und zwar eine ordentliche.«

    Eine wilde Rennerei begann. Apotheke. Spritze. Tabletten …

    »Wenn es nicht besser wird, müssen wir die Schröpfgläser ansetzen.« »Nichts müsst ihr. Das geht schon vorbei«, antwortete ich erschöpft.

    »Woher willst du wissen, dass das vorbeigeht? Was vorbeigehen muss, geht vorbei?«

    »Es ist aber keine Lungenentzündung.«

    Mein Vater fasste sich an den Kopf.

    »Jetzt auch das noch. Da verbringt man sein Leben über Büchern, und dann kommt so ein Hanswurst und will dem Pfarrer das Vaterunser beibringen.«

    Der Gedanke an diese Schröpfgläser entsetzte mich.

    »Was ist ein Schröpfglas?«

    »Das ist eine einfache Methode, damit jemand Schleim aushustet. Es wird dein Blut durcheinanderwirbeln. Verflixt nochmal! Du kannst das nicht verstehen.«

    »Wie macht man das?«

    »Ganz einfach. Indem man es eben macht. Und frag nicht so viel, davon steigt dein Fieber!«

    Dann hatte er Mitleid mit mir und erklärte es ruhiger.

    »Es ist einfach. Wir setzen sie auf deine Brust und deinen Rücken. Man kann es sogar mit einer Kaffeetasse tun. Und hab keine Angst, denn es tut nicht weh.«

    Etwas pikste mich innerlich. Würde es der Kröte auch nicht schaden? Adão hörte bestimmt alles, und sicher zitterte er vor Angst.

    »Wie lange dauert es eigentlich, bis diese Spritze abgekocht ist?«

    Er regte sich auf und sofort kam die Spritze mit dem aufgezogenen Medikament, umgehend gefolgt vom Befehl: »Streck den Po nach oben!«

    Ich gehorchte. Wieder regte er sich auf.

    »Dieser Unglücksrabe hat nicht mal Fleisch auf den Knochen.«

    »Nur nicht so ungestüm, Mann«, tadelte meine Mutter ihn. »Schließlich kommst du gerade aus der Messe und von der Kommunion.«

    Am liebsten hätte ich gelacht. Denn so war er wirklich. Über alles regte er sich auf, und dann war es plötzlich wieder vorbei. Doch statt zu lachen, stieß ich einen Schrei aus, der gegen die Blätter der Kokospalmen in der Nachbarschaft schallte.

    »Fertig, schon vorbei. Es tut ja schon ein bisschen weh. Aber hätte ich dir das vorher gesagt, wäre es noch schlimmer gewesen.«

    Der Geruch des Äthers, der auf meinem Po verrieben wurde, machte mich schwindlig. Mein Vater setzte sich auf die Bettkante und schaute mich an. Es war so selten, dass er mir seine Aufmerksamkeit schenkte. So selten betrachtete ich seine gerötete Haut, den dichten blauschimmernden Bart, so selten sah ich seine kleinen, fast schwarzen Augen.

    Ich griff nach seiner Hand, und zu meiner Überraschung zog er sie nicht zurück.

    »Es ist keine Lungenentzündung.«

    »Und was ist es dann?«

    »Die Cururu-Kröte hat gestern Nacht mein Herz gegessen, und danach ging es mir so.«

    Er riss die Augen auf und legte die Hand erneut auf meine Stirn. »Er fiebert wieder.«

    Eine sehr dünne, leise Stimme flüsterte mir zu. Es war Adão.

    »Du Dummerchen, weißt du nicht, dass Erwachsene nichts verstehen? Selbst wenn du die größte Wahrheit der Welt sagst, es nützt nichts.«

    »Entschuldige, Adão.«

    Mein Vater wunderte sich.

    »Entschuldige was

    »Nichts, gar nichts. Ich muss geträumt haben.«

    »Du bist durcheinander. Sprichst von einer Cururu-Kröte, die dein Herz verschluckt hat und nennst mich Adão.«

    Gleich würde er aufstehen. Sanft drückte ich seine Hand gegen das Bettlaken.

    »Werde ich sterben?«

    »Blödsinn. Das geht bald vorbei. Wenn es heute Mittag nicht besser ist, setze ich die Schröpfgläser.«

    »Und die Schule?«

    »Du darfst nicht aufstehen. Du musst ganz ruhig liegen bleiben. Kein Unterricht, nicht einmal Klavier. Bis du gesund bist. Mindestens eine Woche.«

    Er ging hinaus und ließ mich allein. Nein, nicht allein, denn ich spürte Adãos Anwesenheit.

