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Achtundachtzig
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eBook317 Seiten4 Stunden

Achtundachtzig

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Über dieses E-Book

28. August 1988. Das Flugtagunglück auf der Ramstein Air Base in Rheinland-Pfalz wird zum Wendepunkt im Leben der Freunde Alwin, Sascha, Andreas und Franziska. Keiner der vier erleidet körperliche Verletzungen und doch wird nichts mehr sein, wie es war. Erst recht, nachdem sich noch am selben Abend eine weitere, folgenschwere Tragödie ereignet.
30 Jahre später, im Sommer 2018, ist es der Suizid einer jungen Frau, der den Polizisten Alwin Bungert vor ein Rätsel stellt. Ein Motiv ist nicht erkennbar, ein Abschiedsbrief, falls er je existierte, verbrannt. Doch das Wiedersehen mit seinen Jugendfreunden beim Jubiläumstreffen des Abiturjahrgangs '88 reißt alte Wunden auf und legt ein Geheimnis offen. Alwin ahnt, dass an jenem Tag vor drei Jahrzehnten weit mehr zerbrochen wurde als befürchtet.
SpracheDeutsch
HerausgeberConte Verlag
Erscheinungsdatum8. Nov. 2018
ISBN9783956021572
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    Buchvorschau

    Achtundachtzig - Marcus Imbsweiler

    Impressum

    Der Sommer war heiß gewesen, heiß und vor allem trocken. Rund um Dürrweiler leuchteten die Wiesen in stumpfem Gelb, der Asphalt der Dorfstraße zeigte erste Risse. Auf den Feldern liefen Sprenger und Berieselungsanlagen praktisch ohne Unterlass, doch die Tropfen zerstoben zu nichts, bevor sie auf die ausgemergelte Erde trafen.

    Ein neues Wort machte die Runde, eines, das sie in Dürrweiler bislang nur vom Hörensagen kannten, nicht aus eigener Anschauung: Waldbrandgefahr. Polizei und Feuerwehr wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Alwin Bungert persönlich brachte Schilder an Waldparkplätzen und Wanderwegen an, die auf die aktuelle Gefahrensituation hinwiesen. Kein offenes Feuer entzünden! Brennende Zigaretten niemals fortwerfen!

    »Waldbrandgefahr«, murmelte Bungert vor sich hin, während ihm der Schweiß über den Nacken lief. Das Wort hatte einen eigentümlichen Klang, fast hätte er gesagt: einen seltsamen Geschmack. Seit er Polizist war, nein, seit er denken konnte, hatte in Dürrweiler, hatte im gesamten Ostsaarland kein Wald gebrannt. Eher waren Wälder im Dauerregen ersoffen, vom Sturm umgelegt, vom Frost gesprengt. Aber in Flammen gestanden? Man lebte ja nicht in Griechenland oder Australien.

    Und dann geschah es doch.

    Auf Gemeindegrund, nur einen Steinwurf vom Ort entfernt. Drei Tage, nachdem Bungert, seine Kollegin und die Jungs von der Feuerwehr ihre Schilder angebracht hatten. Im Wald hinter dem Friedhof brannte es, die Flammen schlugen meterhoch in die Nacht. Es sah aus, als würde der Hügel Feuer spucken: der Vulkan von Dürrweiler.

    Als Bungert die Information erhielt, jagten draußen bereits die Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr durch die Straßen. Er schüttelte den Kopf, wollte es nicht glauben. Wer konnte so dämlich sein …? In diesen Tagen! Eine Nachlässigkeit? Brandstiftung? Das Wort, das ihm so fremd vorgekommen war, hatte plötzlich einen neue, bittere Note.

