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Tatsächlich Weihnachten
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eBook512 Seiten7 Stunden

Tatsächlich Weihnachten

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Über dieses E-Book

Vier Menschen, vier Schicksale, ein berührendes Weihnachtswunder:Catherine graut es vor den Festtagen. Ihr Leben in London ist unerträglich. Die Ehe liegt in Scherben.Noel verliert ausgerechnet vor den Feiertagen seinen Job und damit jeglichen Lebensmut.Marianne versucht sich im idyllischen Örtchen Hope Christmas auf Weihnachten zu freuen, doch alles um sie herum erinnert sie an ihre verlorene Liebe.Gabriel ist verzweifelt, seine Frau ist auf und davon. Doch seinem Sohn will er ein glückliches Fest bereiten.Nur das Eingreifen eines rettenden Engels kann diesen vier beweisen, dass zu Weihnachten Wunder wahr werden können.

SpracheDeutsch
HerausgeberMIRA Taschenbuch
Erscheinungsdatum1. Nov. 2015
ISBN9783956494994
Tatsächlich Weihnachten
Autor

Julia Williams

Julia Williams wuchs mit sieben Geschwistern im Norden Londons auf und studierte in Liverpool. Nach einigen Berufsjahren im Verlagswesen widmet sie sich inzwischen ganz dem Schreiben. Während des Studiums lernte sie ihren Mann David kennen. Mit ihm und den vier gemeinsamen Kindern lebt sie mittlerweile in Surrey

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    Buchvorschau

    Tatsächlich Weihnachten - Julia Williams

    Prolog

    Marianne lehnte sich in die bequemen Polster von Lukes brandneuem BMW M5 zurück. Hier im Wagenfond war alles in Leder gehalten, jeder Zentimeter der pure Luxus. Was die Innenausstattung betraf, so fand sich hier nur das Neueste vom Neuen an technischen Spielereien und Design. Luke strotzte nur so vor Selbstbewusstsein, während er den Wagen souverän mit einer Hand am Lenkrad steuerte. Marianne warf ihm einen Seitenblick zu und stieß einen glücklichen Seufzer aus.

    „Was ist?" Lachend schaute er zu ihr hinüber.

    „Kneif mich mal, erwiderte sie. „Ich kann noch immer nicht fassen, dass das alles wirklich wahr sein soll.

    „Vielleicht bist du einfach nur ein wenig begriffsstutzig?" Luke grinste breit und drückte das Gaspedal durch.

    Es war nicht das erste Mal, dass Marianne das Gefühl hatte, zu träumen, seit sie und Luke ein Paar waren. Von Anfang an hatten sein Charme und sein Aussehen sie ins Schwärmen gebracht, auch wenn sie fest davon überzeugt gewesen war, dass er sie nicht einmal wahrnahm. Um genau zu sein, Luke war so weit von dem Typ Mann entfernt, auf den sie bisher immer geflogen war, dass sie die Intensität ihrer Gefühle selbst überrascht hatte. Aber die Kombination aus seinen haselnussbraunen Augen und dem hellen Haar, das er immer aus dem Gesicht zurückgekämmt hatte und dadurch seine klassischen männlichen Züge noch mehr zur Geltung brachte, hatte etwas Hypnotisierendes.

    Unter normalen Umständen wäre Marianne jemandem wie Luke nicht einmal begegnet. Aber dank ihren beiden reichen Freundinnen Carly und Lisa, die trotz Wirtschaftskrise noch immer geradezu unanständig viel Geld in Londons Bankenviertel verdienten, war sie in den Winterferien in den Genuss eines Skiurlaubs gekommen, den sie sich von ihrem Lehrergehalt niemals hätte leisten können. Carly war nämlich in letzter Minute abgesprungen und hatte ihre Reservierung großzügigerweise Marianne überlassen. Und so hatte Marianne eine berauschende Woche auf den Hügeln und Pisten eines fantastischen Skiresorts verbracht. Niemals hätte sie sich träumen lassen, einmal so etwas zu erleben.

    Sie hatte Luke gleich am ersten Tag getroffen. Unsicher und nervös, war sie vor den Augen der versammelten Gruppe geübter Skifahrer prompt flach auf den Rücken gefallen. Nicht, dass die allgemeine Erheiterung hämisch gewesen wäre, das nicht, aber Marianne fühlte sich so oder so schon komplett fehl am Platz unter all diesen Reichen und Schönen. Sie befand sich weit außerhalb ihrer eigenen Welt, und alle hier wussten es. Und mit diesem Sturz hatte sie sich als das ungelenke hässliche Entlein bewiesen, für das die anderen sie hier bestimmt alle hielten.

    Luke hatte als Einziger nicht gelacht. Stattdessen hatte er ihr mit seinen starken Armen zurück auf die Füße geholfen und angeboten, ihr das Skifahren beizubringen. Die gesamte Woche hatte er sie mit Umsicht und Verständnis behandelt, ja, mit eindeutiger Zuneigung und Zärtlichkeit – und vor allem mit offenbar nie versiegender Geduld angesichts ihres augenscheinlichen Mangels an Talent, auf Skiern eine gute Figur zu machen. Marianne war ihm für seine liebevolle Art unendlich dankbar gewesen. Dass er so unglaublich attraktiv war und noch dazu offensichtliches Interesse an ihr zeigte, war natürlich auch eine große Hilfe gewesen. Bei ihm fühlte sie sich wie der anmutige schöne Schwan, obwohl sie wusste, dass sich das hässliche Entchen da irgendwo unter dem dicken Skianzug versteckte. Aber mit Luke zusammen zu sein war eine magische, berauschende, weltbewegende und lebensverändernde Erfahrung.

