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Schmutziges Gold. Starnberg- und München-Krimi
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eBook285 Seiten3 Stunden

Schmutziges Gold. Starnberg- und München-Krimi

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Über dieses E-Book

„Die Wahrheit ist: Ich bin ein Gen-Zombie geworden.“
Mit diesem Geständnis beendet der Hochleistungssportler Pierre Jaeger seine Karriere. Die Aufdeckung des größten Doping- und Betrugsskandals in der Geschichte der Olympischen Spiele steht kurz bevor. Oberstaatsanwalt Dr. Kettenbach möchte seinen Kronzeugen zwar vorläufig aus der Schusslinie nehmen, doch Jaeger taucht unter und verschwindet spurlos.
Der junge Kommissar Maximilian Wagner macht sich auf die Suche. Durch Zufall erfährt er, dass Jaeger ein Schützling des Sportagenten Boris Vogel ist, der vermutlich Zugang zu einem Dopingring hat. Plötzlich wird ein Jogger am Westufer des Starnberger Sees angeschossen – sollte es Pierre Jaeger sein, der als Verräter ins Visier des Dopingringes geraten ist? Wagner beginnt zu ermitteln und gerät selbst in größte Gefahr.

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum15. Aug. 2016
ISBN9783898419567
Schmutziges Gold. Starnberg- und München-Krimi

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    Buchvorschau

    Schmutziges Gold. Starnberg- und München-Krimi - Günter Reiß

    Kapitel 1

    1

    Kaum hatte ich Charly zum ersten Mal gesehen, da saß ich schon auf dem Hosenboden.

    Irgendwie passte dies zu jenem Sommer, in dem mein Leben durcheinandergewirbelt wurde und ich kein Bein auf die Erde bekam. Da war das mit Charly noch mein kleinstes Problem. Eigentlich kaum erwähnenswert, denn genau genommen lief mir damals nur etwas Blut aus dem Mund. Stinksauer war ich nur deshalb, weil ich als Polizist eine ziemlich komische Figur dabei machte. Wie einen blutigen Anfänger hatte er mich niedergestreckt. Fallobst nennen die Boxer so einen verächtlich. Und warum? Nur weil ich wieder einmal den Helden spielen wollte. Doch andererseits: Heute frage ich mich manchmal, wie meine Geschichte zu Ende gegangen wäre, wenn Charly mich nicht fast k.o. geschlagen hätte.

    Und so fing alles an. Es war an einem jener warmen Sommerabende in München, an denen die Biergärten überfüllt, die Straßencafés brechend voll und die Grillpartys an den Ufern der Isar total angesagt waren. Ich strolchte erst etwas im Glockenbachviertel umher, und später, so gegen halb elf, schlenderte ich zur Isar hinunter. Jenseits des Flusses glühten überall die Holzkohlen in den Grillgeräten, die Rauchwolken waberten wie weiße Schleier dahin, und mir stieg der Duft von gegrilltem Fleisch in die Nase. Schlendernd bog ich auf die Reichenbachbrücke ein. Ich war schon über der Mitte, als plötzlich einzelne Wortfetzen zu mir nach oben flogen. Ich beugte mich über das Geländer. Direkt unter mir standen zwei Männer, laut schreiend und wild gestikulierend. Neugierig geworden, ging ich weiter, stieg am Ende der Brücke die Treppe hinunter, bog zur Isar hin ab, und dann sah ich ihn. Mit einer Bierflasche in der Hand stand er da, nur wenige Schritte von mir entfernt.

    Er war viel jünger als ich, sicher weit unter fünfundzwanzig, vielleicht erst knapp über zwanzig, und mindestens einen halben Kopf größer. Er trug abgewetzte Jeans, und auf der Rückseite seines verwaschenen Sweatshirts sah ich das Logo einer bekannten deutschen Sportartikelfirma. Vor ihm stand ein wendiges Bürschchen mit einem Pfund Gel im Haar, das geringschätzig zu ihm nach oben blickte. Ein Dutzend der Partygäste umringten die beiden. Einige davon deuteten auf Charly, und zwei filmten mit ihren Smartphones die Szene. Ein Wort gab das andere.

