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Fjordmusik: Ein Sommer in Norwegen
Fjordmusik: Ein Sommer in Norwegen
Fjordmusik: Ein Sommer in Norwegen
eBook371 Seiten5 Stunden

Fjordmusik: Ein Sommer in Norwegen

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Über dieses E-Book

Unverhofft erhält Ole die Einladung zur Orchesterfahrt nach Norwegen. Akuter Geigenmangel ist ein Anlass; noch dringender aber werden Freiwillige für das Fußballspiel gegen die "Wikinger" gesucht.
Für Ole wiederum gibt es einen konkreten Grund, seine sportlichen und musikalischen Defizite zu verheimlichen, und dieser Grund hat einen Namen: Ann. Aber auch der Paukist des Orchesters interessiert sich für die Geigerin.
Auf ihrer Reise ins Land der Mitternachtssonne erle­ben die jungen Musiker weit mehr als musikalische Tief- und Höhenflüge. Sie begegnen herzlichen Menschen und eigenwilligen Tieren, feiern ihre Jugend und entfesseln die unvergleichliche Kraft der Musik.
SpracheDeutsch
HerausgeberConte Verlag
Erscheinungsdatum8. Nov. 2018
ISBN9783956021565
Fjordmusik: Ein Sommer in Norwegen

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    Buchvorschau

    Fjordmusik - Marcus Imbsweiler

    Autor

    Eins · Ole

    Sie steht vor der Mensa, einen Packen Flyer in der Hand. Blondes Strubbelhaar, spitze Nase, ärmelloses Top. Um sie herum flutet Sonnenlicht. So kurz vor den Ferien stehen dauernd Leute vor der Mensa und verteilen Flyer. Aber niemals Leute wie sie.

    »Hey.« Leo rammt mir seinen Ellbogen in die Rippen. »Schau dir das an!«

    Ich blinzele. Zwischen uns und ihr liegen fünfzig Meter Luftlinie, circa. Zu viel, um Einzelheiten zu erkennen. Trotzdem sehe ich alles ganz deutlich. Das goldene Leuchten, mittendrin sie, ihre Flyer, sogar ihre Augen. Besonders aber ihr Lächeln. Ein Lächeln wie eine Flutwelle. Ich könnte schwören, dass dieses Lächeln mir gilt. Auch wenn das komplett ausgeschlossen ist. Da sind so viele Menschen, und alle wollen sie zur Mensa. Ein paar aus meiner Vorlesung, Rucksackträger, Fahrradfahrer, kichernde Blondinen, ein Rastatyp auf seinem Hoverboard, Professoren. Und natürlich Leo. Das Lächeln rollt an, brandet über alles und jeden hinweg, wird groß und größer – und schlägt über mir zusammen. Raubt mir den Atem. Ich, Ole Jacobsen, bin derjenige, dem die Blonde ihren nächsten Flyer in die Hand drücken wird.

    »Du, die meint mich«, raune ich Leo zu.

    »Handy-Werbung. Wetten?«

    Ich schüttele den Kopf, schüttele ihr Lächeln aus meinem Haar.

    »Oder ein neuer Döner-Laden.«

    »Nie!«

    »Krankenversicherung für Studenten. RCDS. Historikerfete.«

    Leo hat einen Blick für Leute, aber hier liegt er völlig daneben. Als wir endlich an der Mensa und damit am Ausgangspunkt des Lächelns ankommen, gibt es eine Duftwolke obendrauf, die perfekt dazu passt.

    Und eine Frage: »Spielst du Geige?«

    »Ich?«, sage ich.

    Sie hat Sommersprossen, überall im Gesicht. Auch auf den Schultern.

    »Das Uniorchester fährt kommende Woche nach Norwegen. Wir brauchen Geigen, und zwar dringend.«

    Sie hält mir einen ihrer Zettel unter die Nase. Irgendetwas mit Musik steht darauf, mit Fjorden, Konzerten und Edvard Grieg. Es ist nicht viel Text, aber zu viel für mich in diesem Moment. Dieser Duft, was ist das überhaupt? Orange? Pfirsich? Sanddorn?

    »Wir könnten versuchen, ihre Sommersprossen zu zählen«, höre ich Leo flüstern, »aber bis nächste Woche würden wir nicht fertig.«

    »Wieso glaubst du, ich könnte Geige spielen?«, sage ich.

    Sie zeigt auf meinen Hals. Lächelnd. »Na, deswegen.«

    »Nicht rot werden!«, zischt Leo. »Nicht, verdammt!«

    »Ach, das«, sage ich und werde rot.