    Seither hatte Marianne das Gefühl, nur noch auf Wolken zu wandeln. Luke führte sie in eine Welt, die ihr völlig fremd war. Er nahm sie mit nach Henley zur Regatta, zum Finale nach Wimbledon, zum Grand Prix nach Silverstone. An den Wochenenden fuhr er mit ihr hinaus aufs Land, wo sie in schicken Luxushotels wohnten und Marianne sich jedes Mal wie ein Filmstar fühlte. Jeder einzelne Tag mit Luke war ein Abenteuer, aber heute hatte er sich selbst übertroffen.

    Gestern Abend hatte er angerufen. „Hast du Lust, das Wochenende bei meinen Eltern auf dem Land zu verbringen?", hatte er ohne Einleitung vorgeschlagen, und Mariannes Herz hatte einen erwartungsvollen Hüpfer getan. Luke fiel immer von einem Extrem ins andere. Hungersnot oder Festbankett – entweder er musste das ganze Wochenende arbeiten und sie sahen sich überhaupt nicht, oder aber er riss sie spontan mit ins nächste Abenteuer. Es war wirklich wunderbar. Trotzdem hätte Marianne sich manchmal einfach eine etwas ausgeglichenere Beziehung gewünscht.

    Und diese Einladung fürs Wochenende … bedeutete das nun, dass er sie endlich seiner Familie vorstellen wollte? Ihre Eltern hatte er bereits zweimal getroffen. Beide Male war Marianne vor Nervosität halb umgekommen. Aber Luke war so charmant wie immer gewesen und hatte sich begeistert von ihrem eher kleinstädtischen Elternhaus gezeigt. Und natürlich hatte er ihre Eltern komplett für sich eingenommen. Marianne hatte ihre Mum mehrfach erst im letzten Moment davon abhalten können, ihn offen heraus zu fragen, ab wann sie ihn denn nun offiziell zur Familie zählen dürfe.

    Marianne hatte immer auf eine Gegeneinladung gewartet – bisher jedoch vergeblich. Luke schien es zu genießen, bei ihrer Familie ein und aus zu gehen, aber wenn es um seine eigene ging, wich er aus. Marianne wusste, dass er vermögend war und dass er im Familienunternehmen arbeitete, das Landerschließungen und Projektentwicklungen übernahm. „Wir bauen Ökostädte", so nannte er es. Aber ansonsten hielt er sich mit Informationen eher zurück. Vielleicht hätte sie schon viel eher viel mehr nachgefragt, wenn sie nicht so hingerissen von ihm wäre. Außerdem würde er es ihr schon erzählen, wenn er es für angebracht hielt, hatte sie entschieden. Sie wollte nicht neugierig erscheinen.

    Und so fuhren sie also jetzt über die gewundene Landstraße dahin, während die warme Sonne bereits lange Schatten warf. Auf den Feldern stand das erntereife Getreide mannshoch, die sanfte Sommerbrise wiegte die schweren Ähren, Kühe grasten auf den Weiden und Vögel zwitscherten in den Hecken entlang der Straße. Genau so hatte Marianne sich die ländliche Idylle immer vorgestellt, davon hatte sie geträumt. Als Kind war sie regelrecht besessen von den Abenteuergeschichten gewesen, die Kinder auf dem Land erlebten. Die Bücher über die Fünf Freunde sowie andere wie Swallows and Amazons und Lone Pine Club hatte sie regelrecht verschlungen. Das Leben auf dem Land war ihr so viel aufregender erschienen als das in der Vorstadt im Norden Londons. Ihre Lieblingsserien im Fernsehen waren Die Waltons und Unsere kleine Farm gewesen, und die hatten ihre Überzeugung noch bestärkt, dass ein gemütliches Haus auf dem Land, ein Mann, der sie anbetete, viele pausbackige Kinder und natürlich diverse Haustiere zu ihrem perfekten Bild von der Zukunft dazugehörten. In dem winzigen Garten hinter dem Haus ihrer Eltern hatte es keinen Platz für Haustiere gegeben, und so war Marianne schon früh fest entschlossen gewesen, dass sie sich als Erwachsene selbst dafür entschädigen würde.

    Sie war in einer grauen Londoner Straße aufgewachsen und hatte immer das Gefühl gehabt, die Stadt würde ihr die Luft abschnüren und sie einengen. Wirklich wohl fühlte sie sich nur, wenn sie lange Spaziergänge im Grünen machen konnte. Dann atmete sie tief die frische Luft ein und genoss das Gefühl, den Elementen ausgesetzt zu sein. Sie hegte schon lange den Traum, irgendwo zu leben, wo es aussah wie hier.

    „Es ist wunderschön, sagte sie jetzt. „Es muss großartig sein, hier zu Hause zu sein.

    „Vermutlich ist es ganz okay, tat Luke ab. „Aber ehrlich gesagt bin ich es leid, als Landei zu gelten.

    „Wirklich?" Marianne würde nie verstehen, warum jemand, der all das hier hatte, jemals mit dem Gedanken spielte, es hinter sich zu lassen und wegzugehen.

    „Wir sind gleich da." Sobald Luke einen langsam tuckernden Traktor überholt hatte, trat er das Gaspedal durch und brauste mit atemberaubendem Tempo über die Landstraße. Der Wind spielte mit Mariannes Haar, die Sonne schien ihr warm auf die Schultern … das Leben war einfach großartig!

    Und dann, ganz plötzlich, als sie um eine Kurve bogen, lag das beeindruckende Tudor-Haus direkt vor ihnen. Ein zweiflügliger Bau in schwarz-weißem Fachwerk, geschmückt mit Zinnen, Türmchen und Giebeln, umgeben von großen gepflegten Rasenflächen, auf denen tatsächlich Pfaue – Pfaue! – majestätisch einherschritten.

    Marianne stand der Mund offen. Jetzt bekam sie es also endlich zu Gesicht: Hopesay Manor – seit Generationen Stammsitz der Familie Nicholas und möglicherweise ihr zukünftiges Heim. „Das ist dein Elternhaus?", entfuhr es ihr ungläubig.

    Luke warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Hatte ich das nicht erwähnt?"