    „Ey, Alter, soll ich dir mal was sagen?"

    „Was denn, du Knilch?"

    „Der Alkohol und die Weiber sind inzwischen dein Problem geworden. Das weiß doch hier jeder. Und du warst mal ein ganz Großer, bist sogar einmal ein Vorbild für uns gewesen."

    „Kleiner, du bist ja ein ganz Schlauer. Aber ich verrate dir eins: Hör jetzt gut zu: Du langweilst mich total mit deinem Gequatsche. Und nun mach endlich die Fliege."

    Das Bürschchen lachte frech. „Und wenn du so weitermachst, wirst du bald nur noch ein einziges Problem haben. Oh Mann. Er spreizte den Daumen und den Zeigefinger um wenige Zentimeter. „So klein wirst du dann sein.

    „Du Oberschlauer, jetzt reicht’s. Quatsch keine Scheiße. Zieh endlich Leine, sonst ..."

    „Was sonst, Charly? Ich mach mir schon jetzt in die Hose", grinste der Kleine sein breitestes Lächeln.

    Charlys Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. Er ballte die rechte Faust und holte aus. Wie ein tapsiger Schwergewichtsboxer machte er plötzlich zwei Schritte nach vorne.

    Ich wollte schlichten – ich bin ja als Polizist immer im Dienst – und ging dazwischen. Ich sah noch, wie Charlys Faust nach vorne schnellte, und auch noch, wie das wendige Bürschchen blitzschnell seinen Kopf zur Seite drehte. Dann machte es „Platsch. Charlys Faust krachte gegen mein Kinn, und ich spürte, wie ein stechender Schmerz meinen Kopf durchfuhr. Anschließend sah ich mir selbst zu, wie ich in Zeitlupe rückwärts zu Boden sank, erst mit dem Hintern aufschlug und dann auf dem Rücken zum Liegen kam. Als ich am Boden nach Luft schnappte, beugte sich ein Betrunkener über mich, rülpste, grinste blöd nach unten und begann, mich wie einen Preisboxer auszuzählen. Einer klatschte Beifall, und die zwei mit den Smartphones filmten eifrig weiter. Der Betrunkene war bei „Sieben, als von oben Charlys Stimme kam.

    „Sportsfreund, tut mir echt leid. Wirklich. Hoffentlich ist dir nichts passiert."

    Ich tastete mein Gesicht ab, bewegte zur Kontrolle meine Kiefer hin und her und leckte über meine Lippen. „Alles okay, brummte ich nach oben. „Nichts gebrochen, mir platzt fast der Schädel, die Unterlippe ist geschwollen, und im Mund schmecke ich Blut.

    „Tut mir wirklich leid, wiederholte Charly. „Wenn du willst, geb ich dir meine Versicherung.

    „Nicht nötig, sagte ich. „Ich war doch selbst Schuld. Warum musste ich für euch Deppen den Friedensengel spielen.

    „Bist ein verdammt harter Hund, stimmt’s? meinte Charly grinsend und zog mich mit einer Hand nach oben. „Schätze, du brauchst jetzt sowieso keinen Arzt, sondern ein schnelles, kühles Bier. Stimmt’s?

    Ich wollte ihm antworten, aber in diesem Moment tropfte mir gerade etwas Blut aus dem Mund. Ich betastete mein Kinn und spuckte es in mein Taschentuch.

    „Karl Bauer, sagte er, lächelte und gab mir die Hand. „Du kannst mich aber auch Charly nennen.

    „Maximilian", sagte ich, leckte weiter an meiner Unterlippe.