    Von seinem Haus brauchte er keine fünf Minuten mit dem Auto. Am Friedhof vorbei, raus aus dem Ort und dann gleich rechts in einen Feldweg, der zum Wald führte. Zwischen den Bäumen zuckte Blaulicht, der Nachthimmel glühte vom Widerschein des Feuers. Bungert stellte seinen Wagen ein Stück hinter der Einmündung des Feldwegs ab. Die Zufahrt musste frei bleiben. Beim Aussteigen rief er seine Kollegin an. Auch wenn die Feuerwehr den Brand wahrscheinlich bald unter Kontrolle hatte, brauchte er Jenny, um Gaffer fernzuhalten. Die Nähe zum Ort war Fluch und Segen zugleich. Das Feuer konnte erst vor Kurzem ausgebrochen sein; aber so schnell, wie es entdeckt worden war, würde es auch Neugierige anziehen. Und von denen gab es genug in Dürrweiler.

    Er steckte das Handy wieder ein. Jenny war bei ihrem Freund im Nachbarort, in spätestens zehn Minuten wollte sie vor Ort sein. Bungert lief über den Feldweg Richtung Wald. Die Stille, die sonst hier herrschte, war wie weggefegt, das Prasseln des Feuers vermischte sich mit dem Motorenlärm, mit Kommandos und Arbeitsgeräuschen. In Bungerts Rücken kündeten Sirenen das Eintreffen weiterer Feuerwehren an.

    Jetzt hatte er den Waldrand erreicht und mit ihm die wie an einer Perlenkette aufgereihten Autos, drei Löschfahrzeuge, ein Einsatzleitwagen. Menschen rannten hin und her, Schläuche wurden entrollt, Schaufeln und Hacken verteilt. Schon nach wenigen Metern öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, auf der früher eine Jagdhütte gestanden hatte. Ihre Umrisse waren trotz des hohen Grases noch erkennbar. Und gleich daneben tobte das Feuer. Es hatte den gesamten nördlichen Rand der Lichtung erfasst und drohte sich in den Wald zu fressen. Der Wind, der hier oben deutlich stärker wehte als unten im Ort, drückte die Flammen nach Westen.

    Bungert betrachtete das Wüten des Feuers mit einer Mischung aus Faszination und Grauen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so mächtigen Brand aus nächster Nähe erlebt zu haben. Die Hitzeentwicklung war enorm, das Gelb, Orange und Rot der Flammen ließ seine Augen tränen. Noch beklemmender aber waren die Geräusche, die das Feuer machte: Es knackte, zischte, stöhnte, grollte, röchelte. Wie ein eigener Organismus, fast wie ein Mensch. Manchmal drang ein tiefer Seufzer aus dem Inferno.

    Bungert ging ein paar Schritte zur Seite, um die Löscharbeiten nicht zu behindern. Er schwitzte vom bloßen Hinsehen, aber einer wie Bungert schwitzte leicht. Plötzlich hörte er lautes Rufen von der entfernten Seite der Lichtung. Mehrere Feuerwehrleute in Schutzkleidung drangen unter Einsatz von Rückenspritzen bis dicht an das Flammenmeer heran. Dann bückten sich zwei von ihnen, um einen dunklen, rauchenden Gegenstand vom Boden aufzuheben oder eher wegzuziehen. Einer winkte Bungert zu.

    Der Polizist zögerte. Auf seinem Gesicht brannte die Hitze. Als er sich schließlich doch in Bewegung setzte, achtete er darauf, dem Feuer nicht zu nahe zu kommen. Was konnte hier schon herumliegen, hier lag doch nie etwas herum, seit die Hütte nicht mehr stand. Er sah, dass die Feuerwehrmänner den Gegenstand weiter aus der Gefahrenzone heraus schleppten. Und er sah, dass der Gegenstand eine ungewöhnliche Form hatte: die Umrisse eines Menschen.

    Bungert ging weiter. Er war Polizist, er hatte schon mehr als einen Toten gesehen. Darunter auch übel Zugerichtete, Opfer von Verkehrsunfällen oder einmal eine stark verweste Leiche. So schnell erschütterte ihn nichts. Aber dann änderte der Wind für einen kurzen Moment seine Richtung. Eine Bö trug den Geruch, der von dem Gegenstand ausging, zu Alwin Bungert hinüber.

    Bungert wurde schwindlig. Er spürte, wie ihm die Knie wegsackten.