    „Nicht so direkt. Natürlich hatte sie sich vorgestellt, dass Luke in einem großen Haus lebte. Aber sie hatte da eher an eine Villa mit Swimmingpool und Tennisplatz gedacht, so eine Art Rockstar-Villa. Aber das hier … das war ja praktisch ein Schloss. „Groß reichte als Beschreibung nur ungenügend.

    „Nun, genau genommen bin ich nicht hier aufgewachsen. Die Bude meiner Eltern liegt näher bei Hope Christmas. Hopesay gehört meinem Großvater, der nur selten hier ist. Verrückter alter Kauz. Er muss unbedingt noch immer um die Welt reisen, obwohl er eigentlich viel zu alt dafür ist. Ich denke, mehr als ein, zwei Tage im Jahr verbringt er nicht hier. Falls überhaupt."

    Luke sagte das mit solch ungewohnter Vehemenz, dass Marianne stutzte.

    „Verstehst du dich nicht gut mit deinem Großvater?"

    Luke lächelte. „Oh, der Alte ist eigentlich ganz in Ordnung. Nur ein bisschen wirr. Hat keine Ahnung, wie die Welt heute funktioniert. Besteht darauf, dass wir Verantwortung und Pflichten gegenüber ‚unserem Volk‘ haben, wie er es nennt. Er glaubt noch immer, wir würden in einer Art Feudalzeitalter leben, wo jeder sich die Kappe vom Kopf reißt, wenn der Gutsherr in Sicht ist. Er akzeptiert einfach nicht, dass die Welt sich weitergedreht hat."

    „Wie steht er denn dann zu euren Ökostädten?"

    „Er weiß gar nichts davon, gestand Luke. „Ich bin der Einzige in der Familie, der sich fürs Geschäft interessiert. Mum und Dad halten lieber ihre Bridgeabende ab, denen ist ihr Gin Tonic wichtiger. Sie sind ähnlich verbohrt. Was heißt, dass ich die Geschäfte in Großvaters Abwesenheit leite. Wenn es ihm nicht passt, wie ich die Firma führe, dann sollte er eben öfter zu den Vorstandssitzungen erscheinen.

    Er lenkte den Wagen auf die kreisförmig angelegte Kiesauffahrt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Sie stiegen aus und gingen das letzte Stück bis zum Eingang zu Fuß. Die massive Eichenholztür war fast vier Meter hoch und wirkte sehr beeindruckend. Auf dem Steinbogen darüber konnte Marianne eine Inschrift ausmachen, irgendetwas über Glück und dass man Gott dafür danken müsse.

    „Was steht denn da oben?" Sie kniff die Augen zusammen, bemühte sich, die Worte zu entziffern.

    „Nichts Wichtiges." Luke winkte ab, griff nach dem Messingtürklopfer und hämmerte damit laut an die Tür. Auch dieser Ring war äußerst ungewöhnlich. Marianne meinte einen Mann – war es denn tatsächlich ein Mann? – in einer langen Robe zu erkennen, der eine Schlange mit den Füßen zertrat. Zu gern hätte sie gefragt ob er eine Bedeutung hatte, aber bei Lukes so offensichtlichem Desinteresse an allem, was mit dem Haus zusammenhing, schwieg sie lieber. Ungeduldig betätigte Luke den schweren Messingring ein zweites Mal. Schließlich zog ein alter, leicht verstaubt aussehender Bediensteter die Tür auf.

    „Ah, Mr Luke, Sir, grüßte er. „Es ist lange her.

    „Hallo, Humphrey, grüßte Luke zurück und übernahm die Vorstellung. „Das ist Marianne, eine Bekannte von mir. Warum sagt er nicht Freundin, dachte Marianne, und ein Stich der Enttäuschung durchzuckte sie. „Ich wollte ihr nur schnell den alten Kasten hier zeigen, bevor wir zur Familie rüberfahren."

    Humphrey nickte und verschwand irgendwo in den Tiefen des Hauses, während Marianne in der großen Empfangshalle stand und sich mit großen Augen umsah. Im Vergleich zu der Doppelhaushälfte am Londoner Stadtrand, die sie ihr Zuhause nannte, war das hier riesig. Die Halle war mit dunklem Eichenholz vertäfelt, entlang der breiten Treppe, die nach oben auf eine beeindruckende Galerie führte, hingen Gemälde von Menschen in altertümlichen Gewändern. Jeder Schritt, den sie auf dem weißgrauen Marmorboden tat, hallte wie ein Echo an den Wänden wider. In diesem großen leeren Raum kam sie sich vor wie auf dem Präsentierteller. Ihr Magen zog sich zusammen. Das hier war so gänzlich anders als das, womit sie aufgewachsen war. Wie sollte sie je hier hineinpassen? Und es war auch nur eine Frage der Zeit, bis es Luke ebenfalls auffallen würde, jetzt, wo er sie in diesem Umfeld sah, in dem er zu Hause war.

    „Du lieber Himmel, wie dunkel es hier drinnen ist." Luke ging zu den Fenstern und stieß die Läden auf, um die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einzulassen. Motten flatterten erschreckt auf und tanzten im Licht. In ehrfürchtigem Schweigen saugte Marianne das Bild in sich auf.

    „Nun, was sagst du?", fragte Luke.

    „Absolut fantastisch", murmelte sie.

    Er zog sie an sich, und ihr Puls begann zu rasen, als er einen gierigen Kuss auf ihre Lippen presste. Prompt meldete sich das inzwischen vertraute Flattern in ihrem Magen. Nie hatte sie einen Mann so stark begehrt wie Luke. Es erschreckte sie, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Was, wenn er nicht das Gleiche für sie fühlte?

    „Im Hauptschlafzimmer steht ein Himmelbett", meinte er vielsagend.

    „Doch nicht hier, protestierte sie. „Wir können doch nicht …

    „Außer uns ist hier niemand. Wer also sollte es erfahren?"

