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Methusalems Schweigen. Kriminalroman
Methusalems Schweigen. Kriminalroman
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eBook300 Seiten4 Stunden

Methusalems Schweigen. Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Im Juli 1967 wird die Lüneburger Heide zum Schauplatz zweier grausamer Morde. Die Ermittlungen erweisen sich für die verantwortlichen Beamten Arndt von Jaan und Berthold Parick als zäh und mühsam. Die Menschen, die die beiden Mordopfer gekannt haben, schweigen wie der Wacholder, der Methusalem der Heide... Rund fünfzig Jahre später rollt der junge Staatsanwalt Jan-Claas Meierring den Fall wieder auf. Mit der Polizistin Sarah Wahlberg ermittelt er im Umkreis von Müden und Celle und kommt nicht nur dem Täter, sondern auch seiner eigenen Vergangenheit auf die Spur.

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum20. Mai 2021
ISBN9783961522408
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    Buchvorschau

    Methusalems Schweigen. Kriminalroman - Stefan Mittelberg

    Prolog

    Müden an der Örtze – 24.07.1967

    Die Dunkelheit war über die Heide gekommen.

    Langsam neigte sich die Sonne, brannte in grellem Orange, ehe sie schließlich ganz am Horizont versank. Ein Schatten schien sich über die Erde zu legen, und der dichte Teppich aus Heide verschwand in der Dämmerung in einem bläulichen Sträuchermeer. Nur die Silhouetten der Wacholdersträucher ragten wie Pfeiler in den Himmel.

    Peter Berg liebte es, seine Tage unter freiem Himmel zu verbringen. Früh war er an diesem Morgen aufgestanden, hatte seine Sachen zusammengesucht, den Schäfermantel übergeworfen und war zum Schafstall gegangen, wo er zuerst seine beiden Schäferhunde freigelassen hatte. Wie immer hatte Aufregung in der Herde geherrscht, als er sich an dem schweren Schloss des Stalls zu schaffen gemacht hatte. Die Tiere waren durcheinandergerannt, hatten laut geblökt. Peter Berg hatte nach seiner Schapschüffel und seinem Schäferkorb gegriffen, und noch während er den Riegel der Pforte hochgezogen hatte, hatten die Graugehörnten gegen das Gitter gedrückt.

    Frau Falkenberg, die wie immer früh wach gewesen war, hatte ihm noch aus einem offenen Fenster des Haupthauses zugerufen: „Peter, denk daran, dass wir uns morgen um die älteren Tiere kümmern müssen!"

    „Ja, Frau Falkenberg", hatte er geantwortet.

    „Und scheren müssen wir die Tiere auch noch."

    Er hatte genickt, seinen Kragen hochgeschlagen und war losmarschiert. Frau Falkenberg hatte immer schon Verständnis für ihn gehabt.

    Es war ein sonniger Tag geworden. Peter Berg hatte die Herde weit in die Heide geführt, dorthin, wo sie sich wohlfühlten. Willig war sie ihm gefolgt. Sie würden sich am nächsten Tag um alles kümmern, die Felle schneiden, die Hufe pflegen und die Ställe säubern.

    Die Heidschnucken hatten gefressen. Es waren erstaunliche Tiere, widerstandsfähig und zäh, genügsam und die Einzigen, die sich überwiegend von dem holzigen Heidekraut ernähren konnten.

    Der Großteil der Herde schlief bereits. Nur das leise Klingeln der Glöckchen, die die Schnucken um den Hals trugen, verriet, dass noch einige Tiere wach waren und nach Futter suchten. Die Hunde würden sich darum kümmern, dass keines von ihnen ausriss.

    Er fand ein ruhiges Plätzchen, packte sein Speckbrot aus und sah gedankenversunken in den klaren Sternenhimmel. Diese Freiheit war es, die er so liebte, die Freiheit, da zu sein, wo er wollte, inmitten der Natur, bei seinen Tieren. Mehr brauchte er nicht. Seine Herde, seine Schapschüffel und die Heide.