    Im selben Moment, als sich der Polizist ins Gras der Lichtung übergab, begannen unten in Dürrweiler die Kirchturmglocken zu läuten.

    Der Kirchturm von Dürrweiler ist so etwas wie das Wahrzeichen des Ortes. Weniger, weil er so markant wäre, sondern weil es kein anderes Gebäude gibt, das ihm diese Stellung streitig machen könnte. Von außen sieht man dem schmalen, hohen Turm nicht an, dass in seinem Inneren vier dickleibige Glocken auf ihren Einsatz warten, ein bronzenes Quartett, das seine Rufe weit über das Land schickt. Ihr Läuten begleitet die Bewohner von Dürrweiler ins Leben hinein und wieder hinaus. Auch jetzt, Stunden nach Entdeckung der Toten, zieht der Glockenschlag, den Bungert gehört hat, noch seine Kreise. In weiter Entfernung natürlich und kaum wahrnehmbar. Irgendwo schwingt etwas nach, flüstert ein Echo, zittert ein dünnes Blatt. Selbst die Wände des Dürrweiler Kirchturms vibrieren noch unmerklich. Wie ein ganz zarter Farbton senkt sich der Ton seiner vier Glocken über das Land, ein Hintergrundsrauschen, eine Melodie, die in jedem drin steckt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.

    Der Pfarrer von Dürrweiler hat diesen Glocken einmal einen ganzen Vortrag gewidmet. Lange her, inzwischen gibt es einen neuen Pfarrer, der über eine deutlich geringere Zahl von Schäfchen wacht. Was sein Vorgänger damals zum Kern seiner Ausführungen machte, war genau jenes Missverhältnis von außen und innen, das sich bei genauer Betrachtung des Kirchturms offenbart. So, wie der Turm unter seiner Hülle einen ungeahnten Schatz verbirgt, liegt auch beim Christenmenschen das Wertvollste tief in seinem Inneren. Sagte der Pfarrer. Ob einer hässlich ist oder entstellt, missgestaltet oder verkrüppelt – auf die Seele kommt es an! Und da nickten die Hässlichen und Entstellten seiner Herde, und alle anderen nickten auch. Nur die Eitlen senkten beschämt ihre Köpfe.

    Das Referat des damaligen Pfarrers war Teil einer ganzen Vortragsreihe zum Thema »Glauben heute«, initiiert von der Volkshochschule. Im Jahr darauf lautete das Thema »Medizin heute«, und da fand die Diskussion um außen und innen eine Fortsetzung, wenn auch ungeplant. Referent war ein junger Assistenzarzt aus Norddeutschland, den es kurz zuvor ans Universitätsklinikum Homburg verschlagen hatte, und zwar an die Hautklinik.

    Ein Dermatologe also. Ein Ortsunkundiger. Was durfte man da erwarten? Auskünfte zur Beschaffenheit und Funktion dieses größten aller menschlichen Organe. Warnung vor Krankheiten. Hautkrebs, Neurodermitis, Sonnenbrand. All das kam auch. Moderne Erkenntnisse, verständlich unters Volk gebracht. Irgendwann aber schob der Assistenzarzt sein Manuskript beiseite und strahlte die Zuhörer an. In seine Augen war ein sehr unwissenschaftliches Leuchten getreten.

    Die Haut, sagte er, werde ja gemeinhin als Hülle betrachtet. Als Mantel, Umhang, Pelle. Was dem Tier das Fell und dem Baum die Borke, sei dem Menschen die Haut. Gewissermaßen dasjenige, was unser Organpuzzle vorm Auseinanderfallen bewahre. Die Verpackung also. Und genau das sei ein Irrtum. Eine total verkürzte Sicht der Dinge. Die Haut sei viel mehr. (Hier verstärkte sich das Leuchten.) Viel mehr! Die Haut sorge für den Flüssigkeitsaustausch, sie atme, sie transportiere Dinge von außen nach innen, von oben nach unten. Sie sei formbar, beweglich, passiv und aktiv zugleich, sie erneuere sich ständig. Von welchem anderen Bestandteil des Menschen könne man das sagen? Von den Zähnen vielleicht? Von den vielbeschworenen Augen, den Fenstern der Seele? Man möge einmal, nur versuchsweise, in ein Auge schneiden. Oder fest mit dem Daumen draufdrücken. Puh. Die Haut könne das ab, kein Problem. Oder das Herz, das angeblich Wertvollste, was der Mensch besitze, Zentrum und Lebenskern. Aus medizinischer Sicht eine Trivialität. Bloß Muskelfleisch, tock-tock. Ein Motor, aber ein ganz simpler. Dagegen die Haut! Auf kleinster Fläche mehr Rätsel als im dicksten Sportlerherzen. Kompliziert, durchdacht, eine Herausforderung noch für viele Forschergenerationen.