    »Das« ist mein Geigenfleck. Eine Art Stempel. Als ich mit dem Instrument anfing, so vor zehn, zwölf Jahren, reagierte meine Haut irgendwie beleidigt. Ihr passte es nicht, wie dieses lackierte Stück Holz an meinem Hals schubberte, und weil es ihr nicht passte, protestierte sie. Nach einem halben Jahr hatte ich im Knick zum Kinn eine rote Stelle, die nicht mehr wegging. Auch nicht, als ich auf Bratsche umstieg. Ich versuchte es mit Salben, mit Fettcreme, legte Pausen ein, einen Lappen drunter – nichts. Es wurde nur noch schlimmer. Der Fleck gewöhnte sich an mich, aber ich mich nicht an ihn. Und da bin ich nicht der Einzige. Wenn ich mal zum Arzt muss, wegen Grippe oder so, inspiziert der zuerst meinen Hals. Saugt sich regelrecht fest mit seinem Medizinerblick. Ist vom Geigen, sage ich und werde rot, jaja, murmelt der Arzt, weiß schon. Aber so groß! Und so entzündet! So profiliert! Respekt, junger Mann.

    Stimmt ja auch. Das Teil wäre was fürs Museum. Oder den Pschyrembel. Breit, wulstig, dunkelviolett. Sichtbar aus fünfzig Metern Entfernung. Im Erdkundeabi, kein Witz jetzt, hat mir das Scheißding eine Vier eingebrockt. Fragt mich der Prüfer doch plötzlich nach der Entstehung der Mittelgebirge, völlig am Thema vorbei. Ärzte sind da professioneller, wollen aber gleich mit dem ganz großen Besteck ran, und wenn ich dann knallrot dasitze, glauben sie mir meine Grippe nicht mehr.

    »Ach, das«, sage ich und werde rot. Leo verdreht die Augen.

    »Uns sind fast alle Geigen abgesprungen. Wenn wir nicht wenigstens eine Handvoll zusammenkriegen, brauchen wir gar nicht erst zu fliegen. Wäre toll, wenn du zum Vorspiel kämst. Wirklich.«

    »Das ist kein Geigenfleck.«

    »Nein?«

    »Ich spiele Bratsche.« Noch ein Grund, rot zu werden. Weniger wegen der Bratschen, die ja als Deppen des Orchesters gelten, sondern weil ich so schlecht spiele. Nicht rasend schlecht, also ich weiß schon, wie rum man das Gerät hält, aber viel schlechter, als es mein Geigenfleck vermuten lässt. Nach meinem Geigenfleck zu urteilen, müsste ich David Garrett sein, mindestens. Oder gleich ein komplettes Streichorchester. Bin ich aber nicht. Bloß ein unterdurchschnittlicher Hobbybratscher, der nie auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, sich so was wie dem Uniorchester anzudienen.

    »Bratschen haben wir genug, tut mir leid. Aber wenn du Bratsche spielst, kannst du auch Geige, oder?«

    »Logo«, ruft Leo. »Norwegen, überleg mal!«

    Ich starre auf den Flyer. Wann habe ich zum letzten Mal eine Geige in der Hand gehalten? Zu Konfirmationszeiten?

    Leo rempelt mich mit der Schulter an. »Was gibt es da zu zögern? Norwegen! Lachse angeln, Elche gucken. Mitternachtssonne und Polarlichter!«

    »Ihr braucht wirklich keine Bratschen?«, sage ich.

    »Probier’s einfach. Unter uns: Das Vorspiel ist eher pro forma. Flug, Übernachtungen, wir bekommen alles bezahlt. Und Norwegen im Sommer – ein Traum, sage ich dir.«

    »Ich habe aber keine Geige«, sage ich. Leo rauft sich die Haare.

    »Wir organisieren dir ein Leihinstrument. Daran soll es nicht scheitern.«

    »Okay, dann.« Ich sage es tatsächlich: Okay, dann.

    »Supi.« Sie tippt auf den Flyer und erklärt mir, bei wem ich mich zu melden habe. Reisedaten, Konzertorte und Programm stehen ebenfalls auf dem Zettel. Ihr Name leider nicht. Als ich den Wisch einstecke, bin ich hoffentlich nicht mehr ganz so rot wie vorher. Nur mein Geigenfleck glüht. Der weiß, was ihm jetzt droht.

    »Dann bis dann«, sage ich.

    »Freut mich«, strahlt sie und fixiert bereits den Nächsten, dem sie einen Zettel unterjubeln kann.

    Leo schüttelt den Kopf. »Diese Augen!«

    Und das stimmt. Wir sind schon ein paar Schritte gegangen, als mir etwas einfällt. Ich drehe mich um. »Was spielst du eigentlich?«

    »Geige«, lächelt sie.