    Leise war es, still. Der Mond warf sein schwaches Licht auf den Hügel. Unwillkürlich schrak er auf, als sich ein Schwarm Vögel kreischend erhob. Ihr dunkler Schatten hob sich vor dem tiefblauen Himmel klar ab. Peter Berg biss in sein Brot und sah sich um. Hatte ein Tier die Vögel aufgeschreckt? Er sah den Wietzer Berg hinab und hielt inne, als er am Fuße des Hügels kein Tier entdeckte, sondern den Schatten eines Menschen. Das wunderte ihn. Niemand hielt sich zu dieser Zeit in der Heide auf.

    Niemand.

    Doch er hatte sich nicht geirrt: Ein Mensch bewegte sich dort, wandte sich nach links, dann wieder zurück, dann vor. Er konnte nicht erkennen, was dort vor sich ging, nicht aus dieser Entfernung, er versteckte sich hinter den Heidesträuchern vor ihm. Vorsichtig spähte er zwischen den Zweigen hindurch. Die Heide und die Dunkelheit würden ihm Schutz bieten.

    Langsam kroch Peter Berg vor, entlang an dem dichten Strauchwerk. Der Geruch trockener Erde drang in seine Nase. Die Sträucher standen viel dichter, er versuchte möglichst wenig Geräusche zu machen.

    Nach einer Weile hob er den Kopf und sah über die Knospen der Heide zum kleinen Waldstück, dorthin, wo sich der Schatten bewegt hatte. Er war immer noch da. Er erspähte seine Konturen, eine hagere, schmale Figur, nur ein Gesicht konnte er nicht erkennen. Dann duckte er sich, wagte erst einige Momente später, den Kopf zu heben. Der Schatten trat nun in das kleine Waldstück am Rande der Heidefläche und verschmolz vollends mit der Dunkelheit. Wieder kroch er zum Rand der Heidefläche. Geschützt durch einige Sträucher und die Dunkelheit blieb er liegen. Sein Herz schlug schnell.

    Lange lag er so da. Beinahe glaubte er, dass er wieder allein war in der Heide. Vorsichtig schaute er auf. Sein Herzschlag beruhigte sich. Doch da tauchte der Schatten wieder auf, mit strammen Schritten. Peter Berg versuchte nicht zu atmen. Nah war er, zu nah vielleicht. In Zeitlupe drehte er sein Gesicht zum Waldrand. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand der Unbekannte. Eine kleine Person war es, einen Stein in der Hand. Erst da erkannte er eine zweite Person, die einige Meter von ihm entfernt am Boden lag. Reglos.

    Der Schatten hob seine krampfhafte Faust. Mit aller Kraft schleuderte er den Stein zu Boden. Ein furchtbares Geräusch eines zerberstenden Knochens erklang. Ein tiefes, kurzes Seufzen folgte, und dann herrschte Stille.

    Peter Berg erstarrte in blankem Entsetzen. Ihm war nach Schreien zumute, aber er blieb stumm. Lautlos beobachtete er den Schatten. Der hob den Stein auf und warf ihn in hohem Bogen in die Heide. Während Peter Berg am Boden zwischen den Heidesträuchern kauerte, ging der Schatten ganz nah an ihm vorbei, und das Licht des tiefstehendes Mondes fiel auf sein Gesicht.

    Peter Berg kannte den Schatten. Es war viele Jahre her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, aber sie kannten sich.

    Kapitel 1

    Osnabrück – 25.07.2018

    Jan-Claas Meierring hatte schlecht geschlafen. Als das Telefon das erste Mal klingelte, war er wach geworden. Sein Kopf schmerzte. Wo war er? Sein Blick wanderte umher. Er befand sich in einem leeren weißen Raum, dessen Wände allmählich vergilbten. An einer Stelle musste einst ein Bild gehangen haben. Erst dann erkannte er, wo er war. Er war zu Hause.

