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In der Mitte des Tages: Starnberg Krimi
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eBook262 Seiten2 Stunden

In der Mitte des Tages: Starnberg Krimi

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Über dieses E-Book

Bei einem Selbstmordattentat auf dem Münchner Viktualienmarkt entkommt Kommissar Maximilian Wagner knapp dem Tod, da folgt bereits der nächste Anschlag: Das Gipfelkreuz auf der Zugspitze ist gesprengt worden. Anders als Wagner und die Terroristenexperten der Sicherheitsbehörden vermutet Staatssekretär Steinhart bei einem geheimen Treffen einen weiteren islamistischen Terroranschlag. Ein Agent des russischen Auslandsgeheimdienstes bespitzelt diese Zusammenkunft in der Villa des Staatssekretärs am Starnberger See. Daraufhin schmiedet Oberst Maximow in Moskau einen teuflischen Plan, der geeignet ist, die Politik in Deutschland zu verändern.

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum9. Feb. 2018
ISBN9783961521401
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    Buchvorschau

    In der Mitte des Tages - Günter Reiß

    1

    Weiß-blau leuchtete der Himmel über München, und an jenem ersten Samstag im August war der Viktualienmarkt voller Menschen. Darunter Schwärme von Touristen, die nichts kauften, nur schauten, aber mit ihren Handys alles filmten und knipsten, was sie für typisch münchnerisch hielten: die feschen Marktfrauen, die bunte Dirndl trugen, die zwei kräftigen Burschen in Tracht, die beide ihre Bäuche wie Bierfässer vor sich hertrugen, die tellergroßen Brezen, den Biergarten und natürlich auch den bereits millionenfach aufgenommenen Karl-Valentin-Brunnen.

    Maximilian Wagner, in Jeans und in einem grünen T-Shirt, hatte plötzlich den Verdacht, dass auch er ins Visier dieser filmwütigen Touris geraten war. Seinen Augen glaubte er nicht zu trauen, als er sich kurz umdrehte, und musste schmunzeln. Beim Marktstand, wo er immer die Pilze einzukaufen pflegte, wo er gerade für das Abendessen Steinpilze aussuchte, waren zwei Smartphones auf ihn gerichtet. Es waren Chinesinnen in knappen Shorts, zwei zierliche, bildhübsche Mädchen, die amüsiert kicherten, während sie filmten, wie er einem Sternekoch gleich beim Einkauf jeden einzelnen Pilz anfasste, als berührte er zärtlich eine Frau, wie er den unverwechselbaren Duft in die Nase zog, als bereitete ihm dies höchste Glücksgefühle, wie er die Pilze dann abwiegen ließ und behutsam in seinen Einkaufskorb legte.

    Es war noch nicht Mittag, als Maximilian Wagner seine Einkaufstour beendet hatte, weit früher als sonst. In seinem Korb lagen fast zwei Pfund Steinpilze, ein Bund Petersilie, ein Becher Sahne, Zwiebeln, eine Schale Himbeeren und für seine Frau Gabriele (von ihm nur Gabi genannt) ein Topf mit einer weißen Orchidee, dreistämmig und mit himmelblauem Seidenpapier verhüllt.

    Nun, fast schon eine Gewohnheit von ihm, bevor er nach Hause ging, wollte er noch in aller Ruhe Brotzeit machen, wie immer bei derselben Wirtschaft einkehren und wie immer dasselbe bestellen: drei Weißwürste mit einer doppelten Portion süßem Senf, dazu zwei kleine Brezen und ein Weißbier. Eigentlich wie üblich, diesmal nur vor dem Mittagsläuten. Wenn es an diesem Tag bereits kurz vor zwölf war, dann nicht deshalb, weil er an den Spruch glaubte, Weißwürste sollten nicht das Mittagsläuten der Kirchenglocken hören. Es war einfach nur Zufall, sonst nichts.