    Als ich Charly gegenüber stand, sah ich ihn mir zum ersten Mal genauer an. Er wirkte jetzt noch größer. Ich, etwas über mittelgroß, reichte ihm nur bis zur Nasenspitze. Ein selbstbewusstes Lächeln umspielte seine Lippen, als ich ihn betrachtete. Gar keine Frage, er war ein gutaussehender junger Mann, fast noch ein Jüngling, mit einem gepflegten Kurzhaarschnitt und einem Dreitagebart. Er hatte die Statur eines Modellathleten, vorstehende Backenknochen und dunkle Augen. Man hätte ihn glatt mit dem jungen Hugh Jackmann, dem australischen Filmschauspieler und Naturburschen, verwechseln können.

    „Also was ist, Maximilian? fragte Charly. „Trinken wir ein Bier zusammen? Ich würde mich darüber tierisch freuen.

    „Okay, sagte ich noch etwas angeschlagen. „Aber nur eines.

    „Du red’st wohl nicht gerne mit mir. Wenn du wegen vorhin sauer auf mich bist, so kann ich das voll verstehen", meinte Charly. Er sah mich fragend an.

    Ich versuchte zu lächeln, aber dies gelang mir nur halb, und warum ich geantwortet habe: „Charly, das geht schon in Ordnung", das weiß ich bis heute nicht so genau. Er hat mich zusammengeschlagen, und ich war mir sicher, dass ich ihn später nicht noch mal sehen wollte. Es gab also keinen einzigen Grund, warum ich mit Charly ein Bier trinken wollte. Aber damals hatte mich Gabi verlassen. Sie war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, lebte seit vier Wochen wieder bei ihren Eltern in Starnberg, in einem der Mietshäuser hinter der Promenade. Und ich hatte es vermasselt, ich verdammter Narr. Ich war einfach zu oft um die Häuser gezogen, hatte auf zu vielen Hochzeiten getanzt. Wahrscheinlich ließ ich mich von Charly nur deshalb überreden, weil ich eine Weile nicht allein sein wollte und es ein willkommener Anlass war, die Rückkehr in die halbleere Wohnung hinauszuzögern.

    Charly zeigte zur Isar hin und ging voraus. Auf dem Kieselstrand stand eine Kühlbox und daneben eine große Blondine mit einem bezaubernden Lächeln. Ein Prachtexemplar von einer Frau: jung, auf langen Beinen, in bunten Stiefeln und einem engen schwarzen Pullover, der fast nichts verhüllte und noch mehr versprach. Ihr superblondes Haar fiel ihr bis über die Schultern, und als sie meinen Blick streifte, lächelte ich sie an. Sie duftete wie ein blühender Rosengarten im Juli. Doch als wir bei der Kühlbox angekommen waren, schaute sie nur hinreißend zu Charly auf und hängte sich sofort bei ihm unter.

    „Jessica, das ist Maximilian", wurdet ich ihr vorgestellt.

    Ich starrte sie immer noch an, als sich ihre vollen Lippen öffneten und ihre langen Wimpern wie Schmetterlingsflügel flatterten. Doch als sie flötete: „Charly, ist der süß, dein kleiner Freund", und in sich hineinkicherte, fiel mein Interesse so schlagartig zusammen, wie mein Puls zuvor auf hundertachtzig hochgeschnellt war.

    Charly runzelte die Stirn. Die Superblondine kicherte weiter, kroch jetzt fast in ihn hinein. „Jessica, bitte. Charly versuchte sich zu lösen. „Lass uns jetzt alleine. Bitte. Wir beide haben was zu besprechen. Männersache. Ich komme nach. Irgendwann. Ganz bestimmt.

    Da begriff die Blondine endlich. Sie schob die Unterlippe über die Oberlippe und warf mir einen steifen Blick zu. „Aber nicht zu lange", schnaubte sie und stolzierte in Richtung Brückentreppe los. Ich sah ihr nach. Mir warf sie einen giftigen Blick zu, als sie sich noch einmal umdrehte.

    „Sie ist bestimmt stinksauer auf mich", sagte ich zu Charly.

    Er lächelte schwach. „Das ist sie immer, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt." Er holte zwei Flaschen Bier aus der Kühlbox und öffnete sie mit den Zähnen. Noch im Stehen stießen wir mit den Flaschen an, prosteten uns zu und tranken den ersten Schluck. Dann setzten wir uns auf die Kiesel.

