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Kelch der Toten
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eBook788 Seiten10 Stunden

Kelch der Toten

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Über dieses E-Book

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SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Feb. 2020
ISBN9783750448568
Kelch der Toten
Autor

Ivory MacIntyre

Ivory MacIntyre, geboren 1981 in Aschaffenburg und aufgewachsen im ländlichen Harsefeld, besuchte die Realschule und absolvierte später eine Ausbildung zur Chemielaborantin. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie im beschaulichen Ostwestfalen. Sie ließt seit ihrer Kindheit Fantasyromane und spielt aktiv Pen and Paper Rollenspiele.

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    Buchvorschau

    Kelch der Toten - Ivory MacIntyre

    "Wenn Du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist

    das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie

    unwahrscheinlich sie auch ist."

    Sherlock Holmes

    ***

    (Sir Arthur Conan Doyle)

    Inhaltsverzeichnis

    16. November 1904

    *** 01 – Nell ***

    *** 02 – Diana ***

    *** 03 – Nell ***

    *** 04 – Diana ***

    *** 05 – Nell ***

    17. November 1904

    *** 06 – Brandsstifter ***

    *** 07 – Reece ***

    *** 08 – Nell ***

    *** 09 – Reece ***

    *** 10 – Nell ***

    *** 11 – Diana ***

    *** 12 – Nell ***

    *** 13 – Diana ***

    *** 14 – Reece ***

    *** 15 – Nell ***

    *** 16 – Cole ***

    *** 17 – Nell ***

    *** 18 – Cole ***

    *** 19 – Nell ***

    *** 20 – Reece ***

    *** 21 – Cole ***

    *** 22 – Nell ***

    *** 23 – Cole ***

    *** 24 – Cole ***

    *** 25 – Nell ***

    *** 26 – Reece ***

    *** 27 – Diana ***

    *** 28 – Reece ***

    18. November 1904

    *** 29 – Cole ***

    *** 30 – Greg ***

    *** 31 – Stella ***

    *** 32 – Diana ***

    *** 33 – Nell ***

    *** 34 – Reece ***

    *** 35 – Diana ***

    *** 36 – Cole ***

    *** 37 – Diana ***

    *** 38 – Nell ***

    *** 39 – Cole ***

    *** 40 – Nell ***

    *** 41 – Glenn ***

    *** 42 – Nell ***

    *** 43 – Cole ***

    *** 44 – Diana ***

    *** 45 – Glenn ***

    *** 46 – Nell ***

    *** 47 – Glenn ***

    *** 48 – Diana ***

    *** 49 – Nell ***

    19. November 1904

    *** 50 – Cole ***

    *** 51 – Emily ***

    *** 52 – Reece ***

    *** 53 – Diana ***

    *** 54 – Reece ***

    *** 55 – Diana ***

    *** 56 – Nell ***

    *** 57 – Epilog ***

    Glossar

    16. November 1904

    *** 01 – Nell ***

    Das kleine Mädchen öffnete die Augen. Nur wenig Mondlicht fiel durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen und bildete ein Lichtschwert im von Dunkelheit erfüllten Kinderzimmer.

    Ein Geräusch aus der Wohnstube hatte sie geweckt. Ein Kratzen und Ächzen, wie es jemand von sich gab, der eine schwere Last über den Holzboden zog.

    Von Angst gepackt versteckte sich das junge Ding hinter der Bettdecke, aber sie verspürte den Drang, zu ihren Eltern zu laufen, denn da war sie sicher, fühlte sich beschützt und behütet.

    Doch sie wagte es nicht, nach ihnen zu rufen, zu groß die Angst vor dem, was die Geräusche verursachte.

    Leise rutschte sie aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und blickte in den dunklen Flur. Unten konnte sie ihre Mutter hören, aber ihre Stimme klang so sonderbar, als versuche sie, ein Schluchzen zu unterdrücken.

    Nein, sie hörte sich kränklich an, als wenn sie schlecht Luft bekommen würde.

    Das Bedürfnis zu ihr zu gehen und sich in ihre Arme zu werfen wurde von Sorge und Angst genährt und es zwang das Mädchen dazu, die Treppe hinunterzuschleichen. Dort, am Fuß der Treppe, konnte sie in die Stube schauen. Sie sah hinein und das Bild, welches sich ihr bot, brannte sich für immer in ihr Gedächtnis.

    Ihre Eltern lagen im silbernen Mondlicht reglos am Boden. Die Holzdielen waren von schwarzer Nässe bedeckt, in der sich der Mond spiegelte, und darin all seine Sanftheit verloren hatte. Wie ein boshaftes Auge starrte er aus der Flüssigkeit zu ihr herüber, als wenn er nur darauf gewartet hätte, ihr dieses Bild zu präsentieren.

    Über ihren Vater beugte sich eine bösartige Kreatur, schwarz wie die Nacht, mit großen spitzen Ohren und abstehenden Haaren, welche im Mondlicht wirkten, als würde sein Schädel dampfen.

    In der rechten Krallenhand hielt es einen Dolch, von dessen schlanker Klinge eine zähe, dunkle Flüssigkeit auf Vaters Körper tropfte. Mit der anderen Krallenhand wühlte der Teufel geschäftig in Vaters Kleidung, und suchte etwas. Ihre Mutter lag auf dem Bauch, ihre Hände zuckten unkontrolliert, und aus ihrer Kehle kroch ein schauriges Röcheln. Ihre letzten Atemzüge.

    Lähmendes Entsetzen hielt das Kind gefangen. Es schnürte ihr die Kehle zu und raubte ihr den Atem. Sie versuchte zu schreien, aber nur ein Schluchzen kam über ihre Lippen.

    Der Kopf der Kreatur zuckte bei jenem Geräusch hoch und sie starrte sie aus riesigen schwarzen Augen an, so schwarz wie der Himmel einer mondlosen Nacht.

    Das Mädchen schrie und der schwarze Mörder sprang mit einem bösartigen Fauchen auf sie zu.

    »Nell?«

    Eine Stimme rief nach ihr. Wer war das? Ihre Eltern?

    »Nell?« Aber sie waren doch tot. »Wachen Sie auf.«

    Mit einem leisen Stöhnen öffnete sie die Augen und ein verschwommenes Gesicht erschien in ihrem Blickfeld. Wo war sie hier? Wer war der Unbekannte?

    Nur sehr zäh wühlte sich ihr Bewusstsein durch den Traum und erlangte wieder die Gewalt über das Hier und Jetzt. Der harte Sitzplatz unter ihr rumpelte im Takt der Schienen und dicke Rauchwolken zogen am Fenster vorbei. Sie saß im Zug nach Fenhole, einer englischen Kleinstadt im nördlichen Suffolk.

    Der Mann ihr gegenüber hieß Cole. Er war ein Mann um die dreißig, trug seine braunen Haare sauber gescheitelt und den Vollbart perfekt in Form geschnitten. Sein taubenblauer Anzug passte zu seiner Augenfarbe und seine gesamte Erscheinung wurde mit einem schwarzen Zylinder abgerundet. »Wir sind gleich da.«

    »Bin wach«, nuschelte Nell und schob sich schnaufend in eine bequemere Position, damit ihr Rücken weniger schmerzte.

    »Haben Sie schlecht geträumt?« Neben Cole saß seine Begleitung Diana, eine hübsche junge Frau, mit wasserblauen Augen und herrlich schönen roten Locken, welche ihre sanften Gesichtszüge wie ein Gedicht umflossen. Sie trug ein hochgeschlossenes blaues Kleid mit schwarzer Spitze und goldenen Blumenstickereien.

    »Wie soll man hier vernünftig schlafen?«, brummte Nell, die schon jahrelang keinen guten Schlaf mehr genossen hatte.

    »Wovon haben Sie geträumt?«, wollte Diana wissen.

    »Dass der Zug entgleist.«

    »Oh, das bereitet mir auch stets Sorgen, wenn ich Zug fahre«, stimmte die Rothaarige zu, und bohrte nicht weiter nach. Nell hatte nicht vor, ihr oder Cole vom Mord an ihren Eltern zu erzählen. Sie kannte beide erst knapp drei Stunden. Beide hatten am Bahnhof in Windchurch über die Vorfälle in Fenhole gefachsimpelt. Cole war ein privater Ermittler und war wohl vom Chief Constable persönlich nach Fenhole geladen worden und Diana war seine, ja, was eigentlich? Assistentin? Sie befasste sich mit Mordopfern und untersuchte sie. So viel hatte Nell bisher erfahren.

    Jedenfalls hatte es in Fenhole wohl Morde gegeben, welche einer genaueren Untersuchung bedurften.