    Wieder klingelte das Telefon. Jan-Claas mühte sich aus dem Schlafsack, erhob sich von der Isomatte und ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon bis vor Kurzem auf einer Anrichte gestanden hatte. Die Anrichte war bereits mitgenommen, das Telefon stand nun auf dem nackten Estrich.

    „Ja?", stöhnte er in den Hörer.

    „Jan?, fragte seine Mutter. „Bist du das?

    Jan-Claas rieb sich die Schläfe. „Mama, natürlich."

    „Du wolltest doch abends zu uns kommen, weil die Wohnung schon leer ist. In ihrer Stimme lag warme Besorgnis. Sie hatte natürlich recht. Er hatte es angekündigt. Er suchte nach einer Ausrede, mit der auch eine Mutter leben konnte. Kein Wort von bierseligen Abenden, die in verrauchten Ecken alter Kneipen endeten. „Wir haben noch ein Bier im Sometimes gleich um die Ecke getrunken. Ich bin dann einfach in die alte Wohnung gegangen.

    „Hmm, hörte er seine Mutter am anderen Ende sagen. „Kommst du denn nachher noch?

    Es war schon erstaunlich. Er mochte der Schule längst entwachsen sein, die Uni hinter sich haben, aber für die eigene Mutter blieb er schlicht der kleine Junge, der mit Schnürsenkeln zu kämpfen hatte und gerne Schlagsahne aß. „Natürlich, Mama. Ich räume hier nur noch die letzten Sachen zusammen. Dann komme ich."

    „Schön. Soll ich noch was zu essen machen?"

    Jan-Claasʼ Magen verkrampfte bei dem Gedanken an Essen. „Nicht nötig."

    „Wie du möchtest. Wann bist du denn dann da?"

    Viel zu tun gab es in seiner alten Wohnung nicht mehr, aber er würde dennoch etwas Zeit brauchen, um sich frisch zu machen und sich fit zu fühlen. „Es dauert noch ein bisschen. Die letzten Kleinigkeiten halten doch noch ziemlich auf. Putzen und so."

    „Ich weiß, Junge. Wie gut, dass wir das nicht mehr machen müssen. Soll ich dir noch bei irgendwas helfen?"

    „Wirklich nicht nötig."

    „Na gut, Junge."

    Jan-Claas fühlte sich elend. Er hatte seine Mutter belogen und dann auch noch abgewürgt.

    „Und?, fragte sie dann. „War es denn gestern wenigstens nett?

    Er versuchte sich zu erinnern. Sturzbetrunken musste er gewesen sein, und dann war er aus Gewohnheit zur alten Wohnung getaumelt. „Sehr nett sogar, wir waren beim Portugiesen in der Altstadt. Hatte ich ja erzählt. Kann man gut essen und ist auch gar nicht teuer."

    „Freut mich. Du kannst mir ja nachher noch mehr erzählen."

    „Mach ich", versprach er und legte den Hörer auf.

    Er ging in die Küche. Die Küchenzeile hatten sie für den Nachmieter stehen gelassen. Wahrscheinlich hätte man die Schränke ohnehin nicht wieder auseinander- und zusammenbekommen. Die Schranktüren waren nie ganz gerade gewesen, und die Griffe standen schief. Ihn hatte das nie gestört. Linda hatte ihn öfter darauf angesprochen, ob er nicht die Türen korrigieren könnte, aber er hatte sich immer damit herausgeredet, dass die Qualität des Holzes nicht sehr hoch sei und er da nichts machen könne. Zur Hälfte stimmte das sogar.

    Wie lange hatte er hier mit ihr gewohnt? Sechs Jahre? Sieben? Er wusste es nicht genau.

    Er hatte Linda während des Studiums kennengelernt. Sie hatten bereits einige Semester zusammen studiert, ehe sie zusammenzogen. Er liebte ihre lustige, unbeschwerte Art, und dies änderte sich auch nicht dadurch, dass sie zuweilen dickköpfig sein konnte.