    Schräg gegenüber erhob sich der helle Backsteinbau der Kirche St. Maximilian in den nachtblauen Himmel. Zu unseren Füßen floss die Isar rauschend nach Norden. Dort stand der volle Mond über der Stadt.

    „Tja, sagte Charly zur Isar hin und nach einer Weile ganz unvermittelt: „Maximilian, du weißt es vielleicht schon oder auch noch nicht. Ich bin ein Berufssportler, sonst kann ich nichts. Und womit mich vorhin das Bürschchen ärgern wollte, ist nicht ganz falsch. In letzter Zeit läuft es bei mir einfach nicht mehr so richtig, und ich kann eigentlich nur hoffen, dass es bald wieder aufwärts geht. Daraufhin drehte er den Kopf zu mir, grinste mich an. „Nur mit den Frauen läuft es noch bestens."

    Ich sagte nichts. Ich saß nur da, hielt die Bierflasche mit beiden Händen fest und nahm einen weiteren Schluck.

    „Und was machst du so?" fragte Charly.

    „Ich bin Polizist."

    „Und sonst?"

    „Wenn ich Zeit habe, surfe ich manchmal auf dem Starnberger See."

    „Hast du wenigstens eine Freundin?"

    „Im Augenblick nicht."

    „Ein unbeweibter Bulle und ein Stehsegler bist du also, kommentierte Charly meine Kurzbiografie, grinste etwas mitleidig und spöttelte: „Keine Yacht, kein Geld, keine Frau, bist also eine arme Sau. Dann wird es für dich auch verdammt eng werden, eine Klassefrau an Land zu ziehen. Nur mit deinem Gesicht des ewigen Buben allein läuft so was nicht.

    Ich fing langsam an, mich zu amüsieren. Dass es mir vor Jahren gelungen war, da war ich sogar noch jünger als er, mit dem Surfbrett den Doppelloop zu stehen, einen in der Szene viel bewunderten Sprung mit zwei Überschlägen, dass ich mir damals an den Stränden Südeuropas die Beachgirls hätte aussuchen können, das hätte ich Charly erzählen können. Und nicht nur das. Ich hätte ihm noch mitteilen können, dass ich mit meinen einunddreißig Jahren bereits Kriminalhauptkommissar war, dass mir nur wenige Schritte von hier entfernt eine nicht ganz billige Maisonette-Wohnung gehörte, dass ich dort bis vor kurzem mit der bezaubernsten Frau der Welt zusammengelebt hatte, und dass Gabi einst das süßeste Beachgirl am Gardasee gewesen war. Aber das hätte Charly nicht wirklich interessiert. Er war mir deshalb nicht unsympathisch, aber neben mir saß wieder einmal einer, der nicht zuhören und erst recht kein Gespräch führen wollte. Charly interessierte sich nur für seine eigene Geschichte, und ich sollte den Zuhörer spielen.

    „Maximilian, du musst wissen, ich bin ein Leichtathlet, ein 400-Meter-Läufer, fing er an. „Ein sehr guter sogar, wie mir alle immer wieder bestätigt haben. Bevor man mich mit zehn Jahren entdeckt hatte, war ich schon in der Schule der Schnellste. Ich wurde auch in der Schüler- und Jugendklasse der Beste, blieb ungeschlagen und lief einen Schüler- und Jugendrekord nach dem anderen.

    „Interessant", sagte ich, glaubte ihm aber nicht so recht.

    „Wirklich, sagte Charly und erzählte weiter. „Man hat mich sogar für den talentiertesten 400-Meter-Läufer Deutschlands seit 1960 gehalten, als Carl Kaufmann bei den Olympischen Spielen in Rom nur ganz knapp die Goldmedaille verfehlt hatte und als erster Deutscher eine Zeit unter fünfundvierzig Sekunden gelaufen war. Wirklich. Kennst du den etwa nicht?

    Ich schüttelte den Kopf.