    Geige. Ich starre auf die linke Seite ihres Halses. Da ist nichts, überhaupt nichts. Nicht einmal die kleinste Erhebung oder Unebenheit oder Rötung. Nichts.

    Nur eine einsame Sommersprosse, die sich wohl in den Koordinaten vertan hat.

    »Dann am Donnerstag. Aber das ist wirklich die letzte Möglichkeit.«

    »Okay, danke.«

    Und sonst? Üben. Wobei in meinem Fall »üben« das falsche Wort ist. Straflager trifft es eher. Schuften im Steinbruch der Violinliteratur. Wenn ich nicht gerade esse oder schlafe, spiele ich. Zuerst auf meiner Bratsche, die regelrecht verstört klingt, dann auf dem Leihinstrument. Tonleitern rauf und runter. Saubere Striche. Intonation. Bogenhaltung. Die komplette Grundausbildung, wie bei der Bundeswehr. Dienst am Vaterland.

    »Scheiß Hilfslinien!« Fast hätte ich das Instrument gegen die Wand gekeult. Leo, der auf dem Sofa ein Nickerchen gemacht hat, tippt sich an die Stirn.

    Die Geige gehört dem Vater eines der Orchestermitglieder, und es ist der wertvollste Gegenstand, den ich je in der Hand gehalten habe. Natürlich ist das Ding versichert, doppelt und dreifach sogar, trotzdem ist es ein schlechter Witz, mir so etwas anzuvertrauen. Mir. Einem Bratschenversager.

    Das Instrument gibt sich alle Mühe, es ähnelt einem Premium-Leihwagen, der sich einfach nicht abwürgen lässt, auch wenn man sich noch so trottelig anstellt, ich aber schaffe es. Ja, ich schaffe es, diese verdammt teure, verdammt genial klingende Stradivari mitten in der Melodie abzumurksen. Erst sing-sing, dann krächz. Saite verfehlt, Bogen verrutscht, Ton verreckt. Bestimmt merkt der Besitzer sofort, wie ich seinen Liebling misshandelt habe.

    Ich meine, es ist natürlich keine Stradivari. Höchstens im Vergleich zu meinen unterirdischen Fähigkeiten. Wir passen einfach nicht zusammen, sie und ich. Was unter Normalbedingungen ja auch kein Beinbruch wäre. In diesem Leben wird aus mir kein Virtuose mehr werden, nicht einmal ein brauchbarer Laienorchestergeiger. Das Problem ist, dass ich bei Madame Strubbelhaar im Wort stehe und am Donnerstag einen Vorspieltermin habe. Das ist die Lage.

    Also: weiterüben. Scheiße.

    »Wusste gar nicht, dass du so ein Jammerlappen bist«, gähnt Leo vom Sofa her.

    »Dich hat keiner gefragt.«

    Meinen Vater hat auch keiner gefragt, trotzdem ruft er an. Ob ich noch Literatur bräuchte, für die Fallbearbeitung. Wenn ich welche bräuchte, solle ich mich nur an ihn wenden. Vertrauensvoll sozusagen. Er habe ja alles an Literatur, fast alles, nicht wahr.

    »Ja«, sage ich. In der einen Hand halte ich das Telefon, in der anderen Geige und Bogen.

    »Also brauchst du noch Bücher?«

    »Nein.«

    »Welche? Du musst es nur sagen, Junge.«

    »Schon okay, Papa.«

    »Du weißt, ich stehe jederzeit zur Verfügung. Auch bei der Gliederung. Die Gliederung ist schwer, vielleicht sogar das Schwerste. Hast du schon mit der Gliederung angefangen?«

    »Nein.«

    »Dann solltest du morgen oder spätestens übermorgen …«

    »Papa, ich fahre nach Norwegen. Also vielleicht.«

    Stille am anderen Ende der Leitung.

    »Eventuell«, sage ich.

    »Wohin?«

    »Nach Norwegen. Aber nur, wenn ich das Vorspiel bestehe. Deshalb muss ich üben. Morgen. Übermorgen auch. Um die Hausarbeit kümmere ich mich anschließend.«

    »Wieso Norwegen?« Mein Vater klingt verwirrt, wie plötzlich gealtert. »Wozu denn das?«

    »Das Uniorchester fährt dorthin. Sie brauchen mich.«

    »Aber du musst doch deine Fallbearbeitung schreiben. Du kannst nicht fahren, Ole!«

    »Mache ich alles hinterher, Papa. Wird schon.«

    »Du hast einen Abgabetermin. Wie soll das …?«

    »Kriege ich hin, wirklich. Und jetzt muss ich üben. Tschüss, Papa.«

    Er ruft noch drei- oder viermal an, aber ich lasse es klingeln, was mir ein anerkennendes Schulterklopfen von Leo einbringt. Später am Tag meldet sich meine Mutter.