    Eben hatte er sich an einen freien Tisch an der Hauswand des Wirtshauses „Zum Steirer am Markt gesetzt, als ihn das Dröhnen eines Motors aufhorchen ließ. „Hams denn den ins Hirn gschissn, entfuhr es ihm leise. Er blickte kopfschüttelnd nach links, sah aber nichts. Dann verstummte der Höllenlärm. Einzig das gedämpfte Stimmengewirr der Marktbesucher drang jetzt zu ihm.

    Seine Laune hatte sich gerade gebessert, das Bier stand inzwischen auf dem Tisch, da hörte er wieder, wie ein Motor aufheulte. Diesmal klang es so, als wollte sich jemand einen Spaß daraus machen, mit dem Lärm die sonst stille Westenrieder Straße zu füllen. „Der hat doch echt eine Meise, schimpfte Wagner verärgert. „Einfach nur rücksichtslos, dieses vollgeschissene …

    Er konnte seinen derben Fluch nicht beenden, denn genau in diesem Moment sah er, wie links von ihm, völlig unerwartet, keine hundert Meter von ihm entfernt, aus der Westenrieder Straße kommend, ein grüner Kastenwagen auftauchte und langsam in Richtung des Marktes fuhr. „Mein Gott, der wird doch nicht …, murmelte er, während er den Wagen beobachtete. „Oder doch? Irgendetwas Drohendes hatte dieser tonnenschwere Kleintransporter, irgendetwas, das Wagner beunruhigte. Auf einmal spürte er, wie ihn das seltsame Gefühl beschlich, dass etwas Schreckliches passieren könnte. Aber nur ein paar Sekunden lang. Warum eigentlich, fragte er sich. Mitten am Tag auf dem Viktualienmarkt? Ohne irgendeine Terrorwarnung? Was sollte da schon passieren? Niemals, dachte er. Wahrscheinlich bin ich gerade nur von dieser diffusen, ja manchmal hysterischen Angst ergriffen worden, die sich wie Gift in die Köpfe der Menschen eingeschlichen hat.

    „Was für Ängste", sagte Wagner, trank den ersten Schluck und gab sich seinen Gedanken hin. Immer rechnete man mit dem Schlimmsten, nie, dass alles auch ganz anders sein könnte. Fuhr jemand in einem Kastenwagen mit getönten Scheiben langsam durch eine Vorstadtstraße, hielt man ihn schon für einen Terroristen oder für einen Kinderschänder, zumindest für einen, der den nächsten Einbruch ausspähte. Und deshalb sicherten sie dort ihre Häuser und Wohnungen wie Gefängnisse. Und wenn ein junger Mann eine dunkle Gesichtsfarbe hatte und ein zotteliger Vollbart sein Gesicht verdeckte, und er dazu noch einen Kaftan trug, war sowieso alles klar. Flugs verdächtigte man, dass er ein fanatischer Muslim, ja sogar ein potentieller Attentäter sein müsse. Ständig fragte man sich, ob die fast täglichen Terroranschläge in der Welt jemals enden würden.

    Warum eigentlich? Warum, fragte sich Wagner, da doch die tägliche Fahrt zum Büro weit gefährlicher ist als hier in einer Wirtschaft zu sitzen.

    Dazu kamen die Flüchtlingsströme, die täglich wachsende Befürchtung, alles könnte sich dadurch verändern – und auch die besorgten Fragen, warum um Himmels willen gerade bei uns, auf unsere Kosten? Aber, was eigentlich weit schlimmer war: Millionen waren nur deshalb auf der Flucht, weil sie aus Todesangst ihre Heimat verlassen mussten, um ihr Leben zu retten. Was für eine Welt, dachte Wagner. Trotzdem. In ein paar Jahren, wenn auch das Klima die Menschen zu Flüchtenden machte, würde jeder das Leben herbeisehnen, so wie es gerade war. Auch würde dann jeder von der guten alten Zeit reden. In Afrika schnürten bereits jetzt Millionen ihre Bündel ...