    »Sesé, Sesé, du musst vorsichtiger sein, du darfst niemandem unser Geheimnis verraten.«

    »Ich erzähle wirklich nichts. Ich habe nur etwas gesagt, weil ich Angst hatte, dass die Schröpfgläser dir schaden könnten.«

    »Du hast recht. Aber man kann nicht vorsichtig genug sein.«

    Erneut überkam mich Müdigkeit. Sie hatten mir Milchkaffee gebracht, und ich hatte alles hinuntergeschluckt, bis mir schlecht war. Besser ich blieb ganz ruhig liegen, als existierte nichts um mich herum.

    »Adão!«

    »Was ist denn? Ruf mich nicht grundlos. Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Du musst dich ausruhen. Denn wenn es dir gutgeht – vergiss das nicht –, werden wir gemeinsam ein neues Leben beginnen.«

    »Ich will dir nur eine Sache sagen. Es gibt eine Person, der ich es erzählen muss. Und du wirst sie sehr mögen. Es ist Bruder Feliciano, in der Schule. Er ist so nett, ein so guter Freund.«

    »Und wird er es verstehen?«

    »Sicher. Er versteht alles, was ich tue.«

    »Dann werden wir sehen. Aber jetzt sei still.«

    »Nur noch eine Klitzekleinigkeit. Können wir nicht ausmachen zu sprechen, ohne zu sprechen?«

    »In Gedanken?«

    »Ja. Dann müssen wir uns nicht anstrengen und niemand merkt was.« »Das ist eine Lösung. Dann denk an etwas, damit wir sehen, ob es funktioniert.«

    Ich dachte: Ich werde eine Woche lang kein Klavier spielen und nicht in die Schule gehen. Adão lachte so heiter, dass meine Brust wackelte. Sofort antwortete er in Gedanken.

    »Du Schlawiner. Jetzt sieh zu, dass du schläfst.«

    Zufrieden schloss ich die Augen. Es hatte funktioniert. Niemand würde jemals unser Geheimnis aufdecken. Alles in unserer Freundschaft würde gut und immer besser werden. Ich hatte einen Freund gefunden, hatte eine Woche frei und konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie mein Leben sich verbessern würde.

    Ich betrat die Schule und ging entschlossen die Treppe hinauf. Die Krankheit war verschwunden. Ich wollte Adão alle Orte zeigen, an denen sich mein Leben abspielte.

    »Hast du gesehen, Adão? Gleich wirst du Bruder Feliciano kennenlernen.«

    Die Schultasche unter dem Arm, die für einen kleinen, mageren Kerl wie mich übrigens sehr schwer war, betrat ich das Direktorat.

    Hinter dem hohen Schreibtisch sah ich Bruder Felicianos geröteten Kopf. Wahrscheinlich hatte er ihn über ein Blatt gesenkt und schrieb. Er schrieb immer, denn seine Aufgabe als Assistent des Direktors war es eben, zu schreiben.

    Ich schlich mich neben ihn und wartete darauf, dass er mich bemerkte. Wie lange es dauerte. Ich konnte nicht widerstehen.

    »Paul Louis Fayolle!«

    Er ließ alles fallen, als wäre ein Stromschlag durch ihn gefahren. Heftig warf er seine Brille auf den Tisch. Sein Gesicht hellte sich auf wie eine riesige Sonne.

    »Schusch!«

    Ich hatte die Art, wie er mich anredete, vermisst.

    Schusch. Ich wusste nicht, was er damit sagen wollte, und hatte nie gefragt, was es bedeutete. Es war ein Name, eine Erfindung, etwas voller Liebe, das Bruder Feliciano für mich geschaffen hatte. Nur er nannte mich so.

    Eine Sekunde lang betrachtete er mich zufrieden, dann breitete er seine Arme aus, um mich zu umarmen. Selbst nachdem ich mich auf den Stuhl neben ihn gesetzt hatte, schaute er mich an, musterte mich von oben bis unten.

    »Dann bist du also zurück, Schusch?«

    »Ja, bin ich. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.«

    Ich war glücklich in der Nähe von jemandem, der mir nie schaden oder es auch nur zulassen würde, dass man mich schlecht behandelte. Er war der erste Mönch, dem die Einsamkeit meiner Seele aufgefallen war. Die Traurigkeit des unverstandenen Jungen, dessen Blick nur Kummer und Not verströmte. Er wusste über meinen elfjährigen Kampf Bescheid. Die Geschichte eines armen Jungen, der zu einem reichen, kinderlosen Paten gegeben wird, damit dieser ihn großzieht. Die plötzliche Veränderung im Leben eines Straßenjungen, Herrn der

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