    Normalerweise interessierte sich Nell für solcherlei Dinge nicht. Für sie gab es wichtigere Probleme. Geldmangel zum Beispiel. Sie war pleite, hatte die letzten Tage nur von Brot und Suppe gelebt und zuletzt ihre Wäsche in einem Bach gewaschen, inklusive sich selber. Inzwischen nagte der Verschleiß an den Stiefeln und ihren Wurfmessern. Es war höchste Zeit, dass sie etwas Arbeit fand.

    Die Arbeitssuche hatte sie nach Windchurch getrieben, um am Bahnhof die Tafeln für Arbeitsangebote durchzulesen.

    Irgendetwas würde schon zu finden sein, was ihr zumindest das Geld für ein Bett und eine warme Mahlzeit bescheren konnte. Bei der Gelegenheit hatte sie Cole und Diana unbeabsichtigt belauscht.

    Es waren die Randbemerkungen der beiden gewesen, die Nell hatten hellhörig werden lassen. Riesige schwarze Hunde sollten in Fenhole ihr Unwesen treiben, groß wie Stiere und mit glühenden Augen.

    Konnte das die erste heiße Spur sein? Mit sechzehn war Nell aus dem Waisenhaus ausgebüxt und hatte beschlossen, den Mörder ihrer Eltern auf eigene Faust zu finden. Der Entschluss war nun schon fünfzehn Jahre her und seitdem trieb es sie durch England wie Treibholz im Meer.

    Kurz entschlossen hatte sie ihre letzten Schillinge zusammengezählt, auf ein etwaiges Arbeitsangebot verzichtet und hatte sich überwunden, Cole und Diana anzusprechen. Es war nicht so, dass sie Wert auf deren Gesellschaft legte, aber sie könnte über den Privatermittler an Hinweise gelangen, die sonst unerreichbar wären. Wie immer hatte sie es vermieden, Details von sich preiszugeben, denn die Erfahrung der letzten Jahre hatte sie gelehrt, über ihre Vergangenheit zu schweigen. Man hatte sie ausgelacht und davongejagt, weil man sie für eine umherstreifende Irre gehalten hatte, die im Suff schwarze Teufel mit Krallen gesehen hatte. Irgendwann in der Zeit hatte sie ihr Vertrauen in die Menschen verloren und sie hatte sich entschlossen, ihre Ziele alleine zu verfolgen, ohne Verpflichtungen und ohne Rücksicht auf andere. Deswegen war ihr die Müdigkeit kurz nach der Abfahrt auch ganz gelegen gekommen, sodass sie mit den beiden keine Gespräche führen brauchte. Aber kaum hatte sie der Schlaf ereilt, kamen sie zurück, die Alpträume und die vielen unbeantworteten Fragen.

    Sie sah aus dem Fenster, wo die ersten Gehöfte vorbeizogen. Bauernhöfe, Mühlen, Köhler, Gerber, all das, was innerhalb einer Stadt keinen Platz hatte.

    »Waren Sie schon einmal hier?«

    Nell schüttelte auf Dianas Frage den Kopf. »Ich habe schon einige Städte bereist, aber hier war ich noch nicht.«

    »Cole erzählte, dass es hier ein riesiges Moor geben soll«, sprach Diana weiter.

    »Das größte zusammenhängende Moor in ganz England«, erklärte Cole beiläufig.

    »Wie groß?« Es machte einen Unterschied, ob sie tausend oder zehntausend Acre durchsuchen musste.

    »Genau weiß ich es auch nicht, aber mit der Kutsche braucht man einen ganzen Tag, um die Dörfer auf der anderen Seite zu erreichen.« Cole zeichnete dabei einen Kreis in der Luft, um zu verdeutlichen, dass er die Strecke um das Moor herum meinte.

    »Und diese Hunde, die sollen aus dem Moor gekommen sein?«, fragte Nell gleich weiter.

    Cole zuckte mit den Schultern. »Details kenne ich noch nicht. Ich weiß auch nur das, was in der Zeitung steht. Vielleicht eine unbekannte Tierart, die wegen irgendetwas aus ihrem Lebensraum vertrieben wurde.«

    Hoffentlich nicht! Wegen normaler Hunde hatte sie nicht ihr letztes Geld für eine Fahrkarte ausgegeben. Wenn diese Spur auch auf einem Holzweg endete, dann würde sie wieder im Pferdestall schlafen und den Tieren die Futtermöhren stehlen müssen, um etwas im Magen zu haben. »Aber sie sollen gigantisch groß sein.«

    »Nun, gigantisch groß kann auch kalbsgroß bedeuten«, berichtigte Cole. »Irische Wolfshunde können eine Widerristhöhe von drei bis vier Fuß erreichen. Das ist sogar größer als manch ein Kalb.«

    Unbewusst fing Nell an, mit ihrem Fuß zu wackeln. Sie wollte eigentlich keine Relativierungen von dem Ermittler hören, auch wenn sie schon Verständnis dafür hatte, das er logisch an seine Fälle heranging. Niemand glaubte an etwas Übersinnliches, was Nell immer wieder vor Augen führte, wie alleine sie mit ihrer Vergangenheit war.

    Trotz allem stocherte Cole in einem Fass vergeblicher Hoffnungen herum und brachte darin Wut zum Brodeln.

    »Augenzeugen bauschen ihre Berichte gerne sehr auf. Man kann bei so etwas getrost einige Zoll abziehen. Kalbsgroß ist für einen Hund immer noch enorm groß«, fügte der Ermittler noch hinzu.

    »Für Irische Wolfshunde klein, wie wir eben gelernt haben«, warf Diana lächelnd ein.

    »Ist aber trotzdem eine ziemliche Größe für ein Tier, das im Prinzip die ganze Zeit unbemerkt vor der Haustür gelebt hat«, beharrte Nell mit einer Prise Trotz.

    »Das heißt nichts. Vor zwei Jahren wurde eine unbekannte Elefantenart entdeckt und so klein sind die auch nicht«, warf Diana ein.

    Herrgott! Cole mit seinen Wolfshunden und jetzt gräbt die auch noch Elefanten hervor!

    Innerlich schnaufte Nell, aber sie sollte sich davon nicht entmutigen lassen. So lange es nur ein paar Augenzeugenberichte in der Zeitung gab, konnten sie sowieso nur wild spekulieren.

    Sie zwang ihren Fuß zur Ruhe und sah ein paar Herzschläge lang aus dem Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen.

    Cole sprach von einem Moor, also ließ sie ihren Blick über die novembergrauen Weiden und Felder streifen, welche zwischen den einzelnen Gehöften zu sehen waren. Wie groß musste ein Moor sein, damit dort riesige Hunde leben konnten? Oder vielleicht noch mehr Kreaturen?

    Obwohl sie es inzwischen besser wusste, keimte trotz allem immer die verzweifelte Hoffnung in ihr auf, dass sie irgendwo jemanden traf, mit dem sie über alle Geschehnisse reden konnte. Ohne Vorbehalte, ohne Voreingenommenheit, aber warum hatte sie gehofft in Cole und Diana solche Menschen zu finden? Für die waren das nur Märchen. Sie waren Realisten und die glaubten nur das, was sie sehen, anfassen, hören und messen konnten und alles andere existierte einfach nicht.

    »Interessiert es euch gar nicht, was das für Tiere sein könnten?«, fragte sie und regte sich in dem Moment auch schon wieder auf, dass sie ihre verdammte Klappe nicht halten konnte.

    »Um die Hunde kümmern wir uns auch«, bestätigte Diana, doch das Aber war nicht zu überhören. »Primär müssen wir uns mit diesen Mordfällen befassen, aber wir wissen schon, dass die Hunde in irgendeiner Weise damit zu tun haben.« Sie legte in einer freundschaftlichen Geste ihre Hand auf Nells. Das behagte ihr gar nicht und sie spannte sich an und versuchte, irgendwie unauffällig ihre Hand wegzuziehen. Nell war zu lange eine Einzelgängerin gewesen, sodass sie oft nicht mehr so recht damit umzugehen wusste, wie sie auf solche Gesten reagieren sollte. Taten Männer das, dann waren die meisten von ihnen auf Sex aus.

    »Wir finden schon heraus, ob es dieselben Hunde waren, die Ihren Bruder getötet haben«, versprach Diana.

    Bruder? Nell war für einen kleinen Moment irritiert, dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte den beiden in Windchurch irgendein Märchen erzählen müssen, warum sie an diesen Hunden so interessiert war. In der kleinen Lügengeschichte wurde ihr Bruder von Hunden schwer verletzt und auf dem Sterbebett behauptete er, dass der Hund eine riesige schwarze Bestie gewesen sei. Nell habe ihm das Versprechen abgenommen, diese Bestie zu finden und zu erlegen.

    Nell hatte nie einen Bruder besessen und sie sollte sich besser merken, wem sie welches Märchen erzählte.