    »Du fliegst nach Norwegen?«

    »Vielleicht. Wenn sie mich nehmen.«

    »Weißt du, ich bin so glücklich, dass du endlich Anschluss gefunden hast, mein Lieber. Es wird dir gefallen in Skandinavien, es ist wunderbar dort. Und ich freue mich ganz besonders, dass du wieder zur Bratsche gegriffen hast, Ole, das habe ich so vermisst, ich glaube, du brauchst die Musik einfach als Ausgleich zum Studium.«

    »Geige, Mama, nicht Bratsche.«

    »Das Leben besteht aus mehr als Paragrafen, nicht wahr, auch wenn dein Vater da anderer Ansicht ist.«

    »Ich weiß.«

    »Brauchst du denn noch etwas? Ein Visum oder den Impfpass? Du weißt, dein Vater kann jederzeit …«

    »Wieso Visum? Norwegen liegt in Europa.«

    »Aber zur EU gehört es nicht, ich habe mich erkundigt. Vater lässt dir ausrichten, dass er deinen Professor anruft, wenn du eine Verlängerung für deine Arbeit brauchst. Er sagt, das sei kein Problem.«

    »Brauche ich nicht.«

    »Nein?«

    »Wenn man eine Fallbearbeitung in vier Wochen schreiben kann, kann man es auch in drei.«

    »Bestimmt kann man das.« Sie klingt unglücklich. »Du kannst das, Ole. Du wirst ein guter Jurist, ein sehr guter. Das steckt in dir drin.«

    Ich lege auf und setze das Instrument wieder an. Tonleitern, Intonation, Bogenhaltung. Die Musik steckt jedenfalls nicht in mir drin. Sie ist pure Plackerei.

    »Fertig?«, fragt einer der Zuhörer schließlich.

    Ich nicke.

    »Ah. Schön.«

    »Okay, dann.« Das ist die Frau neben ihm. Sie hat mir ihren Namen genannt, aber ich habe ihn vergessen. Caroline? Katharina?

    »Wir melden uns.« Der Dirigent stemmt sich aus seinem Sitz hoch und reißt eines der Fenster auf, die sie nach meinen ersten Tönen geschlossen haben.

    »Alles klar«, sage ich. »Danke. Und wann?«

    »Wann was?«

    »Wann Sie sich melden?«

    »Bald.« Er wirft den anderen einen ungnädigen Blick zu. »Muss ja schnell gehen. Muss ja.«

    Ich packe das Instrument ein. So etwas dauert, ob die Finger nun zittern oder nicht. Bogen entspannen, Kinnstütze abnehmen, Kolophonium verstauen. Die Noten segeln vom Ständer, als ich nach ihnen greife. Geigenkasten schließen, Hülle ebenfalls, Reißverschluss hakt. Reißverschluss wieder aufzerren, noch einmal zu, hakt. Egal. Halb verschlossenen Geigenkasten über die Schulter hängen, Blick durchs Zimmer schweifen lassen: Hab ich was vergessen?

    Während all dieser Zeit stecken die vier Anwesenden – der Dirigent, der Konzertmeister, die Stimmführerin der zweiten Geigen und noch eine – ihre Köpfe zusammen und tuscheln. Wobei tuscheln das falsche Wort ist. Hauptsächlich verständigen sich die vier über Gesten: rollen mit den Augen, zucken die Schulter, kratzen sich am Ohr. Tja. Kurze Frage, keine Antwort. Zurücklehnen, Hände hinter den Kopf, zur Decke starren, ganz viel Luft aus den Lungen lassen. Der Dirigent geht wieder zum Fenster und schaut hinaus. Die aus der zweiten Geige zückt ein Handy.

    Ich bin schon an der Tür, als ich ein Fingerschnippen höre.

    »Sag mal …« Das ist der Konzertmeister, Kaugummi im Mund.

    Ich drehe mich um. Was gibt es noch?

    »Du weißt schon, dass dein Vorspiel nicht berauschend war.«

    »Ja, weiß ich. Bin ein bisschen aus der Übung. Und dann das neue Instrument.«

    »Ehrlich gesagt, warst du der Schlechteste, den wir bisher hatten. Und die anderen waren auch nicht gut.«

    Jetzt zucke ich mit den Schultern. Was soll’s, er hat ja recht. Er hat so recht, dass es sich nicht einmal lohnt, rot zu werden.