    „Nun, äh … der Butler?" War sie tatsächlich mit einem Mann zusammen, der einen Butler hatte? Das Ganze kam ihr so surreal vor. Jede Minute würde sie aufwachen.

    „Er wird schweigen wie ein Grab. Außerdem ist er stocktaub, du kannst also so viel Lärm machen, wie du willst."

    Sein Grinsen war unwiderstehlich. Sie kicherte, als er sie an der Hand die Treppe hinaufzog und ihr auf dem Weg nach oben in gelangweiltem Ton seine diversen Ahnen vorstellte.

    „Der erste Ralph Nicholas, der zusammen mit Richard dem Ersten ins Heilige Land zog. Dann Gabriel Nicholas, der die Herrschaft Edward des Sechsten nur überlebte, weil er sich in einer Geheimkammer verkroch, und das hier ist Ralph der Zweite, der Charles dem Zweiten in der Schlacht von Worcester das Leben rettete … und so weiter und so weiter …"

    „Wie kannst du das so herablassend abtun?, rügte Marianne. „Ich meine, der historische Höhepunkt in meiner Familie ist das eine Mal, dass Großtante Maud in Windsor Park in der Nähe von George dem Sechsten stand. Ich entstamme einer noblen Linie von Arbeitern und Angestellten. Das hier … das ist einfach unglaublich. Ich wäre begeistert, eine solche Ahnenreihe vorweisen zu können.

    „Wärst du bestimmt nicht, wenn du meine Familie kennen würdest." Luke schnitt eine Grimasse. „‚Mit der Macht kommt auch die Verantwortung. Manieren machen Leute. Es ist unsere Verpflichtung, uns zu kümmern.‘ Wir haben sogar ein lateinisches Familienmotto: Servimus liberi liberi quia diligimus. Was so viel heißt wie: ‚Wir dienen aus freien Stücken, da wir aus freien Stücken lieben.‘ Wenn dir das von Geburt an eingetrichtert wird, kann das ziemlich erdrückend wirken."

    „Oh, entfuhr es Marianne, als sie auf der Galerie ankamen und Luke auch hier die Fensterläden aufstieß. Damit gab er den Blick frei auf eine gepflegte Parkanlage mit Springbrunnen und Blumenbeeten. Weiter hinten war ein Rehgehege zu erkennen. „Das ist überwältigend. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.

    „Ich schätze mich glücklich, dass ich dir begegnet bin, erwiderte er, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Deshalb war sie mit ihm zusammen. Er betrachtete sie mit diesem Blick, als sei sie die einzige Frau auf der Welt für ihn. Er schaffte es, dass sie sich wie etwas ganz Besonderes fühlte. All ihre Zweifel und Unsicherheiten schwanden, als Luke ihre Hand nahm und vor ihr auf ein Knie niederging. „Eigentlich hatte ich das jetzt noch nicht vor, aber du siehst hier so unglaublich sexy aus, dass ich nicht länger warten kann.

    Oh mein Gott, dachte Marianne nur, er wird doch jetzt wohl nicht etwa …?

    „Moment, ich habe noch etwas vergessen … Er richtete sich wieder auf, rannte zu einem gefalteten Stapel Vorhänge, die in einer Ecke zum Aufhängen bereitgelegt worden waren, löste einen der Ringe ab und kam wieder zurückgerannt, um erneut auf ein Knie niederzugehen. „Nun, wo war ich stehen geblieben?

    Marianne rührte sich nicht, reglos stand sie da, während Luke ihre Hand küsste und dann den Vorhangring auf ihren Ringfinger steckte. „Marianne Moore, willst du meine Frau werden?"

    „Ja, wisperte sie, ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen. Das hier war alles, was sie sich ihr ganzes Leben gewünscht hatte. Zusammen mit einem Mann, den sie liebte, in einem so wunderbaren Haus wie diesem hier zu leben. „Ja, ich will. Und dann küsste er sie auch schon, und gemeinsam rannten sie lachend und jubelnd durch das Haus.

    Erst als eine Tür laut zuschlug, brachte das sie beide wieder zur Vernunft.

    „Was war das?", fragte Marianne erschrocken.

    Von unten in der Halle ertönte das hektische Gebimmel einer Glocke, und beide beugten sich über das Geländer, um hinunterzusehen.

    Ein elegant gekleideter, drahtiger älterer Herr stand mit erzürnter Miene in der Halle.

    „Großvater?" Luke schien gleichzeitig verblüfft und entsetzt.

    „Luke, mein Junge, bist du das?, sagte der Mann. „Sieht so aus, als wäre ich gerade noch rechtzeitig gekommen.

    ERSTER TEIL

    LAST CHRISTMAS

    I GAVE YOU MY HEART

    EIN JAHR ZUVOR

    22. DEZEMBER

    Sainsbury’s platzte aus allen Nähten. Catherine kam sich so oder so schon vor wie eine Heuchlerin, weil sie überhaupt hier war, und ihre Laune sank rapide, als sie die wilden Horden erblickte, die sich durch den Supermarkt kämpften. Die Leute griffen nach den Sachen in den Regalen, als stünde der Weltuntergang bevor, als wäre das hier ihre letzte Chance, um noch Proviant zu ergattern. Am liebsten hätte sie jeden Einzelnen angefahren, der mit seinem Einkaufswagen, bis zum Rand gefüllt mit ganzen Schinken und Truthähnen, mit Mince Pie und Brandy-Butter und natürlich Sekt- und Spirituosenflaschen, an ihr vorbeiratterte. Es war ja nicht so, als würde die nächste Hungersnot ausbrechen, oder? Aber dann riss sie sich zusammen. Schließlich war sie auch hier, oder etwa nicht?