    »Irische Wolfshunde hin oder her, dieses Rätsel knacken wir auch noch«, versprach Cole und sah nach draußen, als ein schrilles Pfeifen erscholl. Die Kernstadt mit ihren massiven Steinhäusern zog am Fenster vorbei und der Dampfzug verringerte seine Geschwindigkeit.

    »Wir sind gleich da«, stellte Diana fest. »Wie gehen wir weiter vor? Suchen wir uns zuerst ein Hotel?«

    »Wir treffen uns gleich nach der Ankunft mit einem Polizisten, der uns über die Fälle und den Stand der Ermittlungen aufklärt«, antwortete Cole.

    »Von der Polizei hast du aber nichts gesagt«, merkte Nell sogleich unzufrieden an. Sie hoffte, über Cole an das Wissen der Polizei heranzukommen, ohne persönlich mit denen in Kontakt treten zu müssen.

    Sie hatte genug schlechte Erfahrung mit der Polizei gesammelt. Das reichte für die nächsten zwanzig Jahre.

    »Ich bin Privatermittler und wurde von Chief Constable Craven hergebeten. In seinem Brief stand, dass wir von einem Inspektor in Empfang genommen werden, welcher uns über alles Weitere informieren soll«, erklärte Cole.

    »Kennst du den Chief denn?«, fragte Nell misstrauisch.

    »Nun…«, antwortete Cole gedehnt.

    »Also gar nicht.«

    »Doch, doch, so ist das nicht«, widersprach Cole sofort. »Ich kenne den Chief Constable Craven. Wir hatten vor einigen Jahren schon miteinander gearbeitet, als ich für einen Kriminalfall hier in Fenhole war.«

    »Da höre ich ein Aber«, bohrte Nell weiter.

    »Craven legt viel Wert auf Diskretion und er möchte nicht, dass die Arbeit seiner Polizei in einem schlechten Licht steht«, erklärte Cole. »Der Chief Constable findet, dass es kein gutes Bild hinterlässt, wenn sich die Polizei Hilfe von außen holen muss. Jedenfalls ist er der Meinung, dass dies seinem Ruf schaden wird.«

    »So einer also«, brummte Nell.

    »Ich bekomme von ihm jegliche Unterstützung«, versicherte Cole. »Aber er wird auch dieses Mal nicht wollen, dass mein Name in der Zeitung erscheint. So hatte er es auch bei der letzten Kooperation gehalten.«

    Wundert mich nicht, dachte Nell dabei und gab ein abfälliges Schnauben von sich.

    Diana schüttelte den Kopf. »Das ist aber undankbar.«

    »Ich lege keinen Wert auf öffentlichen Ruhm«, rechtfertigte sich Cole. »Außerdem habe ich eine schriftliche Empfehlung für meine Referenzen mitbekommen. Wer oder was am Ende in der Zeitung steht, interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Ich kann die Zeitung mit der Empfehlung vorlegen und meine gute Arbeit damit bestätigen. Mehr brauche ich nicht.«

    Bloß keine falsche Bescheidenheit, Mister Ermittler. Nell hob aber nur die Augenbrauen und behielt ihre Meinung für sich.

    »Craven mag ein komischer Kauz sein, aber der Fall liest sich sehr interessant«, erklärte Cole weiter, als müsste er klarstellen, dass er freiwillig unter diesen Bedingungen arbeitete, »und wenn er sich meldet, dann ist die Lage ernst.«

    Die Bremsen wurden gezogen und quietschend kam der Zug im Bahnhof von Fenhole zum Stehen.

    Ein leichter Dunstschleier hatte sich über das große, imposante Bahnhofsgebäude gelegt und vermischte sich nun mit Qualm und Dampf. Im trüben Licht der kunstvoll geschmiedeten Gaslaternen drängelten sich Reisende mit Regenschirmen oder breitkrempigen Hüten auf dem Bahnsteig. Sie zogen die Schultern hoch und versuchten, rasch in das trockene Gebäude zu gelangen, oder kamen herangeeilt, um möglichst schnell in den Zug zu steigen.

    »Jedenfalls hat Craven mir den Namen eines Polizisten gegeben, der uns in dem Fall zur Seite stehen wird«, beendete Cole seine Erklärung und erhob sich vom Sitz. Das Gepäck befand sich auf der Ablage über den Sitzen, wo Cole nun auch vorsichtig versuchte, zwei Koffer herunterzuziehen.

    Herrlich, ein Polizist, der an uns kleben wird wie eine Klette, dachte Nell und holte ihren alten, abgegriffenen Seesack unter ihrem Sitz hervor. Sie richtete ihren langen schwarzen Zopf und zog den Mantel eng um sich, damit niemand ihre Messer am Gürtel erblickte.

    Diana nahm ihren Koffer mit einem dankbaren Lächeln entgegen und ließ sich von Cole in den Mantel helfen.

    Draußen auf dem Bahnsteig wurden sie sogleich von einer feuchtkalten Luft empfangen, in die sich Rauch, Qualm und der Geruch von Maschinenfett mischte. Sie drängten sich durch die Menschen am Bahnsteig und beeilten sich, in die trockene Bahnhofshalle zu gelangen. Dort drin sorgten zahlreiche elektrische Lampen für eine angenehme Helligkeit, sodass das triste Novemberwetter nur durch die großen Fenster zu sehen war.

    Wie an vielen Bahnhöfen gab es auch hier Schwarze Bretter, an denen Arbeit angeboten und gesucht wurde, wo Ankündigungen, Veranstaltungen, Werbung und Ausschnitte aus der Zeitung zu finden waren und natürlich Fahrpläne.

    Wie immer bildete sich an solchen Tafeln eine große Menschentraube. Männer und Frauen auf der Suche nach Arbeit, auf der Suche nach Veranstaltungen oder Neuigkeiten. Dazwischen versuchte ein alter, gebeugter Mann mit einem abgenutzten Besen dem hereingewehten Laub Herr zu werden.

    »Hier irgendwo muss er sein«, murmelte Cole eher zu sich selber.

    »Wer?«, fragte Diana.

    »Der Polizist. Er wollte uns hier abholen.«

    »Wie heißt er denn?«

    »Glenn Dellaware.«

    Die einzigen uniformierten Männer waren Bahnhofsmitarbeiter. Aber die vielen Jahre auf der Straße hatten Nells Blick für Polizisten in Zivil geschult, sodass ihr der blonde Mann, mit markantem Schnauzbart und Grübchen im Kinn, an der Eingangspforte sofort auffiel. Das war ihr Polizist.

    »Dort.« Nell machte ihre beiden Begleiter auf den Mann aufmerksam.

    »Das muss er sein«, stimmte Cole ihr zu und schlug die Richtung ein.

    »Mr. Miller-Shepard?« Der Mann kam ihnen entgegen und schlug seinen Mantel etwas zur Seite, damit die Polizeimarke auf der Innenseite sichtbar wurde.

    »Der bin ich.« Cole und der Polizist schüttelten sich die Hände. »Das sind meine Begleiterinnen Miss Diana Flanagan«, er zeigte auf Diana, dann auf Nell, »und Miss Nell?« Er sah sie fragend an, ob sie ihren Nachnamen nennen würde.

    »Nur Nell.« Sie lächelte höflich. Ihr voller Name ging niemanden etwas an. Ihren Nachnamen hatte sie im Waisenhaus gelassen, damit sie möglichst keine Spur hinterließ. Damals aus Angst, Lorenzo könnte sie wieder einfangen, später aus Gewohnheit.

    »Sehr erfreut, Inspektor Glenn Dellaware«, stellte sich der Polizist vor und lupfte charmant seine Melone. Dass Nell ihren vollen Namen nicht nennen wollte, akzeptierte er anstandslos. »Chief Constable Craven hat mir schon von Ihnen und ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit erzählt.«

    »Es ist schon eine Weile her, dass wir uns zuletzt gesprochen haben. Wie geht es dem Chief Constable jetzt?«, fragte Cole.

    »Nicht so gut. Die Vorfälle hier in der Stadt lassen die Bevölkerung langsam verrücktspielen. Wir haben alle Hände voll damit zu tun, Unruhen zu vermeiden.«

    »So schlimm?«

    »Es ist wie in einem Tollhaus. Vor zwei Tagen mussten wir einen Lynchmob stoppen, der wahllos Straßenhunde abschoss. Die Bürger der Stadt schaukeln sich gegenseitig hoch und verbreiten Gerüchte, dass sich ein Höllentor im Moor geöffnet habe. Jetzt haben die Menschen Angst, dass die Straßenhunde von Dämonen besessen seien.«

    »Die armen Tiere«, murmelte Diana betroffen.