    „Na ja, kannst ihn ja auch nicht kennen, bist ja nur ein Stehsegler. Nur so viel noch: Charly Kaufmann war außerdem ein Schlagersänger, der Liebling der Frauen, und man nannte ihn auch ‚Bel Ami der Aschenbahn‘."

    „Bemerkenswert, also ein Multitalent", war alles, was mir dazu einfiel.

    „Maximilian, du denkst jetzt bestimmt, ich gebe nur an, wenn ich in seine Fußstapfen treten möchte."

    Ich zuckte mit den Achseln, ohne ihm zu antworten, aber meinem Gesicht musste man angesehen haben, was ich von seinem Gerede hielt.

    „Mag sein, dass ich mich im Augenblick damit überschätze. Aber dir will ich es verraten. Ich möchte sogar noch schneller werden und schon bei den nächsten Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zumindest auf dem Treppchen stehen. Irgendwann will ich Weltmeister und später sogar Olympiasieger werden. Wegen meines Vorbilds nehme ich seit einigen Wochen sogar Gesangsunterricht. Wirklich."

    Jetzt hätte ich ihm vielleicht folgendes sagen sollen: „Charly, ich verstehe deine Träume. Sehr gut sogar. Ich selbst habe mir meinen erfüllt, als ich vor über zehn Jahren den Doppelloop gestanden habe. Ich weiß also, wie man von diesem kurzen Moment überwältigt ist, wie man kein Wort für den Zauber der erfüllten Sehnsucht findet, wie man noch nach Jahren von diesen kurzen Sekunden ergriffen wird. Aber im Sport reicht das Talent allein leider nicht aus, um sich diesen Traum zu erfüllen. Wenn man auf dem Weg nach oben fast angekommen ist und dann die letzten Schritte vor einem liegen, die letzten wenigen Prozentpunkte, die allein über Geld und Ruhm entscheiden, dann musst du bereit sein, dafür dein Leben aufzugeben. Der Aufstieg auf den Mount Everest ist dagegen wie ein Spaziergang am Sonntagnachmittag."

    Rückschauend hätte ich ihn vielleicht sogar warnen müssen: „Ich bin bei der Kriminalpolizei München für die Drogen- und Dopingbekämpfung zuständig. Ich weiß also, wovon ich spreche. Da nur wenige Prozentpunkte über Geld und Ruhm entscheiden, ist es natürlich verlockend, für den letzten Schritt Dopingmittel zu nehmen. Wenn es dir was sagt, Charly, das Dopen ist so verführerisch und zugleich heimtückisch wie der Gesang der Sirenen, vor denen sich selbst Odysseus praktisch nur dadurch retten konnte, indem er sich an den Mast seines Schiffes festbinden ließ. Niemand wird dich aber aufklären, dass gesundheitliche Schäden und sogar der Tod die Folgen sein können, denn dies wäre nur leistungshemmend. Niemand wird dich warnen, dass auf dem Weg nach ganz oben die Gefahr des Absturzes fast vorprogrammiert ist. Wenn du aber den Gipfel nicht erreichst, wird erst deine Illusion zerstört, dann wirst du wie faules Obst aussortiert, und am Schluss bleiben oft nur das Mitleid der anderen und die eigene Bitterkeit zurück. Wenn du so weit gesunken bist, wenn du vielleicht glauben musst, deine Träume sind durch Dopingbetrüger gestohlen worden, wenn dich der Hass verzehrt, dann schlage nicht wie vorhin zu."

    Aber was hätte dies genützt? Charly hätte mir an diesem Abend nicht einmal zugehört. Und wenn doch, dann hätte er es mir bestimmt nicht geglaubt. Er gehörte halt zu den Typen, für die das Wort Gesprächspartner nur ein Fremdwort war. Und warum hätte ich ihm seine Illusion rauben sollen? Er hatte doch eine kleine Chance. Abgesehen davon, ging mich Charlys Leben damals wirklich nichts an.

    „Jeder hat seine Chance, wenn er den Erfolg unbedingt will", sagte ich nur und hörte ihm weiter zu.