    Aber nur, um die absolut nötigsten Dinge zu besorgen, die sie noch vergessen hatte, so wie Brandy-Butter und Christmas Pudding. Ihre Mutter hatte beides selbst zubereiten wollen, doch sie hatte es vergessen. Eigentlich war das völlig untypisch für sie. Aber deshalb sah Catherine sich jetzt gezwungen, sich auf den letzten Drücker ins Getümmel zu stürzen und unter diese Horden von Menschen zu mischen, deren mürrische Mienen genau das ausdrückten, was sie fühlte. Sie fragte sich schon, ob sie aufgeben und sich doch noch selbst an den Herd stellen sollte. Schließlich war es doch das, was diese verdammte „Glückliche Hausfrau" allen wärmstens ans Herz legte, nicht wahr?

    Nein, Cat, führte sie das Selbstgespräch weiter. Es gab noch genug zu tun: Geschenke einpacken, Truthahn auftauen, Gemüse putzen und alles im Haus für die Gäste vorbereiten – wozu eigentlich, wenn es doch genauso schnell wieder unordentlich werden würde, sobald sie alle zur Tür hereinkamen? Da blieb wirklich keine Zeit, auch noch einen Christmas Pudding zusammenzurühren. Nicht einmal den aus dem Kochbuch von Marguerite Patten, für den man angeblich nur einen Tag brauchte. Happy Homes und die „Glückliche Hausfrau" konnten ihr allesamt gestohlen bleiben!

    „Das klingt mir doch ausgesprochen vernünftig." Ein kleiner alter Mann in einem schicken Mantel, bestimmt schon Mitte siebzig, einen Korb am Arm, lüftete seinen Hut, als er an ihr vorbeiging.

    „Entschuldigung?" Verdattert starrte Cat den Mann an. Sie musste wohl wieder leise vor sich hin gewettert haben. Das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, wenn sie in großen Supermärkten einkaufen ging.

    „Ich dachte mir nur, dass Sie vollkommen recht haben und sich eine Pause gönnen sollten, meinte der Mann. „Beim Weihnachtsfest geht es nicht nur um Perfektion, wissen Sie.

    „Oh, aber natürlich muss es perfekt sein, widersprach Catherine. „Und dieses Weihnachten wird das perfekteste von allen.

    „Nun, das kann ich Ihnen nur wünschen, sagte der Mann. „Ein glückliches und friedvolles Weihnachtsfest, genau das wünsche ich Ihnen. Und damit war er auch schon verschwunden, untergetaucht in der Menge. Catherine blieb zurück und fragte sich verwundert, wie, um alles in der Welt, ein Fremder so viel über sie wissen konnte. Sehr seltsam.

    Mit einem tiefen Atemzug schob Catherine ihren Einkaufswagen weiter durch die Gänge. Schnulzige Weihnachtsmusik erklang aus unsichtbaren Lautsprechern, die die Kunden wohl in die richtige Stimmung bringen sollte. Aber da bestand keine Chance. Seit Monaten schon fühlte sie sich kein bisschen weihnachtlich. Lasst mich bloß alle in Ruhe damit, hätte sie am liebsten laut gerufen, als eine besonders kitschige Version von Have Yourself a Merry Little Christmas durch die stickige Luft schwebte. Seht euch doch nur die Leute hier an. Wirkt da auch nur einer von denen fröhlich?

    Mit jedem Jahr schien Weihnachten früher anzufangen, und jetzt, da sie Kinder in drei verschiedenen Schulen hatte, war sie praktisch verpflichtet, alle möglichen Weihnachtsveranstaltungen zu besuchen (irgendwann würde sie Noel dazu bringen, ebenfalls zu erscheinen, und wenn sie ihn an den Haaren mitschleifen musste). Da war zum Beispiel die wirklich süße, aber komplett chaotische Verwandlung ihrer Vierjährigen in einen Esel, dann das völlig unverständliche Krippenspiel ihrer Sieben- und ihrer Neunjährigen, deren Lehrer es tatsächlich geschafft hatten, Diwali, Eid-al-Fitr und Chanukka mit in die Weihnachtsgeschichte zu packen (sicherlich eine stolze Leistung, das musste man ihnen wohl zugestehen), und dann noch das minimalistisch-moderne Weihnachtskonzert der weiterführenden Schule, in der ihre Elfjährige diesen Sommer angefangen hatte. Einer der Gründe, weshalb Catherine eine große Familie hatte haben wollen, war der, dass sie sich immer ein turbulentfröhliches Weihnachtsfest gewünscht hatte. Etwas, das sie als Einzelkind nie kennenlernen durfte. Sie hatte sich immer ausgemalt, wie viel Spaß es machen würde, die Weihnachtsfeiern ihrer Kinder in der Schule mitzuerleben. Dass es einmal zu einer nur mühsam zu bewältigenden Pflicht werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Niemand hatte sie gewarnt, wie viel Arbeit es war, ein Fest für sechs Personen vorzubereiten, von den Mitläufern, die am Weihnachtstag unbeirrbar wie Brieftauben den Weg zurück in den heimischen Schlag fanden, ganz zu schweigen.

    „Nicht vergessen, nächstes Jahr vor Weihnachten auswandern", murmelte sie in der Mince-Pie-Abteilung vor sich hin. Nicht zu fassen! Früher einmal waren die Leute in einen Laden gegangen und hatten Mince Pie gekauft (oder noch wahrscheinlicher, sie hatten ihn selbst gemacht), heute jedoch hatte Sainsbury’s eine ganze Abteilung voller Mince Pie. Da konnte man wählen zwischen Mince Pie de Luxe, Mince Pie mit Wein-brand, Mince Pie mit Kirschen, Mince Pie ohne Fett, Mince Pie glutenfrei, Mince Pie laktosefrei … Herrgott, wahrscheinlich Mince Pie frei von allem! Die Welt war völlig verrückt geworden.

    „So sehe ich das auch." Die Frau, die neben ihr suchend die vollen Regale studierte, ließ ein zustimmendes leises Lachen hören. Dann musterte sie Catherine plötzlich genauer. Oh nein, nicht auch das noch …

    „Sind Sie etwa …?"

    „Ja. Catherine seufzte. „Ich fürchte, das bin ich.