    »Sie sagen es«, pflichtete Glenn ihr bei und wandte sich wieder Cole zu. »Sie müssen aber entschuldigen, dass Chief Constable Craven Sie nicht persönlich in Empfang nehmen kann. Er ist wirklich sehr beschäftigt.« Er deutete zur Bahnhofstür und bat seine Gäste ihm zu folgen. »Kommen Sie. Wir gehen aufs Revier. Dort kann ich Sie über den aktuellen Ermittlungsstand informieren.«

    Nell stieß die Luft durch die Zähne aus und folgte widerwillig.

    Auch noch auf ein Polizeirevier! Darauf hatte sie wahrlich keine Lust. Zum einen sahen die von innen alle gleich aus und allesamt waren sie angefüllt mit den gleichen uniformierten Witzfiguren, auch wenn Glenn einen ganz kompetenten Eindruck machte. Trotz allem passte ihr das nicht, aber solange ihr keine passende Entschuldigung einfallen wollte, folgte sie dem Dreiergespann.

    Draußen vor dem Bahnhof herrschte reger Verkehr, zahlreiche Pferdeund Dampfkutschen sammelten sich auf dem Vorplatz und dazwischen schoben, drückten und zwängten sich Passanten.

    Sofort fielen Nell die Männer und Frauen in robuster Lederkleidung, metallverstärkter Schutzausrüstung und warmen Mänteln auf. Nicht wenige trugen ihre Waffen sichtbar am Gürtel. Neben verschiedenen Flinten und Revolvern sah Nell auch Exoten wie Armbrüste, Pfeilpistolen und Netzwerfer.

    Zum Urlaub waren die Männer bestimmt nicht hier.

    Auch Cole entgingen die Bewaffneten nicht, denn er wechselte einen unbehaglichen Blick mit Diana.

    »Hier sind aber viele bewaffnet«, murmelte Diana.

    Dellaware nickte säuerlich. »Sie sagen es. Kommen Sie, ich erzähle Ihnen auf dem Revier davon.« Mit Blick zum trüben Himmel, aus dem unermüdlich Niesel herabfiel, ergänzte er: »Da sind wir im Trockenen.«

    Nell musste nun abwägen, ob ihre Neugier groß genug war, um mit ins Revier zu gehen, oder ob sie später mit Cole und Diana darüber sprach. Sie sah ihre beiden Begleiter an, als wenn deren Anwesenheit ihre Frage beantworten könnte – sie tat es nicht.

    Glenn steuerte derweil die nächste Kutsche an.

    »Zum Polizeirevier«, sprach er zum Kutscher und hielt die Tür für seine Gäste auf.

    Nell blieb stehen, blickte sich um und entdeckte etwas weiter entfernt das Schild Ironpan an einem alten Fachwerkhaus.

    »Ist das ein Gasthaus?«, fragte sie Dellaware.

    Dieser blickte in die gewiesene Richtung.

    »Ja, ist es. Hat geräumige Zimmer, warmes fließendes Wasser und eine annehmbare Küche, aber ich glaube nicht, dass noch Zimmer frei sind.«

    Das würde sie dort gleich herausfinden. Das letzte warme Bad war garantiert schon Monate her.

    Diana und Cole hatten noch keine Übernachtungsmöglichkeit, sodass Nell diese Gelegenheit nutzte, um der Polizei aus dem Weg zu gehen.

    »Cole, Diana«, rief sie den beiden zu. »Ich kümmere mich um unsere Betten. Wir treffen uns nachher dort im Ironpan.«

    »Wo?«, Diana stieg wieder aus und sah in die gezeigte Richtung. »Jetzt schon? Kommen Sie nicht mit?«

    »Ich habe Hunger und brauche ein warmes Bad.« Das war noch nicht einmal gelogen. »Wir treffen uns dort später und ihr erzählt mir dann alles. Falls es keine freien Zimmer mehr gibt, komme ich aufs Revier.«

    Cole zog seine Taschenuhr hervor.

    »Nicht, dass es nachher noch zu spät ist, um ein Zimmer zu bekommen, und wir in einer der Zellen übernachten müssen.« Er zwinkerte den beiden Frauen zu.

    »Die Pritschen sind aber sehr bequem.« Glenn grinste und zog die Tür zu, sodass Nell nichts mehr verstehen konnte. Die Kutsche setzte sich auch gleich in Bewegung und schob sich langsam durch das Gedränge auf der Straße.

    *** 02 – Diana ***

    Die Kutsche rumpelte schon eine Weile über das nasse Pflaster, während sie auf dem Weg zum Police Department waren. Sie hatten noch einen Moment locker geplaudert, bis alle ins Grübeln verfallen waren. Diana dachte über die Möglichkeiten einer so schnellen Mumifizierung nach. In der Tat kamen einige Prozesse dafür in Betracht, aber so richtig schlüssig war es nicht. Ohne Berichte oder gar einem Blick auf eine der Mumien konnte sie nur spekulieren. Nun, aber sie würde lügen, wenn sie behaupten würde, dass das Spekulieren keinen Spaß machte. Der Fall war interessant, ohne Zweifel, und das Wissenschaftlerherz in ihrer Brust konnte es kaum erwarten, sich dieser Angelegenheit anzunehmen.

    »Hat der Chief Constable Sie nur wegen dieser Mumifizierungen kontaktiert?«, begann Glenn das Gespräch, nachdem sie alle drei eine Weile vor sich hin geschwiegen hatten.

    Cole strich durch seinen Bart und hob die Achseln.

    »Chief Constable Craven hat in seinem Schreiben nur um Hilfe bei den Ermittlungen wegen dieser Mumien gebeten. Aber da sowohl die Sache mit den Hunden als auch mit den Mumien zeitgleich auftrat, sollten alle Möglichkeiten in Betracht gezogen werden«, antwortete Cole. »Die Zeitungen schreiben fast alle davon, dass die Hunde dafür verantwortlich sein sollen.«

    »Glauben Sie das?«, fragte Glenn vorsichtig.

    »Es gibt dieses Zitat "Wenn Du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist".« Cole lächelte ein wenig.

    »Da ist was dran«, pflichtete Glenn bei. »Und es ist in Anbetracht der Ereignisse hier in Fenhole auch ein guter Leitspruch.«

    »Wenn wir den Zeitungsberichten Glauben schenken, wurden die Hunde zuerst gesehen«, begann Cole auch gleich über das Thema zu reden.

    »In der Tat, erst erschienen die Hunde, dann kam es zu den Mumifizierungen.«

    »Wie ist das mit den Mumien passiert?«, fragte Diana, da dies für sie der interessante Aspekt bei diesen Ermittlungen war. Nur deswegen hatte Cole sie überhaupt mitgenommen. »Was ist vorher geschehen?«

    »Gar nichts«, gab Glenn unheilvoll zu. »Die Verstorbenen waren tags zuvor noch gesehen worden und keiner von ihnen wirkte, als wenn sie den Teufel im Nacken hätten.«

    Tags zuvor? Erstaunlich! Wieder ging Diana mögliche Todesursachen im Kopf durch. Vielleicht ein Trockenmittel? Im alten Ägypten wurde Natron oder Pottasche verwendet, aber man brauchte geraume Mengen davon, um einen ganzen Körper zu entwässern. Außerdem dauerte dieser Prozess Tage oder gar Wochen. Also wenn kein Trockenmittel infrage kam, was dann? Vielleicht eine Krankheit?

    »Haben Sie schon in Betracht gezogen, dass es sich um eine Krankheit handeln könnte?«, sprach Diana ihre Vermutung aus.

    »Eine Krankheit?« Glenn blickte sie an und eine leichte Blässe breitete sich in seinem Gesicht aus. Oh, ängstigen wollte sie den Mann nun wirklich nicht. Hatte er etwa eine Mumie berührt und nun Angst sich angesteckt zu haben?

    Sie wollte sich entschuldigen, doch Dellaware sprach weiter. »Es wurde schon über einen Fluch spekuliert, aber noch nicht über eine Krankheit.«

    Diana war wirklich nicht abergläubisch, aber würden Magie und Flüche existieren, dann hätte sie davor bei Weitem mehr Angst als vor einer Krankheit.

    »Es muss etwas gewesen sein, was eine massive Dehydrierung verursacht«, sprach sie weiter. Der Haken an der Sache war jedoch, dass das ausgetretene Wasser doch irgendwohin verschwunden sein musste.

    Der Inspektor schürzte die Lippen und fuhr sich dann durch seinen Schnauzbart. »Sprechen Sie das Wort Krankheit aber nicht zu laut aus. Wir haben schon genügend Angst in der Bevölkerung.«

    Diana war kein Freund von Geheimniskrämerei, denn vor einer Gefahr konnte man sich nur effektiv schützen, wenn sie bekannt war. Eine gute Hygiene war bei Erkrankungen das A und O, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Sollte es wirklich eine Krankheit sein, musste die Bevölkerung dringend aufgeklärt werden, nur so könnte eine weitere Ausbreitung dieser mysteriösen Seuche vermieden werden.