    Noch während Wagner so sinnierte, sah er die Aufschrift auf dem grünen Kastenwagen. „Blumen- und Gartencenter FISCHER", las er und beobachtete, wie das Fahrzeug weiter im Schritttempo durch die hin und her drängende Menschenmenge fuhr, sogar anhielt, wenn jemand nach einem Hupton nicht ausweichen wollte. Er musste über sich lächeln. Was hatte er eigentlich erwartet? Einen Selbstmordattentäter? Mitten am Tag auf dem Viktualienmarkt? Nur weil jemand einen Motor zweimal aufjaulen ließ. Ihm war, als ob ihn noch vor wenigen Sekunden die Angst genarrt hatte. Eigentlich ein Witz. In Wirklichkeit nähert sich doch nur ein Lieferwagen, der zu dem Gartengeschäft auf dem Viktualienmarkt oder zu einem der vielen Blumenständen fährt. Was denn sonst, dachte er und nahm den zweiten Schluck. Oder hatte ihm die Angst doch keinen Streich gespielt? Blödsinn, dachte Wagner und gleichzeitig: Obwohl, nichts ist heute gewiss, selbst ein Anschlag auf dem Viktualienmarkt nicht.

    Er stellte das Bierglas ab. Um ganz sicherzugehen, sollte ich das Fahrzeug anhalten, mich als Polizisten vorstellen und dem Fahrer meinen Dienstausweis zeigen. Andererseits: Was soll’s? Das Bier würde warm werden, nur weil er geglaubt hatte, als übereifriger Polizist einschreiten zu müssen. Und ihm wäre es anschließend rätselhaft, warum er sich zu einem solchen Blödsinn hatte hinreißen lassen. Vergiss es also, dachte Wagner und winkte die Kellnerin herbei, um die Brotzeit zu bestellen.

    Aber dann röhrte der Motor zum dritten Mal auf. Jetzt beobachtete er, dass der Kastenwagen, dreißig Meter von ihm entfernt, auf einmal beschleunigte, und dann sah er, wie das Fahrzeug scharf nach rechts abbog, direkt in seine Richtung raste, und er wusste: Es war ein Selbstmordattentäter.

    Wagner sprang auf, stieß dabei den Tisch um, zeigte auf den Kastenwagen und schrie: „Hier spricht die Polizei! Ein Terroranschlag! Dort der grüne Kastenwagen! Lauft, lauft! Schneller, schneller!"

    Die Kellnerin, die ihm entgegenkam, schrie auf und ließ das Tablett voller Gläser fallen. Eine mit dem Rücken zum Kastenwagen stehende Person schaute ihn an, als ob ein Happening folgen würde. „Was Polizei? Das ist der beste Witz, den ich je gehört habe", lachte er. Sein Tischnachbar tippte sich nur an die Stirn. Einige blieben wie erstarrt sitzen, aber die meisten sprangen auf und flüchteten panisch in alle Richtungen.

    Wagner hatte in diesem Augenblick nichts sehnlicher gewünscht, als die Dienstwaffe bei sich zu tragen. Hinter der Windschutzscheibe des Lieferwagens sah er den Fahrer. Er war jung und trug einen dichten Vollbart. Sein Mund war weit aufgerissen, und es schien, als ob der Mann ihm etwas zubrüllte. In seinen Augen sah Wagner den glasigen Todesblick und wusste jetzt sicher, dass nicht nur er um sein Leben fürchten musste.