    Seine Hoffnung, dass die Kaffeemaschine noch irgendwo stand, erfüllte sich nicht. Die Schränke waren ausgeräumt. Er schritt durch die leeren Zimmer. Ohne die Möbel kam ihm die Wohnung, die ihm gestern noch so vertraut war, eigentümlich fremd und unheimlich vor. Das Poster aus irgendeinem Museum aus Paris, das Linda trotz seines Widerstands beharrlich verteidigt hatte, war nun verschwunden und nur noch als helles Rechteck auf der Tapete sichtbar. Der riesige Gauguin-Kunstdruck im Wohnzimmer, den er im schweren Rahmen nur mit Mühe an die Wand bekommen hatte, blieb ebenfalls nur als Schatten auf der Tapete zurück. Den Laminatboden in der Ecke, wo über viele Jahre der Fernseher mit Unterstelltisch auf einem Läufer gestanden hatte, hatte er noch nie gesehen. Es war hier mal richtig gemütlich gewesen. Nun stand dort einer der letzten Kartons aus dem Baumarkt, gefüllt mit einigen Kabeln und mit Putzzeug, eben all dem, was als Letztes nach einem Auszug in der Wohnung blieb.

    Er ging zurück in die Küche. Erst vor drei Tagen hatte er hier noch mit Linda am Küchentisch gesessen. Im Nachhinein kam es ihm sonderbar vor, mit welcher Lustlosigkeit sie nach Jahren des gemeinsamen Lebens das Ende ihrer Beziehung verhandelten.

    „Eigentlich hat es doch keinen Sinn mehr, oder?", hatte sie ihn in aller Seelenruhe morgens beim gemeinsamen Kaffee gefragt.

    „Was meinst du?", hatte er, noch arglos, geantwortet.

    „Na, das mit uns. Irgendwie haben wir uns total auseinandergelebt. Wir leben zusammen und gehen miteinander um wie ein altes Ehepaar. Dabei haben wir noch nicht einmal geheiratet. Du hast deine Clique, ich meine. Wir verbringen keine Zeit miteinander. Jeder macht nur noch seine Sachen."

    Er hatte schmunzeln müssen. Es stimmte, sie waren wirklich wie ein altes Ehepaar. Sie stritten sich nicht einmal. Er hatte sich auf das zweite juristische Staatsexamen vorbereitet, und sie hatte ihr Studium abgeschlossen. Jan-Claas hatte das Richterexamen mit gutem Ergebnis beendet und aufgrund eines Kontaktes seines Referendarausbilders sogleich eine Stelle als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Hannover angeboten bekommen. Linda hatte sich irgendwann entschlossen, das spröde BWL-Studium gegen ein Lehramtsstudium einzutauschen. Mit dem Examen in der Tasche war es ihr gelungen, einen Referendarplatz an einer Grundschule im Münsterland anzunehmen.

    Sie hatten alles richtig gemacht. Sie hatten sich dabei allerdings aus den Augen verloren.

    Als Linda mit ihm das Ende ihrer Beziehung besprach, tat es ihm noch nicht einmal leid.

    „Soll das etwa heißen, du findest, wir sollten uns trennen?", hatte er gefragt.

    „Wir sollten eine Pause machen und dann sehen, wie wir uns damit fühlen."

    Sie hatten einen Moment geschwiegen. „Tja, wenn du meinst", hatte er geantwortet.

    Vermutlich hatte sie angenommen, dass er nun um sie kämpfte, dass er sich energisch für ihre Beziehung einsetzte und sie davon abhielt, sich von ihm zu trennen. Aber nichts von alledem hatte er getan. Und er hatte sich darüber gewundert, wie wenig ihn diese Diskussion berührte. „Okay, hatte er gesagt. „Dann machen wir das mal so.

    Und dann hatten sie weitergefrühstückt.