    »Sollten sich Ihre Vermutungen erhärten, wird der Chief Constable weitere Schritte mit dem Bürgermeister absprechen«, fügte Glenn erklärend hinzu, als wenn Dianas Zweifel in ihrem Gesicht geschrieben stünden.

    »Eine Krankheit halte ich für unwahrscheinlich«, mischte sich Cole mit ein. »Welcher Erreger treibt die ganze Flüssigkeit in einer Nacht aus einem gesunden Erwachsenen?«

    Diana blähte ratlos die Wangen. Ohne eine der Mumien gesehen zu haben, waren es auch nur bloße Vermutungen.

    »Gibt es noch andere Möglichkeiten, wie so eine rasche Mumifizierung entstanden sein könnte?«, fragte Glenn, nachdem Diana geschwiegen hatte. Ein wenig unsicher sah sie zwischen den beiden Männern hin und her. An der Universität gab es genügend Kommilitonen, die jedes ihrer Worte überprüften, nur um ihr Fehler nachweisen zu können. Denn es gab genügend Studenten, Doktoren und Professoren, denen es nicht passte, dass eine Frau mit ihnen studierte. Auch noch in so einem brisanten Feld wie der Rechtsmedizin. In Windchurch hatte sie Glück gehabt, weil ihr Vater ausreichend Beziehungen hatte und auch ihr älterer Bruder ihr Potenzial erkannt hatte und seine Professoren an der Universität überzeugen konnte. Ohne ihre Familie hätte sie es niemals so weit gebracht und deshalb musste und wollte sie auch so viel oder mehr als ihre Kommilitonen leisten. Sie wurde oft genug ausgeschlossen und übergangen und sie mochte es daher gar nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Cole und Glenn erwarteten nun aber eine Antwort von ihr und auch wenn es keine gemeinen Kommilitonen waren, machte es Diana jedes Mal nervös. Sie wollte keine Fehler machen.

    »Bei trockener und heißer Umgebung vollzieht sich die Mumifizierung von ganz alleine in relativ kurzer Zeit.« Sie machte mit dem Finger eine kreisförmige Bewegung zum Kutschendach. »Hier ist es aber zu feucht. Ansonsten kämen noch verschiedene Gifte in Betracht. Hatten die Verstorbenen Feinde?«

    »Nein, nicht, dass ich wüsste. Das waren ganz normale Leute mit normalen Berufen. Buchbinder, Hausfrau, Notar. Es hat auch nach den Todesfällen keine auffälligen Ereignisse gegeben, die auf verbrecherisches Tun hingewiesen hätten.«

    »Ich würde mir die Toten gerne ansehen, wenn das noch möglich ist«, bat Diana.

    »Das geht leider nicht. Die Verstorbenen wurden alle kurz nach ihrem Auffinden verbrannt, nachdem das Gerücht, sie seien verflucht, die Runde machte und unser Richter diese Ängste durch einige unbedachte Worte auch noch angeheizt hat.«

    Einen Fluch als Erklärung für die Mumifizierungen in Betracht zu ziehen, kam für sie nicht infrage – mit so etwas würde sie sich und damit auch ihre Familie vollkommen lächerlich machen.

    »Wie kommt der Richter zu der Annahme, dass es ein Fluch sei?«, fragte Cole verwirrt. »Ist er so abergläubisch?«

    Glenn schnaubte. »Das ist eine so verrückte Geschichte. Egon McBridge ist seit zehn Jahren unser Richter. Er war bisher immer ein bodenständiger Mann, der hart aber gerecht geurteilt hat. An so etwas wie Hexerei, Magie oder ähnlichen Firlefanz hat er nie geglaubt, aber mit einem Mal schwamm er mit in diesem Strom aus Märchen und Aberglauben.«

    »Wann war dieser Wandel zu bemerken?«, fragte Cole.

    »Nun«, Glenn strich wieder durch seinen Schnauzbart. »Das ist gar nicht so genau zu sagen. Das hat sich im Laufe des Jahres irgendwie eingeschlichen.«

    »Hatte der Richter denn einen Unfall oder etwas in der Art?«, fragte Diana. »Manchmal können Kopfverletzungen oder andere Traumata zu einem veränderten Verhalten führen.«

    »Das würde hier in der Stadt so einiges erklären, aber nicht das Verhalten von Mr. McBridge«. Glenn grinste.

    »Manches Mal sind die Auslöser für uns unbedeutend klein«, sagte Diana lächelnd und warf dabei einen Blick zu Cole, ob er vielleicht auch an den sonderbaren Mr. Woolf dachte, der immer wieder für kleinere Späße und Anekdoten herhalten musste. Man hatte ihm damals wichtige Beweise aus dem Büro gestohlen und seitdem war er der festen Überzeugung gewesen, dass Vögel ihn verfolgten. Er betrat keinen Raum, ohne die Vorhänge und Fenster zu schließen, weil er gefiederte Spitzel auf den Dächern vermutete, und verließ das Haus generell nur noch in der Dunkelheit. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er alle Vögel in der Stadt abschießen lassen, so wie die Menschen es hier mit Hunden vorhatten.

    Cole erwiderte ihren Blick und lächelte sanft. Seine warmen Augen hefteten sich an ihre Lippen und in dem Moment war Diana klar, dass Cole nicht an Mr. Woolf dachte.

    Er empfand mehr für sie als nur eine bloße kollegiale Freundschaft und Diana schafte es einfach nicht, Cole zu erklären, dass sie seine Gefühle nicht erwidern konnte. Es war nicht so, dass sie ihn nicht charmant fand. Er war ein durchaus adretter vornehmer Mann mit guten Manieren und sie beide waren im besten Alter. Aber irgendwie gab es bei Diana nie das Kribbeln im Bauch und die kreisenden Gedanken des Verliebtseins, über das sie gerne in Schmonzetten las.

    Sie fand Cole nett und wollte seine Gefühle nicht verletzen, indem sie ihm sagte, dass sie für ihn nichts empfand. Ja, sie könnte es höflich verpacken, dass sie sich erst auf ihr Studium konzentrieren wollte. Aber sie wollte bei ihm keine falschen Hofnungen wecken und das bisherige Verhältnis aber auch nicht zerstören. So eine verflixte Zwickmühle! Warum konnte sie nicht so ehrlich und direkt sein wie andere Frauen?

    Sie merkte, dass sie Cole nachdenklich angesehen hatte und dieser ihren Blick vermutlich falsch aufasste. Schnell sah sie aus dem Fenster, auch um ihre warmen Wangen zu verbergen. Das war ihr so unangenehm.

    Es war für Glenn nicht schwer gewesen, den Augenkontakt zu bemerken und ofenbar hielt er sie beide jetzt für ein frisch verliebtes Pärchen.

    »Chief Constable Craven hatte mir eigentlich nur Mr. Miller-Shepard angekündigt«, begann der Inspektor zu reden. »Sind Sie Kollegen, oder woher kennen Sie sich?«

    »Das war eigentlich mehr ein Zufall«, begann Cole gleich zu erzählen.

    Für diesen kleinen Moment vergaß Diana ihre guten Manieren und redete einfach in Coles Worte hinein, auch weil sie stolz darauf war, studieren zu können, was für Frauen leider nicht selbstverständlich war. »Ich schreibe im Moment meine Doktorarbeit an der Universität in Windchurch.«

    Cole räusperte sich hörbar. Er mochte nicht so gerne unterbrochen werden.

    »Was studieren Sie?«, fragte Glenn einfach weiter.

    »Rechtsmedizin. Mich interessieren ungewöhnliche Todesfälle.«

    »Ach, sieh an!«, rief Glenn aufgeschlossen. »Das ist ja interessant. Sie beide arbeiten also enger zusammen?«

    »Nicht von Anfang an«, berichtigte Cole und machte eine vielsagende Geste mit der Hand. »Ich untersuche ungewöhnliche Kriminalfälle und Miss Flanagan hatte öfters die Toten dieser Fälle auf ihrem Tisch liegen.«

    Ja, das stimmte. Schmunzelnd dachte Diana an den Tag zurück, als sie in die Totenhalle der Rechtsmedizin kam und sie dort neben einer Leiche den Privatermittler Cole stehen sah.