    Er hastete durch die Tischreihen, sprang auf das Trittbrett und versuchte, die Beifahrertür aufzureißen, was ihm aber nur ein Stück weit gelang. Währenddessen raste der Fahrer weiter, fuhr über die vorderen Stühle, um ihn an den Tischen abzustreifen. Die ersten Todesschreie waren zu hören. Um Wagner endgültig abzuschütteln, lenkte der Mann das Fahrzeug plötzlich scharf nach links, Reifen quietschten, der Lieferwagen drohte umzukippen. Die Beifahrertür öffnete sich bis zum Anschlag. Wagner hing eine Weile quer in der Luft, klammerte sich am Griff fest, doch er konnte sich nicht mehr halten und wurde auf den Asphalt geschleudert, wo er mit dem Kopf zuerst aufschlug. Er rappelte sich hoch und sah noch, wie der Kastenwagen schlingernd auf die gegenüberliegenden Marktstände zuraste. Dann hörte er den Knall der Detonation, sah den Feuerball und spürte die glutheiße Druckwelle, die ihn erneut auf den Boden schleuderte. Unendlicher Schmerz breitete sich in ihm aus. Das war’s also, dachte er und noch, dass er seine Frau und seinen Sohn nicht mehr wiedersehen würde. „Schade, flüsterte er. „Meine Liebsten. Dann wurde es still und dunkel in ihm.

    2

    Keine zwei Stunden später erfuhr Ministerpräsident Ferdinand Amtmann von dieser Katastrophe. Eigentlich hatte er sich auf ein ruhiges Wochenende gefreut: in seinem Ferienhaus auf dem Land, im Kreis seiner Familie, weit weg von München und der Staatskanzlei, ein gemeinsames Abendessen mit einem von ihm heißgeliebten Schweinsbraten. Und vor allem wollte er wieder einmal seinem Hobby nachgehen und es diesmal seinen drei Enkelkindern zeigen. Dafür hatte er sich eigens eine Lokomotivführermütze gekauft, um bei den Kleinen noch mehr Eindruck zu schinden. Kein Journalist hatte je gesehen, welche pompöse elektrische Spielzeugeisenbahn er in einem der Kellerräume aufgebaut hatte.

    Ärgerlich schüttelte Amtmann den Kopf, als ihn während des Eisenbahnspiels seine Ehefrau Annemarie aufsuchte und mitteilte, er möge doch bitte nach oben kommen. „Ein Anruf aus der Staatskanzlei. Ob das gleich sein müsse, hatte er zurückgefragt. „Ferdi, es scheint wichtig zu sein. Dein Staatssekretär, dieser Steinhart, meinte sogar, es sei äußerst dringend.

    „Na dann", knurrte Amtmann, drehte den Schalter um, vertröstete seine Enkel auf später und ging nach oben.

    Karl Theodor Steinhart war nicht nur sein Staatssekretär. Er war sein engster Vertrauter, sein Chefstratege und Wahlkampfmanager, der ihm vor vier Jahren zur zweiten Amtszeit verholfen hatte. Amtmann führte kein wichtiges Telefonat und traf keine Entscheidung, ohne Steinhart vorher zu fragen oder ohne seine Anwesenheit.

    Über eine abhörsichere Leitung ließ er sich von Steinhart zum Umfang des Terroranschlags, von den eingeleiteten Ermittlungen und vom augenblicklichen Ermittlungsstand unterrichten. Fast eine halbe Stunde lang hörte er zu, stellte Fragen, zuerst fast ungläubig, später dem Gesichtsausdruck nach wie jemand, der mit den Opfern litt und zugleich nur noch Verachtung mit dem Täter hatte. Zwischendurch schloss er die Augen und flüsterte je nach Art der Schilderung: „Oh mein Gott oder: „Nicht zu glauben, manchmal auch: „Dieses Schwein. Besonders interessierte ihn, wie es Kommissar Wagner nach dessen mutiger Tat erging, und wie seiner Frau Gabriele und seinem kleinen Sohn Franz zumute war. „Wirklich, Karl Theodor?, fragte er erleichtert, als Steinhart ihm erzählte, dass der Kommissar nur diese Nacht und die Nacht zum Montag im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben müsse und dann nach Hause entlassen werden könne.

    „Karl Theodor, was soll ich jetzt machen?", fragte Amtmann am Schluss.

    „Ferdinand, keine Frage. Komm sofort nach München in die Staatskanzlei, was sonst. Wir müssen uns beraten und dann eine Entscheidung treffen."