    Und das, strahlte der junge Arzt, sei ja nur die wissenschaftliche Seite. Wir alle wüssten doch, wofür die Haut noch stehe. Man müsse sich bloß einmal selbst berühren, sanft über den Unterarm streicheln oder die Wangen. (Er machte es vor.) Das Feuerwerk an Emotionen, das dieser minimale Kontakt auslöse! Der Schauer, der uns ergreife, die Beschleunigung des Pulses, die Änderung der Körpertemperatur. Verursacht durch ein schlichtes Schaben an der Außenwand. Beim Herzen funktioniere das nicht, das lasse sich nicht streicheln. Augen und Zähne ebenso wenig. Haut aber habe nicht nur eine taktile Qualität, sondern auch eine olfaktorische. Haut riecht! Und wie sie rieche. (Hier verzog sich das Gesicht des Arztes in Verzückung.) Die eigene Haut, die Haut des Partners, des Kindes. Sie schmecke ja auch, ganz vorzüglich schmecke sie, nicht zu reden von den optischen Genüssen, die sie zu bieten habe – ob die geneigten Hörer schon mal ein Herz gesehen hätten? So einen blutigen, zuckenden Herzklumpen? –, ja, und wer feine Ohren habe, dem entgingen auch die akustischen Signale nicht, wie sie unsere Haut bei jeder Bewegung aussende, dieses ganz feine Raspeln und Rispeln.

    Der junge Mann holte Luft. Und bei diesem Alleskönner, Allessymbolisierer solle es sich bloß um Verpackungsmaterial handeln? Nein, nein, die Haut sei etwas ganz anderes, viel Größeres, nämlich Spiegel unserer selbst, mehr Ich als Herz, Seele und Geist zusammen. Wer von sich spreche, meine in erster Linie seine Haut. Sie sei das wahre Gesicht des Menschen, Ausdruck seiner Gefühle. Ohne Haut kein Begehren. Ohne Haut keine Fortpflanzung. Dass der Mensch sich selbst lieben könne – im platonischen wie im erotischen Sinne –, sei der Haut zu verdanken.

    Und deshalb, schloss der Mediziner, sollten wir sie schützen. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen.

    Das Publikum applaudierte pflichtschuldig. Es bestand aus insgesamt drei Personen, allesamt Frauen, die sich im weitläufigen, für mindestens zehnmal so viele Hörer bestuhlten Nebenraum der Krone verloren. Eine der Damen sagte, wenn in der Uniklinik jetzt so nette Ärzte seien, könne man getrost krank werden, eine andere fragte, welchen Sonnenschutzfaktor der Herr Doktor für Mallorca empfehle.

    Die dritte Zuhörerin, eine junge Frau mit einem auffälligen Muttermal am Hals, sagte nichts. Wegen ihres Muttermals war sie gekommen, aber weil sich der Referent über derartige Hautveränderungen ausgeschwiegen hatte, schwieg sie jetzt auch. Dann würde sie eben weiter damit leben. Wenige Monate nach dem Vortrag interessierte sich zu ihrer Überraschung doch ein Mann für sie, und als sie Jahre später eine Tochter bekam, hatte die ebenfalls ein Muttermal. An der gleichen Stelle wie ihre Mutter.

    Aber da war der junge Hautarzt längst wieder nach Norddeutschland gezogen.

    Bungert legte das Telefon beiseite und seufzte.