    »Nun mach ihn nicht so fertig, Niklas«, sagt die aus der Zweiten. »Ich fand’s im Rahmen. Kann ja nicht jeder ein Naturwunder sein.«

    Niklas hebt beide Hände. »Sorry, ich sag, wie’s ist. Beziehungsweise wie ich es empfinde. Aber okay, vielleicht bist du heute einfach scheiße drauf. Kann passieren. Und ein paar Tage hast du ja noch zum Üben.«

    Ich kneife die Augen zusammen. Täusche ich mich, oder ist das wirklich Leo gewesen, der durch das äußere, noch geschlossene Fenster hereingelinst hat? Er hat mir versprochen, draußen zu warten, der Idiot. Ohne Sperenzchen.

    »Anderes Thema.« Der Konzertmeister schaut auf seine Finger. »Spielst du Fußball?«

    »Fußball?«

    »Ja, Fußball.«

    »Äh, schon«, sage ich. »Klar.« Keine Ahnung, warum ich das sage. Ich hasse Fußball. Ich hasse jede Art von Sport. Außer Fechten und Schach. In Fechten war ich mal eine Zeit lang richtig gut, zu Hause stehen meine Pokale. Ein paar. Neben den vielen meines Vaters. Schach, zwei minus. Aber Fußball! Dann lieber Geige üben bis ans Ende meiner Tage.

    Und während mir das noch als Gedankenfetzen durch den Schädel rast, entspannen sich die vier vor mir. Sogar der Dirigent.

    »Cool«, sagt die eine Frau. »Fahrt gerettet«, ergänzt die andere.

    Niklas setzt sich gerade hin. »Stürmer?«

    »Ja«, sage ich. »Also nee, nicht unbedingt.« Am Fenster taucht Leos Gesicht auf, nun ist er es wirklich. Seine Lippen formen ein unhörbares »Mittelstürmer«.

    »Ich bin eher so die Allzweckwaffe«, sage ich. »Stürmer auch irgendwie. Nur Dings, also Elfmeter schieße ich nicht so gern.«

    Der Konzertmeister hebt eine Hand und klatscht seine Geigenkollegen ab.

    »Passt!«, ruft er. »Man kann nicht alles können, Fußball und Musik. Also, pack deine Kickstiefel ein, Kollege, Schienbeinschoner auch. In Oslo steigt das ultimative Duell gegen die Wikinger. Wir haben einen Ruf zu verlieren. Und deshalb brauchen wir jeden Mann.«

    »Welchen Ruf?«, fragt die Stimmführerin mit ganz spitzem Mund.

    »Auswärtssieg!«, brüllt Niklas.

    Ich räuspere mich. »Heißt das … heißt das, ich bin … also ihr nehmt mich?«

    »Die anderen haben wir auch genommen«, knurrt der Dirigent. »Lauter Frauen. Heutzutage lernt kein junger Mann mehr Geige, es ist eine Schande. Wir haben keine Wahl. Aber du nutzt die verbleibenden Tage und tust was, ist das klar?«

    Durch das Fenster sehe ich zwei in die Höhe gereckte Daumen.

    »Okay«, sage ich. »Ich tue was, versprochen. Kicken oder Geigen?«

    »Yep«, sagt der Konzertmeister und schaut richtig zufrieden drein.

    Mist.

    Als ich schon drauf und dran bin, mich zu verdrücken, kommt Niklas, der Konzertmeister, auf mich zu und zeigt mir meinen Platz: zweite Geigen, letztes Pult.

    »Aber keine Sorge, wir wechseln durch. Nach dem Konzert in Trondheim sitzt ihr weiter vorn.«

    »Das ist schon okay so. Mach dir wegen mir keinen Kopf.«

    Letztes Pult. Kann mir etwas Besseres passieren? Ich nehme Platz, stelle meine Noten auf den Ständer, spiele ein paar Töne. Um mich herum großes Suche-und-Finde-Chaos. Stühle werden gerückt, Neulinge eingewiesen. Ich blicke zu Leo hinüber, der ganz hinten im Saal sitzt und mir aufmunternd zunickt.

    »Hi, ich bin Veronika.« Eine kleine Stämmige mit Pferdeschwanz streckt mir ihre Hand hin. »Sieht aus, als wären wir zusammen am Pult.«

    »Ole. Freut mich.«

    Veronika hat einen kräftigen Händedruck, und genau so spielt sie auch. Sie strunzt über die Saiten, stimmt pro forma nach, fertig. Zufrieden sieht sie auf.