    Vorgestern waren sie ausgezogen. Fast die ganze Nacht hatten sie damit zugebracht, ihre Bücher, CDs, Unterlagen, Computer, Fernseher, Bilder und Klamotten in Kartons zu packen und zu beschriften. Den Hausstand zu trennen, fiel leicht, und vielleicht unterschieden sie sich darin doch von einem alten Ehepaar. Alles in der Wohnung gehörte einem von beiden. Und von fast allen Sachen waren zwei Exemplare vorhanden. Sie hatten nicht nur zwei Fernseher und zwei Computer, sie hatten auch zwei Bügeleisen, zwei Kaffeemaschinen, zwei Schlafsofas, zwei Geschirr- und Bestecksets. Alles gab es doppelt. Auch hier gab es keinen Streit.

    Sie hatten zwei Sprinter gemietet, einen, der Lindas Sachen nach Münster in eine 2er-WG brachte, und einen, der Jan-Claasʼ Kartons in einer Zweizimmerwohnung in Hannovers Südstadt ablieferte. Sie hatten zwei DIN-A4-Zettel auf die Armaturenbretter der Fahrzeuge gelegt, die mit „Münster und „Hannover beschriftet waren, damit ihre Freunde wussten, welcher Karton in welchen Wagen gehörte. Die Kisten und Kartons zu verfrachten, die Waschmaschine aus dem Keller zu wuchten und die Lampen abzubauen, war alles in allem schnell erledigt. Noch vor ein Uhr waren sie fertig gewesen. Jan-Claas und Linda hatten niemandem von der Trennung erzählt. Sie wurden auch von niemandem darauf angesprochen. Alle gingen davon aus, dass der Berufsstart eine örtliche Veränderung und das Führen einer Fernbeziehung erfordern könnte. Lindas Kommilitoninnen fuhren anschließend mit nach Münster, und auch Jan-Claas konnte auf seine alten Freunde zählen, die ihm beim Ausladen in Hannover helfen würden. Die beiden waren nochmals gemeinsam die Räume ihrer alten Wohnung abgegangen, ihrem alten Zuhause. Nun war alles leer.

    Auf der Straße hatten sie sich dann gegenübergestanden.

    „Ich wünsch dir alles Gute", hatte Linda gesagt und ihm in die Augen geschaut.

    „Ich dir auch."

    „Und meld dich, ja?"

    „Klar. Du auch."

    Dann hatten sie sich geküsst. Ein Abschiedskuss.

    Jan-Claas sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, es war ein schöner Tag. Ein Kaffee würde ihm sicher guttun, dachte er sich. Den letzten Schluck Mineralwasser, der noch vom Umzug übrig war, trank er wie ein Verdurstender.

    Er wurde allmählich zu alt für solche Abende.

    Seine Jacke, die er abends zuvor achtlos auf den Boden geworfen hatte, roch nach kaltem Rauch und Fusel. Er zog sie an, vergewisserte sich, dass er Schlüssel und Portemonnaie dabeihatte, und verließ die Wohnung.

    Beim Stamm-Bäcker im Katharinenviertel holte Jan-Claas sich zwei Brötchen, einen Becher Kaffee, Mineralwasser, kaufte eine Zeitung und setzte sich an einen der kleinen Fenstertische am hinteren Ende des Ladens. Er nahm einen großen Schluck Wasser, ehe er sich an die Brötchen wagte. Die Zeitung blätterte er lustlos durch. Noch etwas hatte er in den vergangenen Tagen zu Ende gebracht. Er war gestern mit den ehemaligen Kollegen seiner Referendar-Arbeitsgemeinschaft essen gegangen – der informelle Abschluss nach vielen Jahren der Ausbildung, bevor sie sich nun um Stellen als Rechtsanwälte, Staatsanwälte oder Richter bewerben und früher oder später bekommen würden. Den anschließenden Gang durch die Altstadt hatten noch alle Kollegen mitgemacht. Mit jeder weiteren Kneipe und jeder weiteren Runde von Hochprozentigem wurden es weniger, bis nur noch er und Christian übriggeblieben waren.

    Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten gemeinsam Abitur gemacht und zusammen Tennis gespielt. Mit Christian verband ihn mehr als nur die Juristerei, sie unterhielten sich nicht bloß über die Zirkulationsfähigkeit von Grundpfandrechten oder über die mittelbare Täterschaft im Strafrecht. Am Ende des Abends waren sie rotzbesoffen über den Rathausplatz ins Hegertor-Viertel getaumelt. Die Altstadt hatte sich geleert, und das dünne Licht der Straßenlaternen schien auf die alten Fassaden der historischen Fachwerkhäuser.

    „Sag mal, waren wir eigentlich hier schon mal drin?", hatte Christian gefragt, und Jan-Claas hatte nur den Kopf geschüttelt und fragend auf die verranzte Leuchtreklame geschaut. Auf ausgebleichten Fotos im Glaskasten neben der Eingangstür waren leichtbekleidete Tänzerinnen zu sehen.

    Er hatte sich unwohl gefühlt, war dann aber doch die steile Treppe hinab in den Keller gestiegen. Sie hatten sich an die Theke gesetzt, der Barkeeper hatte zwei lauwarme Flaschen Bier vor ihnen abgestellt. In der Ecke hatte sich eine bestiefelte Dame an einer Metallstange geräkelt.

    Jan-Claas hatte Christian schließlich erzählt, dass er und Linda sich getrennt hätten. Dass er sich nun freue, neu starten zu können. Er wollte auch keine Klausuren mehr schreiben und nicht mehr benotet werden. Er wollte nicht mehr ausschließlich lernen und sich am Wochenende zur Erholung einen Film ansehen. Christian hatte nicht widersprochen.

    Irgendwann waren sie dann allein in der Kneipe, und Christian hatte der Tänzerin zugeflüstert, dass sie mit dem Tanzen aufhören könne. „Arschloch", hatte sie zurückgeraunzt, und fünf Minuten später hatte ihnen der muskelbepackte Türsteher vierzehn Euro für die Biere abgenommen und sie zur Tür gebracht. Dann war er nach Hause getaumelt.

    Jan-Claas ging nach dem Frühstück zurück zur Wohnung. Ein letztes Mal schloss er den Briefkasten auf und fand darin einen braunen Briefumschlag im DIN-A4-Format, der an ihn adressiert war. Es war kein Absender angegeben. Jan-Claas nahm ihn mit in die Wohnung und öffnete ihn. Zu seiner Verwunderung enthielt der Umschlag lediglich zwei alte Aufnahmen. Kein Brief, kein Formular, nichts, nur zwei alte Fotos. Die Farben waren verblichen. Die Fotos zeigten einen Mann auf einem alten Sofa sitzend, er mochte in seinem Alter sein, vermutlich etwas älter, und schien doch einer anderen Zeit zu entstammen. Die Kleidung und die Einrichtung des Zimmers im Hintergrund ließen den Schluss zu, dass die Fotos schon vor Jahrzehnten entstanden sein mussten.

    Jan-Claas stand ratlos in seiner Küche. Weder kannte er die Person, die dort auf den Fotos abgelichtet war, noch konnte er sich vorstellen, wer ihm diese Bilder zugeschickt haben konnte. Die Adresse auf dem Umschlag war handschriftlich aufgeschrieben. Jan-Claas Meierring, stand dort, Straße und Ort stimmten. Eine Briefmarke war säuberlich in die rechte obere Ecke geklebt worden.

    Achtlos packte er die Bilder zurück in den Umschlag und warf ihn in eine der letzten Kisten. Es musste eine Verwechselung vorliegen. Er trug die verbliebenen Kisten in seinen Wagen. Dann ließ er ein letztes Mal die Tür ins Schloss fallen.