    Verloren zwischen all den Toten hatte er sich ein parfümiertes Taschentuch vor Mund und Nase gehalten und zwischen Würgen und Husten nur wenige Wörter hervorgebracht. An diesem heißen Sommertag war der Geruch in der Halle wirklich nicht sehr angenehm gewesen. Cole hatte die Verzweiflung getrieben, weil ihm niemand so recht eine Antwort hatte geben können, woran der Mann gestorben war. Auch für Diana hatte es nach einem natürlichen Tod ausgesehen. Doch irgendwann war sie auf die kleine Wunde am Hinterkopf aufmerksam geworden. Ein winziger Einstich ins Stammhirn. Die Verletzung musste irgendwelche lebenswichtigen Körperfunktionen zum Erliegen gebracht haben.

    Auch wenn der Mörder nicht überführt werden konnte, war Cole so begeistert gewesen, dass er von nun an immer öfters tapfer zu ihr in die Leichenhalle gekommen war.

    »Ich hatte in der Rechtsmedizin in Windchurch vor einigen Monaten einen wirklich sonderbaren Fall liegen. Angeblich war der Mann ganz plötzlich in seinem Zimmer in Brand geraten«, erzählte Diana eine andere Geschichte, die, wie sie fand, von der Rätselhaftigkeit am ehesten vergleichbar mit den Mumifizierungen war.

    »Spontane Selbstentzündung«, übernahm Cole das Gespräch, der zu ahnen schien, welchen Fall sie meinte – und er hatte Recht. »Der Mann war in seinem Wohnzimmer völlig verkohlt aufgefunden worden. Wirklich sonderbar daran war, dass er zum Zeitpunkt des Verbrennens ein Buch las.«

    »Was ist daran seltsam?«, wollte Glenn wissen.

    »Das Buch war kein bisschen verbrannt«, wies Cole auf die sonderbaren Umstände hin. Glenn hob überrascht die Augenbrauen und hörte weiter zu.

    »Ich musste also herausfinden, ob er sich selber angezündet hat oder ermordet wurde«, erklärte Cole und sah nun zu Diana, damit sie auch ihren Beitrag dazu leisten konnte.

    Sie öffnete den Mund und wollte reden, aber der Inspektor sprach schon weiter. »War es Mord?«

    »Alles deutete darauf hin«. Cole nickte.

    Diana schluckte ihren Groll still hinunter. Sie war es gewohnt, dass man sie überging, aber sie hätte sich gerne in das Gespräch mit eingebracht.

    »Und am Ende konnte ich den Täter ermitteln und er legte schlussendlich auch ein Geständnis ab. Damit war der Fall für mich abgeschlossen. Die Mordwaffe blieb allerdings verschwunden«, beendete Cole die Schilderung.

    Mordsubstanz, fügte Diana in Gedanken hinzu. Dem Mann musste etwas Brennbares eingeflößt worden sein. Diana war sich absolut sicher, dass es irgendeine Chemikalie gewesen sein musste und bis heute wurmte es sie, dass sie dem nicht auf die Spur gekommen war. Gerne hätte sie sie in ihre Doktorarbeit mit aufgenommen.

    »Ich merke, dass wir die richtigen Experten hier vor Ort haben«, sagte Glenn grinsend.

    Experte. Diana gefiel die Bezeichnung. Es klang wie ein Lob, welches sie von innen erfreute und ihren Groll verfliegen ließ. »Es ist jedenfalls sehr erfrischend, dass ich dank Mr. Miller-Shepard immer wieder äußerst mysteriöse Todesfälle auf meinem Tisch liegen habe.« Diana warf Cole ein schüchternes Lächeln zu, was dieser erneut mit diesem Blick beantwortete.

    »Und ich profitiere sehr von Miss Flanagans Wissen. So mancher Fall wäre sonst nicht als Mord erkannt worden«, lobte Cole, was bei Diana warme Wangen verursachte. Jetzt bekam sie Lob von beiden Herren. Das war ihr schon fast unangenehm. Ja, es fühlte sich gut an, aber so etwas erreichte Diana so selten, dass sie damit nicht gut umzugehen wusste.

    Glenn sah wieder zwischen beiden hin und her, und man sah ihm deutlich an, welche Frage ihm auf der Zunge lag. Aber aussprechen tat er es Gott sei Dank nicht. Nur sein verschmitztes Lächeln verriet, was er sich dachte.

    Sahen sie und Cole wirklich so verliebt aus? Dabei wollte sie das gar nicht. Sie mochte und schätzte ihn, aber verliebt war sie nicht. Ganz im Gegensatz zu Cole, der sich vermutlich nichts sehnlicher wünschte als ein gemeinsames Abendessen. Immer wieder hatte er gefragt und immer wieder hatte sie eine Ausrede gefunden, was ihr schon so oft ein schlechtes Gewissen bereitet hatte. Aber sie hatte Angst davor, was darauf folgen könnte. Angst, Coles Wünschen nicht gerecht zu werden und ihm nicht geben zu können, was er sich erhoffte. Angst, dass ihre kollegiale Beziehung darunter leiden könnte und, ja, auch Angst, dass es ihr doch gefallen könnte.

    Bevor ihre beiden Begleiter ihre Verunsicherung bemerkten, blickte sie aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass sie ihr Ziel alsbald erreichten.

    *** 03 – Nell ***

    Nell steuerte zügig das Gasthaus an und hoffte, dass die Zimmer nicht im Voraus bezahlt werden mussten, sofern überhaupt noch welche frei waren. Unabhängig von den kommenden Erkenntnissen, würde sie sich eine Arbeit suchen müssen, wenn sie die nächsten Tage über die Runden kommen wollte.

    Verdammt, sie hasste es, ohne finanzielle Mittel dazustehen.

    Auf dem Weg schätzte sie die vorbeieilenden Passanten dahingehend ab, wo diese ihre Geldbörsen versteckten. Taschendiebstahl war eine leichte und effektive Methode, um schnell an Geld zu kommen, man durfte sich nur nicht erwischen lassen.

    Vor dem Hotel fiel ihr eine Gruppe Männer ins Auge. Deren Stiefel waren schlammverschmiert und die Hosen dreckig. Jeder von ihnen schulterte ein Gewehr und trug reichlich Munition in sichtbaren Patronengurten mit sich. Es wirkte seltsam, dass sich derart bewaffnete Männer hier mitten auf dem Gehweg unterhalten konnten, ohne dass sich Passanten daran störten. Klar, Nell war auch stets bewaffnet unterwegs, aber sie würde niemals auf die Idee kommen, ihre Wurfmesser so öffentlich zu präsentieren.

    »Ich sag euch, ich geh gleich wieder los. Diese Biester müssen irgendwo sein«, rief grade ein großer stämmiger Mann mit abgenutztem Porkpie Hut.

    »Lass es, Walter.« Ein alter Mann mit langem Rauschebart und knarrender Raucherstimme redete auf Walter ein. »Warte doch ab. Morgen früh ist die große Jagd.«

    »Das sagst du!« Walter spuckte aus. »Da draußen hab ich meine Rinder!«

    »Walter, die Hunde haben in den letzten Wochen nicht ein einziges Stück Vieh gerissen«, redete der Rauschebart weiter auf ihn ein. »Tu nichts Unüberlegtes.«

    »Greg hat recht.« Ein Mann mit schulterlangen schwarzen Locken und Dreitagebart ergriff das Wort. »Bis jetzt weiß ich von mindestens dreißig Mann hier aus dem Viertel, die morgen bei der Jagd dabei sind.«

    Nell war an der Tür stehen geblieben und tat so, als wenn sie das Tagesmenü studieren würde, welches neben der Hoteltür auf eine Schiefertafel geschrieben stand.

    So, morgen soll es eine Jagd auf diese Hunde geben. Da bin ich genau zum passenden Zeitpunkt hier angekommen, dachte sie.

    »Dreißig? Das ist doch lächerlich.« Walter spuckte wieder aus. »Die Sümpfe sind riesig, meinst du wirklich, wir bekommen eines dieser Viecher vor die Flinte?«

    »Sieh dich um.« Der Schwarzhaarige deutete zum Bahnhof. »Ich fresse mein Gewehr, wenn das morgen nicht hundert oder sogar zweihundert Mann sind.«

    »Ja, zweihundert Mann, die in dem verdammten Nebel keinen einzigen Hund treffen werden«, widersprach Walter energisch.

    »Das sind keine Zwergpudel«, sprach Greg, »das sind riesige Bestien direkt aus dem Höllentor. Vertrau in Gottes Führung.«

    »Macht ihr doch, was ihr wollt.« Walter wandte sich zum Gehen. »Ich gehe zu meiner Weide und wenn sich irgendein schwarzes Biest da blicken lässt, durchlöchere ich dessen Fell.«

    »Der Herr wird dich führen, vertraue darauf!«, rief Greg ihm noch nach und sah den Schwarzhaarigen kopfschüttelnd an. Dieser hob nur die Achseln und blickte stattdessen zu Nell herüber.