    „Oh, ich bin ein Riesenfan von Ihnen, begeisterte sich die Frau. „Ich sammle alle Ihre Rezepte. Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Zitronenrolle anfangen würde.

    „Vielen Dank. Mit schlechtem Gewissen hoffte Catherine, der Frau würde nicht auffallen, was alles in ihrem Einkaufswagen lag, denn dann wäre ihr Ruf als glühende Verfechterin hausgemachter Speisen und selbst hergestellter Nahrungsmittel wohl für immer dahin. „Ich würde ja gern weiterplaudern, wirklich, aber ich bin in schrecklicher Eile. Ich habe noch so viel zu erledigen, muss noch bei so vielen Leuten vorbeischauen … Das verstehen Sie doch sicher, nicht wahr? Ein frohes Weihnachtsfest wünsche ich Ihnen.

    Catherine fühlte sich miserabel, dass sie so hastig die Flucht ergriff. Die arme Frau … sie schien nett gewesen zu sein, und es war feige von ihr, so hektisch den Rückzug anzutreten. Aber konnte sie nicht einmal fünf Minuten in Ruhe gelassen werden, um der Mensch zu sein, der sie war, und nicht diese grässliche Person, die mehr und mehr ihr Leben zu übernehmen schien? Sie stellte sich in eine der endlos langen Schlangen an der Kasse, die sich offensichtlich in der Zeit aufgebaut hatten, während sie durch den Laden gelaufen war, als ihr Blick auf die letzte Ausgabe von Happy Homes fiel. Auf der Titelseite war sie selbst zu sehen, wie sie im Santa-Kostüm einschließlich Nikolausmütze mit Bommel strahlend in die Kamera lächelte (oh Gott, warum nur hatte sie sich bereit erklärt, sich in diesem Aufzug fotografieren zu lassen?), und in der Mitte prangte in großen Buchstaben der Titel „Tipps für das perfekte Weihnachtsfest von der ‚Glücklichen Hausfrau‘".

    Jeden Moment würde jemand in der Schlange die Verbindung zwischen der „Glücklichen Hausfrau" und der abgehetzten Frau ziehen, die hier anstand. Und dann würden alle wissen, dass sie nichts als eine Betrügerin war. Catherine bezweifelte, dass sie das überleben würde. Abwägend sah sie zu den Selbstbedienungskassen hinüber. Aber da waren die Schlangen genauso lang, und dort ging es sogar noch schlimmer zu. Die Leute tobten und wüteten, weil die völlig überlasteten Scanner inkorrekte Kassenzettel ausspuckten oder die Preise falsch addierten.

    Catherine sah prüfend in ihren Einkaufswagen. Eine halbe Stunde war sie im Sainsbury’s herumgelaufen, und alles, was im Wagen lag, waren zwei Schachteln Mince Pie, eine Tüte Zucker, ein Christmas Pudding … und noch immer keine Brandy-Butter. Wenn das in diesem Schneckentempo weiterging, würde sie in einer halben Stunde noch immer hier anstehen, bevor sie überhaupt bei der Kasse ankam. Es war also mehr als genügend Zeit, damit jeder Kunde hier im Sainsbury’s ihr Alter Ego erkennen konnte.

    Verstohlen blickte Catherine sich um, dann schob sie den Einkaufswagen unauffällig in den nächsten Gang. Es war das gleiche Gefühl wie damals mit vierzehn, wenn sie sich hinter den Fahrradschuppen geschlichen hatte, um eine Zigarette zu rauchen, als sie den Wagen einfach stehen ließ und sich umdrehte. Dieses Jahr würden sie eben ohne Brandy-Butter auskommen müssen. Und Christmas Pudding aß sowieso keiner von ihnen gern.

    Als sie aus dem Supermarkt floh, plärrte immer noch Have Yourself a Merry Little Christmas aus den Lautsprechern.

    Pah, alles Humbug, dachte sie.

    Gabriel saß im Salon, den Kopf in die Hände gestützt. Das Feuer im Kamin war schon lange ausgebrannt, und während der Winterabend Einzug hielt, sammelten sich die Schatten in den Ecken und Nischen des eigentlich gemütlichen Raumes. Er sollte neues Feuer machen, den Raum aufwärmen, bevor er Stephen abholte. Nie zuvor war die Atmosphäre in seinem Zuhause so kalt und leer gewesen.

    Stephen.

    Großer Gott, was sollte er ihm nur sagen? Glücklicherweise war Stephen den ganzen Nachmittag bei der Probe für das alljährliche Krippenspiel gewesen. So hatte er den letzten hässlichen Streit zwischen seinen Eltern nicht miterleben müssen. Seit sieben Jahren schon versuchte Gabriel, Stephen vor der Wahrheit über seine Mutter zu beschützen, aber heute wäre ihm das wohl nicht gelungen.

    „Du verstehst es einfach nicht. Hast es nie verstanden", hatte Eve gesagt, ihre Augen schimmernd voller ungeweinter Tränen, der Ausdruck in ihnen hart und leer, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Und ja, sie hatte recht, er verstand es nicht. Wie sollte er auch verstehen, was sie jeden Tag durchmachte? Die Qual, zu wissen, dass sie mit der Welt und deren Realität nicht mehr zurechtkommen konnte?

    Es war ihre Zerbrechlichkeit, die ihn überhaupt erst zu ihr hingezogen hatte. Eve war Gabriel immer vorgekommen wie ein kleiner verletzter Vogel. Vom ersten Augenblick an, als er sie getroffen hatte, hatte er sie beschützen und sich um sie kümmern wollen. Aber er hatte Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass er sie nicht vor sich selbst beschützen konnte. Oder sie von den erschreckenden Orten zurückzuholen, zu denen ihr Geist immer wieder wanderte.

    „Bitte, lass es zu, hatte Gabriel gefleht. „Wenn du mich immer ausschließt … wie soll ich dir dann helfen können?