    Er spürte Jennys Blick, die unausgesprochenen Fragen. Trotzdem sah er nicht auf, er sagte auch nichts. Starrte bloß auf seine Hände, von denen eine den Hörer gehalten hatte, minutenlang. Schwere Hände, die Finger kurz und kräftig, zupackende Polizistenhände. Kleine Narben zeugten von dem, was diese Hände schon alles mitgemacht hatten, hier ein Schnitt, da der Griff in einen rostigen Nagel.

    Unerheblich. Nicht der Rede wert, wenn oben im Wald eine liegt, die so verbrannt ist, dass du sie nicht mehr erkennst.

    »Und?«, sagte Jenny. »Ist es die Jasmin?«

    Jetzt endlich blickte Bungert auf. Er nickte.

    Jenny drückte sich vom Schreibtisch weg und schaute zur Seite. »Ach Mann«, flüsterte sie.

    Bungert nickte wieder.

    Danach schwiegen sie beide. Bungert stemmte sich in die Höhe, ging zum Fenster und sah hinaus. Gierte nach Leben, nach Normalität und wurde erhört: das stille Treiben auf der Dorfstraße, Passanten, Autos, eine Fahrradfahrerin mit wehendem Haar, die hoch stehende Sonne. Der Anblick beruhigte ihn.

    Und trotzdem. Die Jasmin, was für ein Jammer. Sie hatten es sich schon gedacht gestern. Er, die Feuerwehrleute aus dem Ort, der Notarzt: Bei dem halbverkohlten Ding, das sie aus dem Feuer gezerrt hatten, könnte es sich um die Jasmin handeln. Könnte! Musste nicht. Wo doch der Oberkörper besonders übel zugerichtet war, das Gesicht verwüstet, die Haare komplett weggebrannt. Mann oder Frau? Von der Statur her eine Frau, eine junge. An den Füßen Sneakers, gerade noch erkennbar, Reste einer Jeans. Mehr nicht. Und doch. »Kann das die Jasmin sein?«, hatte einer der Feuerwehrleute gesagt. Einer aus dem Ort. Es fielen noch andere Namen, aber Bungert, nach einem flüchtigen Blick auf die Leiche, hatte innerlich genickt. Was da lag, war die Jasmin. Auch wenn es kein Muttermal mehr gab, an dem man sie hätte erkennen können.

    »Ausgerechnet die Jasmin«, hörte er Jenny sagen.

    Er wusste, was sie meinte. Jasmins Mutter, der Gudrun, hatte das Leben doch schon schlimm mitgespielt. Der Mann abgehauen, der Vater zum Krüppel geschlagen. Und jetzt die Jasmin, ihre einzige Tochter. Warum musste sie die auch noch verlieren?

    »Eine Schande ist das«, sagte er und ging zum Schreibtisch zurück. Ließ sich in seinen Drehstuhl fallen und wartete ergeben auf Jennys Fragen.

    »Wie weit sind sie in Saarbrücken?«

    »Ermitteln. In alle Richtungen. Wollen nichts ausschließen.«

    »Ach, komm.«

    Bungert hob die Schultern. »Für Fremdeinwirkung gibt es derzeit keine Anzeichen.«

    »Also Unfall? Oder Suizid?«

    »Sieht so aus.«

    »Und was von beidem?«

    »Alles offen.«

    »Glaubst du, dass die sich verbrannt hat? Selbst angezündet? Passt nicht zu der.«

    »Kann man in die Leute reingucken?«

    »Aber doch nicht die Jasmin!«

    Bungert kratzte sich am Kopf. Die Jasmin nicht, das sah er genau so.

    »Hat sie geraucht?«

    »Die Jasmin und geraucht?« Bungert schüttelte den Kopf. Soviel er wusste, war das Mädchen eher das Gegenteil einer Raucherin. Kein Nikotin, kein Alkohol. Aus Prinzip! Konnte natürlich eine Phase sein, die Jasmin hatte so etwas Schwankendes, immer schon gehabt. Komisch übrigens, dass er das mit der Jenny besprach, die war ja kaum älter und hatte genau wie Jasmin lange, blonde Haare – aber damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Jenny war klein und stämmig, breit in den Hüften, die warf so schnell nichts um. Jasmin dagegen mit ihrer leisen Stimme und dem unsteten Blick … total anderer Typ.