    »Na, auch neu hier?«

    Ich nicke. »Vor der Mensa hat jemand Flyer verteilt. Millionen von Flyern. Irgendwann konnte ich nicht mehr ausweichen.«

    »Das war Ann. Mich hat sie in der Vorlesung angesprochen.«

    »Studiert ihr zusammen?«

    »Ja, Medizin.«

    »Und warum fehlt sie heute?«

    »Krank, hieß es.«

    »Aber mitfahren wird sie doch? Ich meine, wo sie sich derart ins Zeug gelegt hat?«

    »Keine Ahnung.«

    »Ah.« Ich streiche ein Eselsohr aus den Noten. Plötzlich habe ich keine Lust mehr auf Norwegen. Was soll ich am Polarkreis, außer mir eine Erkältung zu holen? Elche gibt es in jedem Zoo. Wenn ich weiter so übe, wird sich mein Geigenfleck entzünden und als Geschwür nach innen wachsen. Fußball ist eh Mist.

    Vorne nimmt der Dirigent auf seinem Hocker Platz. Es wird still im Saal. Eine vom Vorstand begrüßt alle Neuen, die es ermöglicht haben, dass die Norwegen-Fahrt doch noch stattfinden kann. Dabei schaut sie in unsere Richtung. Und hey, sie sieht regelrecht dankbar dabei aus. Dankbar, dass ich hier hinten sitze und einen Orchestergeiger mime. Großer Beifall, Getrampel.

    Na und?

    »Wir fangen mit Grieg an«, ruft der Dirigent. »Nach der Pause Sibelius. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Die Solistin stößt erst in Norwegen zu uns. Alles bereit?«

    Veronika drückt ihr kurzes Kreuz durch.

    Geigen-Oles Uniorchesterlaufbahn beginnt mit einem Schrumm. A-Dur, gleich so ein fieser Doppelgriff, dass das Kolophonium stäubt. Danach wird es übersichtlicher. Holzbläser und erste Geigen haben die Arbeit und die hübschen Melodien, wir zweiten die Nachschläge. Bloß dass mich das nicht interessiert. Hauptrolle oder Begleitung – egal. Das Orchester ist unvollständig, nur das zählt. Lustlos liefere ich meine Noten ab. Überlege sogar, absichtlich falsch zu spielen, damit sie mich gleich wieder rausschmeißen. Dann bliebe mir wenigstens das Gekicke auf Schnee und Eis erspart. Da vorne lauert eine Generalpause, die nur darauf wartet, dass einer in sie hineinrasselt. Soll ich? So richtig mit Karacho? Soll ich?

    Und zack!

    Der Dirigent winkt ab und blinzelt zu uns herüber.

    Sofort werde ich rot. Obwohl ich gar nicht gespielt habe.

    »Upsi«, macht es neben mir. Veronika, meine Pultnachbarin! Ich sage ja, die Frau hat was Zupackendes. Wenn schon in die Pause semmeln, dann aber richtig.

    »Das war wohl ich.« Mit bewundernswerter Ruhe zückt sie einen Bleistift und umkringelt die Stelle.

    Wir spielen die Passage noch einmal, und jetzt geht alles glatt. Kurz danach nimmt der Dirigent die Holzbläser aufs Korn. Intonationsprobleme oder so was. Ich setze mein Instrument ab und schaue ins Leere.

    »Mit dem Zählen habe ich es nicht so«, flüstert Veronika.

    »Wird schon.«

    Eigentlich müsste ich ihr dankbar sein. Sie spielt selbstbewusst und ziemlich laut, bietet also perfekten Windschatten. Windschatten kann man immer gebrauchen. Vor allem wenn man Ole Jacobsen heißt. Dank der Überei im Vorfeld haben sich meine geigerischen Fähigkeiten exponentiell verbessert, aber das ist auch keine Kunst, wenn man knapp über null startet. Außer einer ausgereiften Pausenvermeidungsstrategie habe ich nicht viel zu bieten. Die in meiner Umgebung allerdings auch nicht. Da wird krampfhaft gezählt und mit den Vorzeichen gekämpft. Ich sehe schon: lauter Nachrücker. Einwechselspieler, Panikeinkäufe. Was musikalisch über dem Durchschnitt liegt, tummelt sich in der ersten Geige. Teambuilding sieht anders aus, finde ich. Und klanglich überzeugt es mich auch nicht, von Konzertreife sind wir noch Lichtjahre entfernt. Selbst nach norwegischen Maßstäben.

    Wobei das nicht für das gesamte Orchester gilt. Drüben die Bratschen zum Beispiel, wenn die sich ins Zeug legen, klingt es echt nach Schokolade. Mal Zartbitter, mal Vollmilch. Ein eingespielter Haufen, jede Bewegung synchron. Da würde einer wie ich bloß stören.