    „Gut, bin ganz deiner Meinung."

    Amtmann erinnerte sich an ein Gespräch mit Steinhart vor einigen Monaten. „Ferdinand, wer sonst wenn nicht du sollte die Terrorbekämpfung zur Chefsache machen, hatte ihm dieser geraten, als die ersten Anschläge in Bayern verübt worden waren. „Dein Land braucht eine starke Hand, und nur du gibst deinen Wählern das Gefühl der Sicherheit zurück. Der Schutz der Bevölkerung muss ab jetzt das absolute Thema Nummer eins sein.

    Keine halbe Stunde später landete ein Hubschrauber neben dem Ferienhaus, und zwanzig Minuten danach saß der Ministerpräsident hinter seinem Schreibtisch in der Parteizentrale, vor sich ein Glas stilles Wasser. Sein Arbeitszimmer spiegelte exakt das Image wider, wie er und seine Partei sich gerne sahen: traditionell und heimatverbunden, aber trotzdem modern und weltoffen. Die Schreibtischplatte und die Sprechanlage waren aus Glas, der Computer, der flache Monitor und die Sitzmöbel schwarz, und an der Wand hingen das Gipfelkreuz der Zugspitze sowie ein Foto von Franz Josef Strauß. Hier im vierten Stock konnte er bis zu den Alpen sehen, und München lag zu seinen Füßen.

    Amtmann seufzte. Will ich wirklich aufhören und nicht mehr kandidieren, fragte er sich. Er wiegte den Kopf. Sinnierend nahm er einen Schluck Wasser. Anders als sein Vorgänger hatte er nicht zulassen wollen, dass ihn das Amt wie das Rauschgift den Junkie mit Haut und Haaren auffraß. Und jetzt? Es ist mein Leben, überlegte er, und je näher der Abschied kommt, desto schwieriger wird es aufzuhören. Aber was wären die Folgen? Mit einem Schlag wäre ich doch nichts mehr und hätte jahrelang Entzugserscheinungen. Und stolz auf mich wären vielleicht nur noch meine Enkel, wenn ich mit ihnen mit der Modelleisenbahn spiele.

    Wieder hörte Amtmann sich leise seufzen. „Warum soll ich eigentlich den Chefsessel räumen und mich mit zwei Amtszeiten begnügen? Weit und breit sehe ich im Augenblick doch niemanden, der mir das Wasser reichen kann. Sicher, Karl Theodor wäre eine Alternative, aber er ist noch jung und soll sich erst einmal die Hörner abstoßen, bevor er mein Amt übernimmt."

    Noch in Gedanken versunken, griff er zum Hörer des schwarzen Telefons. Über eine der vielen abhörsicheren Leitungen wählte er die Nummer seiner Sekretärin. „Frau Karin, stellen Sie bitte in der nächsten Stunde keine Gespräche durch, außer meine Frau möchte mich sprechen", sagte er.

    „Gerne, Herr Präsident."

    „Übrigens, Frau Karin, auch mit meinem Staatssekretär möchte ich diesmal nicht sprechen, selbst wenn er Ihnen sagen sollte, dass es äußerst wichtig sei."

    „In Ordnung, Herr Präsident. Nur Ihre Frau darf ich ab jetzt durchstellen."

    Ferdinand Amtmann wollte in aller Ruhe über die neue Situation nachdenken und sich seine eigenen Gedanken machen. So brutal und verabscheuenswert für ihn der Terroranschlag auf dem Viktualienmarkt auch war, so hatte er für ihn auch was Gutes. Er bot ihm die Chance, etwas zu korrigieren, was eigentlich eine politische Dummheit war, ohne dass er dadurch sein Gesicht verlieren würde.