    »Vielleicht hat sie ein Feuer gemacht«, spekulierte Jenny weiter. »Zum Spaß, nur für sich.«

    »Bei der Trockenheit? So blöd ist doch keiner.«

    »Liebeskummer? Romantisches Plätzchen im Wald, kleines Feuerchen – sie schläft ein, und plötzlich steht alles in Flammen.«

    »Wenn es so war, dann sieht es schlecht aus mit Spuren.«

    »Jedenfalls finde ich es seltsam, dass wir sie ausgerechnet dort oben gefunden haben. Wo mal die Hütte vom Karlmann war.«

    Bungerts Antwort bestand in einem vagen Brummen. Seine junge Kollegin sprach bloß aus, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging. Die Hütte, die bis vor drei Jahren auf der Lichtung gestanden hatte, hatte dem Landrat gehört: Karl-Josef Brix, Spitzname Karlmann. Und was den Karlmann und die Jasmin anging, so hatte es Gerüchte gegeben. Damals. War die Jasmin bloß Aushilfskraft im Büro des Landrats, oder war da noch mehr? Vom Alter her hätte der Karlmann ihr Vater sein können, aber das hatte den ja noch nie gejuckt. Unklar, ob es die Jasmin gejuckt hatte. Der Schwitzgebel David, ihr damaliger Freund, hatte jedenfalls mit ihr Schluss gemacht. Oder sie mit ihm?

    »Na ja«, sagte Bungert.

    »Was, na ja?«

    »Die Sache mit dem Karlmann ist lange vorbei. Kein Grund, sich jetzt im Wald zu verkriechen.«

    »Trotzdem komisch.«

    »Schon.«

    »Und wie geht es weiter?«

    »Die Saarbrücker machen ihre Arbeit. Das wird dauern. Spuren? Dort oben ist alles verbrannt. Eventuell bringt die Obduktion was.«

    »Und wir?«, fragte Jenny.

    Achselzucken. »Wir können uns umhören. Vielleicht hat jemand was gesehen oder vorher mit ihr gesprochen. Kann doch nicht sein, dass ein Mädchen aus unserer Mitte«, er zögerte und wählte dann eine weniger pathetische Formulierung, »ein Mädchen aus dem Ort so einfach verschwindet.«

    Jenny sah auf den Kugelschreiber, den sie in der Hand hielt. »Warum sagst du Mädchen? Sie war 20.«

    »Mein Gott, ich kenne die Jasmin, seit sie …« Bungert war plötzlich heiser. »Mädchen, junge Frau, egal.«

    »Dich hat das gestern ziemlich angefasst, was? Ich hab gesehen, wie dir der Notarzt was gegeben hat.«

    »Bloß der Kreislauf.« Bungert machte eine Handbewegung, als könne er Jennys Bemerkung so vom Tisch wischen. »Schlechter Tag. Bin halt auch nicht mehr der Jüngste.«

    Der Wald hinter dem Friedhof war weiträumig abgesperrt. Über den Baumwipfeln standen schmutzig gelbe Rauchfahnen. Noch immer kokelte es an vielen Stellen. Bungert sprach mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr, der vor der Gefahr eines erneuten Aufflammens warnte. Am Nachmittag sollte der Wind auffrischen, außerdem gab es weiterhin Glutnester, auch verborgene. Tiefer im Wald waren Gräben gezogen worden, Bäume gefällt und Buschwerk beseitigt. Gegen Funkenflug kam Wasser zum Einsatz. Noch in der Nacht hatte man den Hydranten beim Friedhof angezapft und so den Nachschub gesichert.