    Und sonst? Celli und Bässe fallen nicht weiter auf. Die Bläser – blasen halt. Wenn das mal nicht von »blasiert« kommt. Ich meine, schaut sie euch doch an, wie sie gelangweilt auf dem Stuhl rumhängen, bis ihr Einsatz droht, und zack, hauen sie ein Solo raus, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Klarinettisten winden sich wie Schlangenbeschwörer. Flöten werden nur mit spitzen Fingern angefasst. Im Blech haben sie jede Menge Zeit zum Chatten. An der ersten Oboe sitzt die vom Vorstand, die vorhin die Ansage gemacht hat. Einmal fange ich ihren Blick auf. Sie lächelt mir zu. Ähnlich wie Ann damals vor der Mensa, bloß über die Kurzstrecke. Aber hübsch ist sie auch. Wer mir so zulächelt, ist per definitionem hübsch. Vom Typ her könnte sie Juristin sein, mit ihren langen Haaren und den Perlenohrsteckern. Trotzdem andere Liga, Ole.

    »Hängt euch an Claire dran«, kommt es von vorne. »Die Oboe führt, ihr begleitet.«

    Claire also, auch hübsch. Der Dirigent heißt Christian, soweit ich weiß, aber irgendwann fällt ein Name, den ich überhaupt nicht einordnen kann.

    »Wie nennt ihr den?«, flüstere ich Veronika zu.

    »Puppe.«

    »Den Dirigenten?«

    »Ja. Christian Poupas, die Eltern sind Griechen, glaube ich. Deshalb Puppe.«

    »Ach so.«

    Sie grinst. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass Puppe an die zwei Meter groß ist. Muskulös, durchtrainiert, Kreuz wie ein Möbelpacker, und ganz oben auf diesem Athletenkörper thront eine Glatze, die rot anläuft, wenn er sich durch die Partitur wuchtet.

    Okay. Das also ist es. Das berühmte Orchester der Universität, das dem Publikum halbjährlich eine Bruckner-Sinfonie serviert oder ein fettes Brahms-Konzert. Klingende Dekoration, wenn der Rektor den Bundespräsidenten empfängt. Das Orchester der Auserwählten. Und mittendrin ich.

    »Ich fahre nicht mit«, sage ich in der Pause zu Leo.

    »Spinnst du?«, fährt er auf. »Wenn du das tust, ist es aus mit uns beiden.«

    »Hi«, sage ich. »Hat geklappt mit dem Vorspiel.«

    »Sieht man. Schön.«

    Sie erkennt mich nicht. Sie hat völlig vergessen, dass sie mir den Flyer gegeben, dass sie mich persönlich angesprochen hat. Okay, ich bin einer von Tausenden gewesen. Von Zehntausenden. Ich habe nichts Einprägsames. Wer mein Gesicht zum ersten Mal sieht, vergisst es sofort wieder.

    Ja, mein Gesicht schon. Dafür aber …

    Ich drehe meinen Kopf so zur Seite, dass mein Geigenfleck in ihr Blickfeld gerät.

    »Schön«, sagt sie noch mal. »Hau rein.«

    Jetzt hat sie mich erkannt.

    Sie sitzt am zweiten Pult der ersten Geigen, direkt hinter Niklas, dem Konzertmeister, der eine supercoole Lederjacke trägt und spielt wie ein junger Gott. Er sieht auch ein bisschen so aus, südländischer Typ, Dreitagebart, wie ein unrasierter junger Gott gewissermaßen. In der Sinfonie gibt es ein Solo für ihn, das auch einem Profi schlaflose Nächte bereiten würde. Er legt dafür nicht mal seine Jacke ab. Klar ist es kühl in dem Probenraum, von irgendwoher zieht es, aber das gehört wahrscheinlich zur Vorbereitung auf Skandinavien.

    Ann hängt wie ein Schluck Wasser in ihrem Stuhl. Wenn Puppe den Taktstock hebt, gibt sie sich einen Ruck und nimmt Haltung ein. Sie sitzt dann ganz vorne auf der Stuhlkante, neigt den Kopf ein wenig nach links, als horche sie in ihre Geige hinein. Unter ihrem dünnen Pulli zeichnen sich die Schulterblätter ab. Ich fange einen verschwörerischen Blick Leos auf, der mir signalisiert: Hast du ihre Schulterblätter gesehen? Hast du gesehen, wie sie sich bewegen, wenn sie spielt? Ist das eine Augenweide oder ist das keine?

    »Noch mal ab Buchstabe F«, ruft Puppe.