    Ertappt zuckte sie zusammen, huschte in das Hotel und stand sogleich in der leeren Gaststube. Es roch nach altem Fett, Bier und Holzofen. Alles hier wirkte schon recht abgenutzt und staubig. Die Treppenstufen ausgetreten, die Petroleumlampen trüb und die Möbel abgegriffen und fleckig. Nobel war anders, dennoch war es hier auf eine ganz eigentümliche Weise gemütlich.

    Namensgeber des Gasthauses waren die zahlreichen Pfannen, die in unterschiedlichen Größen, Farben und Formen die Wände schmückten. Unter jeder Pfanne hing ein kleines Messingschild mit einem kurzen Text. Neugierig ging Nell zu einer alten schwarzen Pfanne mit schiefem Griff und las den Einzeiler auf dem kleinen Schild.

    Duell Pfanne gegen Kopf. Pfanne hat gewonnen. Nell schmunzelte.

    »Kann ich Ihnen helfen?« Leise war ein dicker Mann mit buschigen grauen Koteletten und ebenso buschigen Augenbrauen aus der Küche aufgetaucht.

    »Haben Sie noch Zimmer frei?« Nell ging einfach davon aus, dass der Mann der Besitzer des Hotels war. Er trug eine saubere Samtweste und darunter ein weißes Leinenhemd, was ihn nicht grade wie einen Koch aussehen ließ.

    »Nicht mehr viele«, antwortete der Mann, ging hinter den Tresen und öffnete ein großes schwartiges Lederbuch.

    »Nachdem Chief Constable Craven diese Jagd ausgerufen hat, kommen in den letzten Tagen zahlreiche Jäger in die Stadt.«

    »Was ist an dieser Hundejagd so besonders?« Nell setzte sich auf einen der vielen Barhocker und wackelte mit ihrem Po ein wenig hin und her, um sich von der Stabilität zu überzeugen.

    Der Mann sah verwundert auf. »Sie haben noch nichts davon gehört?« Er musterte Nell, wie sie da saß mit ihrem alten Seesack, der abgetragenen Kleidung und dem leicht außer Form geratenen Zopf. »Weshalb sind Sie hier in die Stadt gekommen?«

    »Gibt es denn eine Belohnung?« Nell überhörte die Frage des Mannes, das ging ihn nichts an.

    »Klar. Fünfzig Pfund Sterling für jeden schwarzen Pelz.«

    »Fünfzig Pfund?!« Das war für manche Handwerker ein ganzer Jahreslohn! Wenn ihre Spur hier doch im Sande verlaufen sollte, dann hätte sie zumindest fünfzig Pfund Sterling verdient und ihre Geldsorgen hätten sich verflüchtigt. Damit könnte sie sich neue Stiefel kaufen, neue Kleidung und neue Waffen!

    Und alleine die Tatsache, dass so eine Belohnung ausgerufen wurde, zeigte, dass an den Gerüchten mehr dran war als bloße Übertreibung.

    Oh, Nell, das klingt mehr als vielversprechend!

    »Wie kommt man dazu, so viel Geld für einen toten Hund zu bezahlen?« Vielleicht wusste der Besitzer vom Ironpan mehr.

    »Weil das keine normalen Hunde sind.« Die Antwort kam von der Tür.

    »Und das weiß man woher?«, fragte Nell im langsamen Herumdrehen. Es war der Mann mit den schwarzen Locken, der zuvor noch in der kleinen Gruppe gestanden hatte. Er trug eine beigefarbene Jeans und hatte neben seinem normalen Gürtel auch einen Patronengurt lässig um die schmale Hüfte gebunden. Die oberen Hemdknöpfe trug er geöffnet und präsentierte jedem seine Brusthaare. Über all dem trug er einen verschlissenen Parka mit Fellapplikationen an Kragen und Rücken, was ihn wie einen Einsiedler aussehen ließ, der in einem Zelt in der Wildnis wohnte und sein Geld damit verdiente, Fährten zu lesen und Kaninchen mit bloßen Händen zu jagen.

    »Diese Biester sind riesig. Die einen sagen groß wie Kälber, die anderen groß wie ein ausgewachsener Bulle oder auch wie ein Pferd.« Er setzte sich ungefragt neben Nell und legte dabei sein schweres, doppelläufiges Gewehr auf den Tresen.

    »Ein Bier, Quinn«, bestellte er beim Dicken.

    »Moment.« Dieser hob die Hand und wandte sich an Nell, da sie zuvor nach einem Zimmer gefragt hatte. »Doppelzimmer? Einzelzimmer? Wir haben nur noch zwei Doppelzimmer und ein Einzelzimmer frei. Ansonsten sind wir leider schon voll.«

    »Das Einzelzimmer und ein Doppelzimmer«, sagte Nell gleich. Quinn sah sie fragend an.

    »Ich bin mit zwei, ähm, Kollegen hier, die noch etwas zu erledigen haben, aber später hierherkommen. Ich sollte mich schon mal um die Zimmer kümmern.«

    »Auf welchen Namen?«

    Die Lüge kam schneller über Nells Lippen, als ihr lieb war. »Miller-Shepard.«

    »Vollständiger Name?«

    »Nell Miller-Shepard.« Warum hatte sie Cole nun mit hineingezogen? Sie hätte auch irgendeinen beliebigen englischen Nachnamen nennen können, niemand hätte es auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen können.

    Quinn schob ihr das dicke Buch hin und zeigte auf die Stelle für eine Unterschrift.

    »Wie lange wollt ihr bleiben?«, fragte er weiter.

    »Erst mal vier Tage.«

    »Dann bekomme ich im Voraus drei Schilling. Bei Abreise weitere neun Schilling.«

    Verdammt! Nell hatte nur noch ein paar lausige Pennys in ihrer Tasche, für die sie höchstens ein schales Bier bekommen würde.

    Jetzt musste irgendeine Ausrede her, mit der sie sich um das Geld drücken konnte.

    Sie lächelte entschuldigend und blickte Quinn mit großen Augen an.

    »Mein Mann hat leider meinen Koffer«, log sie.

    Quinn atmete tief ein, stützte sich mit beiden Händen auf der Holzfläche ab und sah Nell mit hochgezogenen Augenbrauen an. Solche Storys hörte er wohl des Öfteren und Nells Augenaufschlag schien bei diesem Geschäftsmann nicht zu fruchten.

    Oh, Nell, verspiel´ dir nicht das warme Bad. Schnell sprach sie weiter, bevor ihr Zögern die Lüge enttarnte.

    »Mein Mann ist noch auf dem Polizeirevier, um sich weitere Details geben zu lassen. Er ist nämlich wegen dieser Mumienmorde hier, nicht wegen der Hunde.«

    »Mumienmorde?« Quinns eine Augenbraue rutschte nach unten, während die andere stramm hochgezogen blieb.

    »Sie meint diese sonderbaren Mumifizierungen«, erklärte der Gast neben ihr. Nell nickte eifrig zustimmend.

    »Ach so und ihr Mann …«, Quinn legte eine Pause ein, wobei er seinen Blick über Nells Hände streichen ließ, wo Verheiratete stets einen Ehering zu tragen pflegten. Nell besaß nichts dergleichen. Daran hätte sie vielleicht denken sollen, bevor sie wieder mit ihren Notlügen um sich warf. Handschuhe an und das Thema hatte sich erledigt. »…der kommt gleich vorbei?«, fuhr Quinn mit seiner Frage fort.

    »Ich trage auf Reisen keinen Schmuck, falls Sie das meinen.« Nell behielt ihr Pokerface bei und lächelte entschuldigend. »Sie wissen schon, wegen Dieben. Als Frau muss man aufpassen.«

    Quinn atmete tief ein und man sah ihm deutlich an, dass er von der Geschichte gar nichts hielt. »Und das soll ich Ihnen abkaufen? Miss, Sie sind nicht der erste schräge Vogel, der hier mit Mein Mann, Meine Frau, Meine Mutter und so weiter ankommt und etwas schnorren will.«

    Der Unbekannte neben ihr, der bisher still gelauscht hatte, lachte leise.

    »Lass gut sein, Quinn. Wenn die Dame hier kein Geld hat, bezahle ich die drei Schilling. Nachher kommt schließlich ihr Mann und gibt mir mein Geld zurück. Nicht wahr?« Er warf Nell dabei einen amüsierten Blick zu, wobei sie sehr wohl die unterschwellige Warnung heraushörte. Ein Wohltäter war er nicht, so viel war klar. Wenn sie ihm das Geld nicht schnellstmöglich zurückzahlte, würde er irgendwelche Gefälligkeiten einfordern.