    Von ganz unten hatte er sich mühevoll hinaufgearbeitet. Wenig wurde ihm von seinen Eltern mitgegeben, was seinen Aufstieg ohne eigene Anstrengungen beschleunigt hätte. Amtmann besaß nur zwei wertvolle Eigenschaften, die ihm in die Wiege gelegt worden waren: eine Bauernschläue, gepaart mit einem gesunden Menschenverstand, und den unerschütterlichen Willen, einmal ganz oben anzukommen. Hilfreich dabei war seine Härte, die er sich in seiner Jugend als Eishockeyspieler in der höchsten Spielklasse aneignen musste, sowie seine Körpergröße von fast zwei Meter, mit der er alle überragte, und an der er alle Angriffe gegen ihn abprallen ließ. Und stolz war er, dass er trotz seiner siebzig Jahre noch keinen Zentimeter geschrumpft war. Wenn die Journalisten und seine politischen Gegner ihn mit einem Halm verglichen, der sich bei Sturm geschmeidig biegt und sich erst wieder aufrichtet, wenn das Schlimmste vorbei ist, so berührte ihn das so wenig wie der Umstand, dass sein volles Haar inzwischen schlohweiß geworden war, weswegen er von Annemarie etwas spöttisch „Der weiße Riese" genannt wurde. Er jedenfalls hatte während seiner langen Laufbahn erfahren, dass ihm diese Geschmeidigkeit weit mehr genützt als geschadet hatte.

    Als Amtmann vor fast neun Jahren Ministerpräsident geworden war, hatte er sich geschworen, sich nicht wie einer seiner Vorgänger so lange wie möglich an das Amt zu krallen. Nein, nur zehn Jahre wollte er Kapitän sein, um nicht wie sein Vorgänger von seinen eigenen Leuten wie ein räudiger Hund verjagt zu werden. Nein, als abgetretene Fußmatte wollte er nicht enden. Auf keinen Fall!

    Der Ministerpräsident leerte in einem Zug das Glas Wasser und stand auf. Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Das hatte er oft getan und vom vierten Stock bis zu den Alpen geschaut, wenn er sich wegen eines Problems Sorgen gemacht hatte. Doch diesmal ließ er seine Blicke nur einige hundert Meter bis zur St. Peter Kirche wandern. Wie friedlich die Stadt unter mir liegt, dachte er. Von hier oben schien es ihm, als ob alles unverändert geblieben war, als ob die Katastrophe nicht wirklich passiert wäre. „Es darf nicht sein, murmelte er vor sich hin. „So eine zauberhafte Stadt darf nicht dem Bösen überlassen werden. Das hatte München schon einmal durch einen verrückten Anstreicher erlebt.

    Amtmann schüttelte langsam den Kopf. Je länger er da stand und überlegte, umso mehr reifte bei ihm der Gedanke, dass der feige Terroranschlag alles verändern könnte, auch sein weiteres Leben. Gab mir diese grausame Tat nicht einen Wink? Die einmalige Chance, etwas zu erreichen, wovon jeder Politiker träumt? Einen ewigen Platz in den Geschichtsbüchern, das wär’s doch. Dazu die Gewissheit, dass sich nicht nur die Enkelkinder an mich erinnern werden.

    Amtmann streckte sich. Ein kleines Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Große Männer zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Meinung von einem Tag zum anderen ändern können, wenn die Umstände es erfordern", sagte er sich. Außerdem, er wusste dies aus seiner Zeit als Eishockeyspieler, könnte dann wie beim Eishockey das letzte Drittel meiner Amtszeit das spannendste und entscheidendste werden.

    Keine zwanzig Minuten später ließ sich Amtmann in seiner schwarzen, kugelsicheren Präsidentenlimousine hinter abgedunkelten Scheiben zum Viktualienmarkt fahren. Zwei seiner lederbekleideten Bodyguards folgten im dichten Abstand und schussbereit auf Motorrädern.

    Dutzende Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten hatten ihre besten Journalisten und Terrorexperten nach München zum Viktualienmarkt gesandt. Auch Hunderte Schaulustige standen bereits um den komplett abgesperrten Markt herum, als Amtmann eintraf. Von seinen Bodyguards und einigen Polizisten wurde für ihn

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