    Ich linse zu Ann hinüber. Klar ist das eine Augenweide. Aber noch mehr gefällt mir, dass oben, zwischen Kragen und Haar, das Wäscheschildchen rausspitzt, das mit Baumwolle und vierzig Grad.

    Leo hat es natürlich auch bemerkt.

    Kaum winkt Puppe ab, fällt Ann wieder in sich zusammen. Neben mir klopft Veronika mit der Bogenspitze auf die Noten.

    »Fünf b«, murmelt sie. »Muss das jetzt sein? Die Feinde werden übermächtig.«

    Schon verstanden. Fünf b sind mindestens drei zu viel, wenn man sich gerade auf zwei Schulterblätter in der ersten Geige konzentriert. Ich gehe mal davon aus, dass Veronika es gut mit mir meint, und deshalb sage ich auch nichts, als sie kurz darauf wieder in ihre Lieblingspause platzt.

    Kopfschüttelnd malt sie einen noch dickeren Kringel um den Takt.

    Aber das ist alles nichts gegen die Fallstricke, die in der Sinfonie auf uns warten. Russische Fallstricke, ausgelegt von einem Fallensteller namens Schostakowitsch. Für meinen Vater gehören Typen wie der nicht in klassische Konzertprogramme. Kommunisten! Im Zweiten Weltkrieg, erzählte er mir, wurden Noten von dem Kerl um den halben Erdball geschmuggelt. Damals brauchte die Welt den Bolschewismus ja noch, um die Nazis zu bekämpfen. Aber heute? Da könne man ja gleich die alten Stalin-Statuen wieder aufrichten.

    An Stalin und den Krieg muss ich denken, als wir uns in die Sinfonie stürzen. Die schnellen Sätze, ein Minenfeld. Hinter jeder Ecke eine neue Tonart, ein Taktwechsel, eine rhythmische Finte. Das Ganze im Höchsttempo, Tachonadel auf Rot. Durchkommen als einziges Ziel – aber wie? Vielleicht mit Staatsdoping. Ich stelle mir sowjetische Elitemusiker vor, gedrillte Wunderkinder, die vor Doppelgriffen in der dreigestrichenen Oktave weniger Schiss haben als vor dem Klassenfeind aus dem Westen.

    »Ihr sollt nicht schön spielen!« Puppe bricht mitten in der Phrase ab. »Versteht ihr: nicht schön!«

    »Also was mich angeht«, raune ich Veronika zu, »ich habe gar nicht gespielt.«

    »Dann war es wenigstens nicht falsch.«

    »Es soll hässlich klingen, Leute!« Puppe wird heiser. »Klar? Bissig, biestig, kratzig, Grimasse im Gesicht. Immer Zunge raus! Könnt ihr das überhaupt? Zeigt mal eure Zunge! Na los, alle Mann.«

    Bevor ich mich entschieden habe, ob ich das lächerlich finden soll oder nicht, sehe ich, wie das komplette Orchester die Zunge rausstreckt. Wirklich alle! Im Zuschauerraum springt Leo auf und macht ebenfalls mit.

    Ich also auch.

    »Genau so spielen wir das jetzt«, sagt Puppe zufrieden und hebt den Taktstock.

    Und schon geht es wieder los. Formel 1 ist Sandkasten dagegen. Einmal versteuert, und du tuckerst dem Feld hinterher. Dauernd Taktwechsel, Sprünge, Synkopen, quere Rhythmen. Für saubere Töne bleibt da keine Zeit. Mein Instrument quietscht, aber solange es quietscht, bin ich noch dabei. Vor mir werden die Segel gestrichen. Links und rechts rauschen sie in die Generalpausen rein, Veronika natürlich immer dabei. Zielgerade, Schlusstakt – angekommen!

    »Heftig.« Veronika lässt die Geige sinken. »Echt heftig. Sag mal, können wir uns nicht zusammentun? Ich sorge für die korrekten Töne, du bringst sie an der richtigen Stelle unter.«

    »Ich kann dir auch die Einsätze geben. Übertrieben deutlich. Und du spielst dann.«

    »Du nicht?«

    »Nö. Nur Einsätze.«

    »Dann muss ich doppelt so laut spielen. Für dich mit.«

    »Genau.«

    Ich überlege, wie weit ich mit dieser Strategie wohl komme. Irgendwann wird es auffallen, wenn einer nur die große Luftnummer fabriziert. Andererseits spricht nichts dagegen, ein paar von den hohen Tönen wegzulassen, während ich so tue, als langte ich ordentlich hin. Wenn es dann rechts von mir korrekt klingt, hat unser Pult alles richtig gemacht.

    So kämpfen wir uns durch die

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