    Nell tat erleichtert. »Oh, vielen Dank Mr. …?«

    »Victor Ravenwood«, stellte sich der Unbekannte vor, holte drei Schilling hervor und reichte sie an Quinn weiter.

    »Frauen werden nochmal dein Verhängnis«, brummte dieser und legte die zwei Schlüssel auf den Tresen.

    »Dann wird es ein schönes Verhängnis. Wo bleibt mein Bier?«

    Quinn schloss das Buch und kümmerte sich um Victors Bestellung.

    »Also, Mr. Ravenwood.« Nell versuchte, möglichst schnell von der unangenehmen Situation abzulenken. Sie würde später noch genug Ärger bekommen, wenn Cole von ihrer mehr oder weniger kleinen Notlüge erfahren würde.

    »Einfach nur Victor«, korrigierte dieser.

    »Was sollen das für Hunde sein?«

    »Die sind das erste Mal vor drei Wochen aufgetaucht«, antwortete er.

    »Erst vor drei Wochen?«

    »Ja, bisher hat niemand je etwas Größeres als einen Fuchs oder ein Wildschwein in den Sümpfen gesehen. Und dann waren da plötzlich diese riesigen Viecher. Glühende Augen, tiefschwarzes Fell.«

    »Und das glauben hier alle? Glühende Augen?« Nell stellte ihre Fragen nun möglichst unvoreingenommen. Sie wollte die ehrlichen Details der Einheimischen hören.

    »Nun ja, normalerweise hätte dem niemand Beachtung geschenkt, bis zum ersten Mord. Da wurde dieser Sir … Sir … ach, wie hieß der reiche Schnösel noch?«

    »Sir William Jones«, half Quinn aus.

    »Der wurde bei einer Fuchsjagd von den Hunden erwischt. Wurde samt seinem Pferd völlig zerfetzt. Die haben seine Einzelteile über dreihundert Fuß im Sumpf zusammensuchen müssen.«

    »Hat jemand gesehen, dass es die Hunde waren?«, fragte Nell weiter. Die Story schien wirklich vielversprechend. Zeitungen übertrieben auch mal, um möglichst viel zu verkaufen, aber bis jetzt deckten sich die Aussagen.

    »Nein. Aber die Bisswunden am Pferd sprachen dafür. Jones haben sie richtig auseinandergenommen. Aber nicht gefressen.«

    »Nun ja, das Pferd wurde von der Meute auch kaum angerührt.« Quinn stellte das Bier auf den Tresen und blieb bei den beiden Gästen stehen, um mitzureden.

    »Gaul schmeckt auch nicht«, sagte Victor und grinste. »Besonders diese grauenvolle Pferdewurst, die du hier immer auftischst.«

    »Oh, Mr. Ravenwood isst seit Neustem nur noch Stör im Mohnmantel?«, feixte Quinn.

    »Auf jeden Fall! Warum hast du keinen Stör im Angebot?«, sagte Victor fröhlich grinsend.

    »Morgen gibt’s Karpfen«, antwortete Quinn.

    »Teufel auch, verschone mich!« Victor verzog das Gesicht und schüttelte sich. Der Wirt rollte mit den Augen, wobei Nell ungeduldiger wurde, weil ihre beiden Informationsquellen vom Thema abschweiften.

    »Vielleicht wurde die Meute gestört?«, redete sie schnell weiter, bevor Quinn noch mehr zum Karpfen sagen konnte.

    »Wäre das eine wilde, hungrige Hundemeute gewesen, dann hätten sie ihre Beute zumindest teilweise aufgefressen. Aber angeblich haben sie den Jones in Einzelteilen aus dem Moor getragen«, erzählte der Wirt.

    »Ich vermute, dass jemand die Hunde auf ihn gehetzt hat. Dieser geldgierige Sack Sir Jones hatte genügend Feinde«, brummte Victor.

    »Das fällt doch auf, wenn jemand riesige Hunde züchtet«, entgegnete Nell.

    »Das Moor ist groß. Da gibt es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken.« Auch Quinn schloss diese Möglichkeit nicht aus. »In Old Fenhole zum Beispiel.«

    »Old Fenhole?«, hakte Nell nach.

    »Das ist eine Ruine irgendwo in den Sümpfen, hab sie aber selber noch nie gesehen«, erklärte Victor.

    »Warum? Gibt es keine Wege dorthin?« Victors Aussehen sprach dafür, dass er viel in der Wildnis unterwegs war. Er musste sich doch auskennen. Nicht, dass eine alte Ruinenstadt wirklich von Interesse war, aber womöglich war an der Theorie etwas dran, dass die Hunde von dort kamen.

    Die Antwort darauf kam von Quinn. »Als sich das Moor vor dreißig Jahren weiter ausgebreitet hat, sind die Pfade zum alten Fenhole verschwunden. Ohne Wege und ohne Karte ist es zu gefährlich geworden und wegen des Nebels hat man sich nach wenigen Schritten sowieso verirrt«, erklärte er. »Sogar unsere erfahrenen Torfstecher und Jäger, die früher blind in die Ruinen gefunden haben, laufen im Kreis. Sie sagen, es sei wie ein Fluch, der über dem Moor liegt.«

    »Genau, Flüche. Bald noch Hexen auf Besen«, murmelte Victor sarkastisch.

    »Was hat das mit dem Nebel auf sich?«, wollte Nell wissen. Nebel war nun nichts Ungewöhnliches für ein Moor, aber so wie sich die beiden anhörten, glaubten sie, dass eine übernatürliche Macht dahintersteckte.

    »Mrs. Miller-Shepard, das ist eines der großen Rätsel hier in Fenhole«, begann Quinn mit geheimnisvoller Stimme zu erzählen. »Vor etwa dreißig Jahren zog im Old Fenhole plötzlich Nebel auf und der Boden sank ab.«

    »Der Boden sank ab?«

    »Laut Wissenschaftlern wurde Old Fenhole auf weichem Grund gebaut. Damals, als Old Fenhole erbaut wurde, war das Moor nur so ein kleines Wasserloch, an dem Torf abgebaut wurde. Dann wurde wohl irgendeine Quelle angestochen, Wasser trat aus und die ganze Gegend versumpfte. Das ist jetzt bestimmt zweihundert Jahre her. Das Land war aber fruchtbar, also siedelten die Menschen um und bauten weiter südlich das heutige Fenhole.«

    »Das interessiert doch niemanden. Erzähl ihr vom Nebel«, warf Victor dazwischen.

    »Ich erzähl doch schon!«, raunzte Quinn ungehalten zurück. »Jedenfalls hatte man sich mit dem Moor arrangiert. Aber vor dreißig Jahren sank der Moorboden erneut ab und gleichzeitig zog der Nebel auf. Wissenschaftler waren hier und haben erklärt, dass irgendeine unterirdische Kammer eingestürzt sei, aus der nun Erdgas austritt, das an der Oberfläche diesen Nebel bildet.« Er hob die Hände. »Das ist die offizielle Erklärung. Aber es wird gemunkelt, dass Hexerei im Spiel sei.«

    »Ach, hör auf mit deiner Hexerei«, schnaubte Victor. Wenn Nell es nicht besser wüsste, würde sie das auch für Humbug halten.

    »Viele haben damals die Männer und Frauen im Moor gesehen«, beharrte Quinn. »Hexen und Hexer, die dort ihre unheilvolle Zauberei an den Menhiren betrieben haben.«

    »Suffgespenster«, brummte Victor.

    »Du bekommst gleich nichts mehr zu saufen, wenn du dich weiter über mich lustig machst«, maulte Quinn.

    »Welche Menhire?«, fragte Nell dazwischen.

    »Na, der Steinkreis, der das ganze Moor umschließt«, erklärte Quinn weiter. »Riesige aufrecht stehende Steine. Dort hat man angeblich vor dreißig Jahren Männer und Frauen umhergehen sehen und ich sage, das ging damals nicht mit rechten Dingen zu, denn kurz darauf war der Nebel da. Ich sag euch, da war Hexerei im Spiel, ich hab das selber miterlebt! Da hat sich ein Höllentor aufgetan, aus dem jetzt diese Bestien in unsere Stadt einfallen.«

    Victor stützte sein Kinn in seine Handfläche und grinste Quinn auf eine Weise an, wie ein Großvater, der einer abenteuerlichen Geschichte seines Enkels lauschte. »Glaub du mal deine Geschichte, ich bleib dabei, dass das irgendein Erdgas ist und dass jemand seine Hunde im Moor versteckt.«

    Nell wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Wenn niemand nach Old Fenhole gelangen konnte, wie sollten dann die Hunde hinfinden? Die hatten sich bestimmt keine dreißig Jahre lang dort versteckt und den Weg zurück erst jetzt gefunden. »Und ihr glaubt, dass in den Ruinen jemand wohnt, der riesige Hunde

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