    An der Stelle, an der Jasmins Leiche gelegen hatte, waren Spurensicherer in feuerfesten Schuhen zugange. Bungert konnte sich nicht vorstellen, dass sie dort fündig werden würden. Die Lichtung selbst war weitgehend unversehrt, offenbar hatte der Wind das Feuer beständig Richtung Bäume gedrückt. Dort, wo einmal dichter Wald gewesen war, ragten jetzt verkohlte Stämme in die Luft. Das Unterholz war niedergebrannt, immer wieder wirbelte Asche auf.

    »Es hätte schlimmer sein können«, meinte der Einsatzleiter. »Die Natur erholt sich schnell.«

    Bungert schüttelte ihm die Hand und bedankte sich.

    Vor der Absperrung herrschte ein reges Kommen und Gehen. Menschen aus Dürrweiler und den Nachbarorten wollten sich ein Bild der Lage machen, soweit es ihnen gestattet war, wollten erfahren, begreifen, verstehen. Der Handel mit Informationen blühte. Gibst du mir was über die Tote, gebe ich dir mögliche Brandursachen. Bungert war schon wieder auf dem Rückweg in den Ort, als er Schritte hinter sich hörte. Er blieb stehen und drehte sich um. Es war der Rütsch, der Hastenteufel Rüdiger, der rasch zu ihm aufschloss.

    »Schreckliche Geschichte, Alwin.«

    Bungert nickte. Seit der Rütsch ohne Job war, hatte er Zeit. Zeit zum Herumlaufen, zum Reden, zum Kümmern. 20 Jahre in der Deutschlandzentrale eines Baumarkts, top Bezahlung, breites Kreuz – und dann die Insolvenz, quasi von heute auf morgen. Dumm gelaufen für den Rütsch.

    »Sag mal, stimmt das, Alwin? War das wirklich die junge Becker, die da …?« Er vollendete den Satz nicht.

    »Wie kommst du darauf?«

    »Erzählen sie hier.«

    »Wer erzählt das?«

    »Na, alle.«

    Bungert zuckte die Achseln. »Ja, ist wohl so. Die Jasmin.«

    »Furchtbar.«

    »Ist es. Aber frag mich jetzt bitte nicht, warum und wieso. Erstens weiß ich nichts, und zweitens müsste ich mein Maul halten, wenn ich was wüsste. Momentan kann dir niemand sagen, was gestern geschehen ist. Die Ermittlungen laufen.«

    »Logisch. Die arme Gudrun.«

    Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Die Sonne brannte auf dem Asphalt. Als sie den Friedhof passierten, räusperte sich Rütsch. »Weißt du, was ich mich frage, Alwin?«

    »Was?«

    »Wie die Gemeinde reagieren wird. Ich meine, wenn es brennt und eine aus dem Ort ums Leben kommt – müsste man da bestimmte Dinge nicht … also müsste man auf die nicht verzichten? Aus Respekt und so?«

    »Worauf denn?«

    »Na, zum Beispiel auf diese Steinbruch-Geschichte. Am Dienstag, das Konzert. Hab gehört, die ziehen eine Riesenshow ab, mit Feuerwerk und allem. Ausgerechnet Feuer, stell dir mal vor.« Unvermittelt blieb Rütsch stehen. »Kann man da rumgrölen und feiern, wenn kurz vorher …?« Auch dieser Satz blieb Fragment.

    Bungert, der ebenfalls anhielt, blickte sich um. Irgendwo ganz in der Nähe brummte etwas, es klang wie ein Spielzeugauto. Zu sehen war allerdings nichts.

    »Keine Ahnung, Rütsch, das muss der Bürgermeister entscheiden. Ich sehe da jetzt nicht so den Zusammenhang.«

    Hastenteufel nickte. Bungert wollte weitergehen, aber der andere rührte sich nicht von der Stelle.

    »Und … wie ist es mit unserer kleinen Feier morgen Abend? Das Abijubiläum? Dagegen spricht doch nichts, oder?«

    ›Ach so‹, dachte Bungert, daher weht der Wind. Daher.‹ Dem Rütsch ging es gar nicht um das Open Air im Steinbruch. Er hatte bloß Schiss, jemand könne ihm das Besäufnis mit den alten Schulkameraden übel

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