    Kapitel 2

    Müden an der Örtze – 26.07.1967

    Kriminalhauptkommissar Arndt von Jaan zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Es war erst halb acht. Er benötigte morgens immer seine Zeit, um in den Tag zu finden. Dann legte er die Zeitung beiseite und hob ab. „Ja?", fragte er unwirsch.

    „Kommissar von Jaan?", fragte die Stimme am anderen Ende.

    „Natürlich, was gibtʼs?"

    „Polizeihauptwachtmeister Martin hier, Polizeidienststelle Faßberg. Wir brauchen Ihre Hilfe."

    „Worum gehts denn?", fragte von Jaan.

    „Wir haben eine Leiche gefunden. Es spricht alles dafür, dass der Mann Opfer eines Gewaltdelikts geworden ist. Sie müssen sich das Opfer mal ansehen. Übel zugerichtet wurde der arme Kerl."

    „Wo wurde sie gefunden?", unterbrach ihn von Jaan.

    „Am Wietzer Berg kurz vor Müden. Kennen Sie sich dort aus?"

    „Ja, ein wenig. Ist das Landeskriminalamt informiert?"

    „Natürlich. Das LKA hat bereits die Spurensicherung losgeschickt. Die müsste bereits auf dem Weg hierher sein. Die Ermittlungen selbst wird das LKA aber nicht übernehmen. Darum soll sich zunächst die Inspektion Celle kümmern."

    Von Jaan rieb sich die Schläfe. Es war also ihr Fall. Viel Arbeit würde auf sie zukommen, so viel stand fest. Seinen Kaffee und seine Tageszeitung konnte er erst mal vergessen. „Danke, sagte er. „Ich melde mich gleich beim LKA und komme dann mit meinem Kollegen rüber. Finde ich Sie bei der Dienststelle oder am Fundort?

    „Wir fahren gleich zurück zum Fundort. Sie fahren am besten direkt zum Besucherparkplatz am Wietzer Berg. Wir haben ihn abgesperrt und einige Plätze für die Einsatzfahrzeuge bereitgestellt."

    „In Ordnung. Bis gleich."

    Von Jaan atmete tief durch. Er rief beim LKA an, ließ sich bestätigen, was Martin ihm ausgerichtet hatte, warf sich sein Jackett über und ging in das benachbarte Büro seines Kollegen Berthold Parick.

    Sie arbeiteten schon lange zusammen. Parick war wie er nicht verheiratet und Frühaufsteher. Auch ihre Büros glichen einander wie ein Ei dem anderen. Ein schwerer Tisch mit einer Metalllampe und einer Schreibunterlage aus Kunststoff, der gleiche Schrank, gefüllt mit mehreren ranzigen Aktenordnern.

    Noch auf dem Flur traf von Jaan auf Parick, mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand. „Morgen, Arndt. Wolltest du mich sprechen?" Er ging an von Jaan vorbei.

    „In der Tat. Gerade kam ein wichtiger Anruf rein. Aus Faßberg."

    „Aus Faßberg?, fragte Parick und setzte sich. „Können das nicht die Kollegen von der Dienststelle erledigen?

    „Vermutlich nicht. Es geht möglicherweise um ein Tötungsdelikt. Ein Mann ist dort erschlagen aufgefunden worden. In einem Waldstück in Müden."

    „Ach, du liebe Güte, antwortete Parick. Er schaute auf seinen Kaffee. „Dann wird es wohl nichts mit Frühstück.

    „Ich fürchte nicht."

    „Prima, entgegnete Parick ironisch. „Dann nichts wie los. Er trank noch schnell einen Schluck Kaffee, der noch viel zu heiß war, verzog das Gesicht und folgte von Jaan zum Dienstfahrzeug.

    Als sie eine halbe Stunde später den Besucherparkplatz am Wietzer Berg erreichten, war alles so, wie es ihnen Polizeihauptwachtmeister Martin beschrieben hatte. Der Parkplatz war abgesperrt, nur die Einsatzfahrzeuge der Polizei standen am unteren Ende. Eine

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