    Eve hatte in diesem Haus gestanden, das sie immer gehasst hatte, mit ihren gepackten Koffern – sie wäre schon längst weg gewesen, ohne jeden Abschiedsgruß, wenn er nicht zufällig noch einmal hineingekommen wäre, um ihr Bescheid zu sagen, dass er Stephen nach der Probe bei seinen Cousins absetzen würde, weil sie zusammen deren Weihnachtsbaum schmücken wollten –, und hatte ihn ausdruckslos angesehen.

    „Du kannst mir nicht helfen, hatte sie schlicht gesagt, war zu ihm gekommen und hatte ihre Hand leicht an seine Wange gelegt. „Das hast du nie akzeptiert, nicht wahr? All das hier, mit einer ausholenden Handbewegung hatte sie ihr ganzes Zuhause eingeschlossen, „und du … und Stephen. Das ist mir nicht genug. Und ich kann nicht länger vorgeben, als wäre es das. Es tut mir leid."

    In diesem Moment hatten Tränen in seinen Augen gebrannt. Dabei wusste er, dass sie recht hatte. Aber er wünschte sich, es wäre nicht so, wünschte, sie würde sich irren. Er wollte sich nicht der Wahrheit stellen. Doch es gab keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte mehr. Er würde nie in der Lage sein, Eve zu geben, was sie brauchte. Sie war Welten von ihm entfernt. War es immer gewesen.

    „Und was soll ich Stephen sagen?"

    Der Laut, den sie von sich gab, klang wie ein ersticktes Schluchzen. „Du bist ein guter Mann, Gabe. Viel zu gut für mich. Du hast Besseres verdient."

    Sie hatte einen leichten Kuss auf seine Wange gedrückt und war aus dem Haus zu dem wartenden Taxi geflohen, während Gabe wie erstarrt stehen geblieben war. Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde, von Anfang an, sobald er sie unter seine Fittiche genommen hatte. Sie war ein wilder Vogel, er hatte geahnt, dass sie irgendwann wieder in die Freiheit davonfliegen und ihn verlassen würde. Aber nicht so. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor Weihnachten.

    Gabriel hatte die Zeit vergessen, während er hier in diesem Zimmer in der sich auf ihn herabsenkenden Dunkelheit saß. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es kälter geworden war. So kalt würde es von nun an immer sein, ohne Eve. Er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Ob er sie jemals wiedersehen würde. Und wie, zum Teufel, sollte er das seinem Sohn erklären?

    Noel Tinsall stand an der Theke in dem abgeschmackten Nachtclub, den die Firma in diesem Jahr für die Weihnachtsfeier gebucht hatte, und nippte an seinem Bier. Paul McCartneys Stimme drang aus den Lautsprechern, der Mann sang etwas über die „Wonderful Christmas Time", die er verbrachte. Na, wenigstens einer hat fröhliche Weihnachten, dachte Noel. Er fragte sich, wann der richtige Zeitpunkt wäre, sich endlich aus dem Staub zu machen. Wohl kaum, bevor Gerry Cowley, der CEO, seine höchst peinliche Show auf der Tanzfläche abgezogen hatte, wobei er dann sämtliche Sekretärinnen unmissverständlich angrinsen würde. Es war erst acht Uhr, die Party hatte nicht einmal richtig angefangen, und schon jetzt konnte Noel sehen, dass einige der jüngeren Mitarbeiter mehr Alkohol getrunken hatten, als gut für sie war. Es würde ihn nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen ein paar wirklich üble Fotos im Internet die Runde machen würden. Was hatten Firmenweihnachtsfeiern an sich, dass die Leute sich auf ihnen so idiotisch benahmen? Bacchantische Exzesse waren ja schön und gut, wenn man am nächsten Morgen nicht seinen Dämonen an der Kaffeemaschine in der Büroküche begegnen musste.

    „Hey, Noel, mein Hübscher, warum kommst du nicht auf die Tanzfläche und tanzt mit mir?"

    Julie, seine Sekretärin. Oder nein, nicht mehr seine Sekretärin. Nicht, seit dieser bornierte Emporkömmling Matt Duncan befördert worden war. Jetzt musste er seine Sekretärin teilen. Noch ein subtiles Zeichen, dass sein Stern in der Firma im Sinken begriffen war. Früher einmal hatte er dort den Takt angegeben, jetzt tanzten sie alle nach Matts Pfeife. Vermutlich war es an der Zeit, sich nach einem neuen Job umzusehen.

    Noel tanzte nicht gerne, aber genauso ungern war er unhöflich, und so war vorauszusehen, dass es nicht lange dauern konnte, bevor er sich mitten auf der Tanzfläche wiederfand, umrundet von zuckenden, schwitzenden Körpern und unfähig, sich des Gefühls zu erwehren, dass sie alle heimlich über ihn lachten.

    „Du weißt, dass du verboten sexy bist, oder? Julie schob sich im Rhythmus der Musik auf ihn zu und griff sich seine Krawatte. „So viel attraktiver als dieser Vollidiot von Matt.

    Oh nein! Nein, nein, nein. Sie hatten immer eine professionelle Beziehung zueinander gehabt, aber jetzt … Julie war eindeutig mehr als nur beschwipst. Und sie baggerte ihn an. Es war auch nicht so, als wäre sie unattraktiv, eher das genaue Gegenteil. Für einen Moment war Noel tatsächlich versucht. Würde Cat es je erfahren, und falls sie es erfuhr, würde es ihr überhaupt etwas ausmachen, wenn er ihr untreu war? Manchmal bezweifelte er das. Julie war hübsch, unkompliziert und verfügbar. Es wäre so einfach …

    Was, um alles in der Welt, dachte er da überhaupt? Noel schüttelte den Kopf. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden.

    „Sorry, Julie, aber ich muss nach Hause, brachte er hervor. „Catherine braucht mich. Die Kinder … du weißt ja, wie das ist. Catherine würde es wahrscheinlich egal sein, ob er zu Hause war oder nicht, so viel Aufmerksamkeit, wie sie ihm dieser Tage zukommen ließ. Aber das brauchte Julie ja nicht zu wissen.

    Er duckte sich unter ihrem alkoholgetränkten Kuss hinweg und verließ den Club, trat hinaus in die kalte Londoner Dezemberluft und atmete erst einmal tief durch. Es war noch so früh am Abend, dass schon das dritte Taxi, dem er winkte, tatsächlich an den Straßenrand kam und stehen blieb. Gleich darauf war er auf dem Weg nach Clapton, in der beruhigenden Gewissheit, dass er sich trotz ein paar Gläsern Alkohol nicht zum Trottel gemacht hatte.

    Das Taxi hielt vor seinem Haus an, einer beeindruckenden edwardianischen Doppelhaushälfte in einer im Sommer reich belaubten Allee. Die weihnachtlichen Lichterketten, die er mit den Kindern gestern Abend noch um das Haus herum angebracht hatte, blinkten hektisch. Da hatte wohl wieder jemand die Einstellung geändert. Beschwingten Schrittes eilte er die Außentreppe empor, öffnete die Tür … und stand mitten im Chaos.

    „Ich hasse dich! Melanie, seine Älteste, stürmte tränenüberströmt an ihm vorbei und die Treppe hinauf, gefolgt von James, seinem Sohn, der ihr nachrief: „Ich hasse dich auch! Und wie!

    „In diesem Haus hasst niemand irgendjemanden", ließ Noel sich streng vernehmen und wurde natürlich komplett ignoriert. Gleich darauf erschütterte das donnernde Schlagen von Zimmertüren das Haus.

    „Ich will aber nicht ins Bett! Nein, ich gehe nichts ins Bett!", jammerte Ruby, seine Jüngste, während Magda, die aktuelle Version der unzähligen unfähigen Au-pairs, sich vergeblich bemühte, Ruby vom Boden des Spielzimmers hochzuheben, wo sie weinend auf dem Rücken lag und sich strampelnd gegen Magdas Versuche wehrte. Noel registrierte, dass das Bücherregal zusammengefallen war – schon wieder. Da er bezweifelte, dass er jetzt in der Lage war, sich darum zu kümmern, warf er lieber einen Blick ins Wohnzimmer und ertappte Paige, seine mittlere Tochter, dabei, wie sie die Schokoladendekorationen vom Weihnachtsbaum stibitzte.

    „Wo ist deine Mutter?", wollte er wissen.

    „Bei ihrem verdammten Blog", kam die Antwort.

    „Du sollst nicht fluchen", ermahnte Noel automatisch.

    „So nennt Mummy es aber immer", verteidigte Paige sich.

    „Und hör auf damit, die Schokolade vom Baum zu stehlen", fügte Noel noch streng hinzu.

    „Tu ich ja gar nicht, behauptete Paige. „Außerdem hat Magda gesagt, ich darf.

    „Hat sie das also, ja? Catherine kam die Treppe herunter. Sie wirkte abgehetzt. „Jetzt komm, es ist Zeit fürs Bett.

    Zerstreut begrüßte sie Noel mit einem Kuss auf die Wange und ging dann ins Spielzimmer, um nicht nur die in voller Lautstärke heulende Ruby zu beruhigen, sondern auch eine halb hysterische Magda, die sich klagend in gebrochenem Englisch über „Kinder, direkt aus Hölle" beschwerte.

    Noel ging wieder in die Küche, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Couch vor den laufenden Fernseher, ohne wirklich hinzusehen. Manchmal kam er sich wie ein Geist in seinem eigenen Haus vor.

    „Engel! Ich brauche mehr Engel!" Diana Carew, korpulente Vorsitzende des Gemeinderats, fuchtelte hektisch mit den Armen in der Luft wie ein gestrandeter Wal. Es fiel schwer, sich vorzustellen, wie jemand mit ihren Ausmaßen es schaffte, sich durch das schmale und niedrige Türchen in den kleinen Raum neben der Bühne zu zwängen, in dem die Kinder auf ihren Auftritt warteten, aber irgendwie gelang es ihr.

    Marianne schalt sich für den niederträchtigen Gedanken, trotzdem konnte sie den Blick nicht von Dianas ausladendem Busen losreißen. Etwas in dieser Größe war Marianne bisher noch nie untergekommen. Immerhin reichte das als Anreiz, um das Lächeln fest auf ihrem Gesicht zu halten, während sie hier in dem kleinen, eiskalten Gemeindesaal Zeuge werden durfte, wie das Hope-Christmas-Krippenspiel langsam Formen annahm – und sich dabei Frostbeulen holte. Nicht, dass ihre Anwesenheit oder ihre Anregungen vonnöten gewesen wären. In den letzten Wochen war Marianne endlich bewusst geworden, dass sie nur ins Team geholt worden war, weil jedes andere Gemeindemitglied mit auch nur einem Funken Verstand von vornherein dankend abgelehnt hatte, einschließlich ihrer Lehrerkollegen aus der kleinen Dorfschule.

    Jeder außer der wirklich sehr netten und äußerst patenten Philippa. Marianne kannte Pippa, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, erst seit wenigen Wochen – seit sie sich ahnungslos bereit erklärt hatte, bei den Vorbereitungen für die Aufführung zu helfen. Und so war Pippa in den letzten Wochen schnell zu ihrer besten Freundin in Hope Christmas und zu einem weiteren Grund geworden, weshalb sie es so liebte, hier zu leben. Pippa, die Mühe hatte, sich das Grinsen zu verkneifen, kam jetzt mit einer Tasse heißem Tee auf sie zu, den Marianne dankend annahm. Zusammen sahen sie sich das Schauspiel an, wie Diana drei mürrische Engel auf die Bühne scheuchte, die sich dann zu einem Esel, zwei Hirten mit Schafen, dem Weihnachtsmann und mehreren Elfen gesellten,

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