    „Maximilian, wirklich. Ich war einmal mit Abstand der Talentierteste. Nur im Augenblick stagnieren meine Leistungen, gehen sogar etwas zurück. Ein anderer versucht mich zu überholen, Sponsoren springen schon ab, und die Presse nimmt kaum mehr Notiz von mir. Es ist wie verflixt."

    „Wovon lebst du dann?"

    Charly schaute mich an, lächelte etwas gequält und zuckte mit den Achseln. „Im Augenblick von Jessica und die von ihren stinkreichen Eltern. So läuft das in ihren Kreisen. Jessi spielt etwas Golf, geht viel shoppen, schick essen, raucht ihren Joint, und ab und zu braucht sie mich, und ich brauche ihr Geld."

    „Interessant", sagte ich.

    „Scheiße ist das, meinte Charly. „Hoffentlich habe ich sie bald vom Hals.

    Plötzlich wurde Charly nachdenklich. Er war einen Moment still. Wir beide nahmen einen Schluck aus der Flasche, schauten über die Isar hinweg. Dann zeigte er ein trauriges Lächeln.

    „Ich hatte einmal ein Mädchen, eine Klassefrau, sagte er leise vor sich hin, während er weiter in die Ferne blickte. „Es war die große Liebe zwischen Candy und mir, aber ein anderer hat sie mir weggeschnappt. Charly schüttelte den Kopf. „Einfach so hat er sie mir genommen." Ich wartete ab, stellte keine Fragen. Er blieb diesmal lange still.

    „Oh Mann, war das eine dreckige Geschichte", seufzte Charly plötzlich.

    Wenn ich gewollte hätte, so hätte ich in diesem Moment alles von ihm erfahren. Aber die dreckige Geschichte ging mich wirklich nichts an. Außerdem hatte ich selbst meine Sorgen, und um einen anderen von seiner Seelenqual zu befreien, dazu hatte ich damals einfach keinen Bock. Ich sah ihn aufmerksam von der Seite an, in seine dunklen, traurigen Augen, wartete ab, aber Charly setzte seine Geschichte nicht fort. Plötzlich tat er mir leid, wie er so vollkommen ruhig dasaß, ins Leere starrte und an sein Mädchen dachte. Ich wusste nicht, wie ich ihn jetzt trösten konnte, obgleich ich mehr als nur ahnte: Eine tiefe Verletzung war in ihm aufgebrochen. Ich musste jetzt an Gabi denken und daran, ob bei ihr vielleicht ein anderer Mann im Spiel sein könnte. Schon der Gedanke daran gab mir einen heftigen Stich.

    Einige Zeit verging. Plötzlich schaute mir Charly mitten ins Gesicht. „Maximilian, kennst du den Pierre Jaeger?"

    „Nein. Warum? Muss ich den kennen?"

    „Er ist mein größter Konkurrent."

    „Also kein Freund von dir."

    „So kann man es nennen", sagte Charly noch, bevor er sich abwandte und wieder vor sich hinstarrte.

    Ich wollte ihn nicht ausfragen. Aber es fehlte nicht viel, und ich hätte es getan. So verging eine lange Zeit. Heute bin ich mir sicher, Charly hätte mir damals auch alles über Pierre Jaeger erzählt, wenn ich ihn gefragt hätte. Nachträglich gesehen, war es wahrscheinlich ein Riesenfehler.

    „Maximilian, du erfährst es als Erster, sagte Charly ganz plötzlich mit leiser Stimme. Er sah mir wieder ins Gesicht. „Ich habe doch noch eine gute Chance. Ab morgen trinke ich keinen Schluck Alkohol mehr, werde nur noch trainieren wie ein Verrückter und meine Essgewohnheiten umstellen. Und mit Jessica werde ich so schnell wie möglich Schluss machen. Bald werde ich wieder der Schnellste sein.

    „Warum das?"

    „Kennst du den Boris Vogel?"

    „Ja, etwas", antwortete ich ausweichend.

    Charly berichtete fünf Minuten lang ausführlich, warum er an Vogel glaubte. Er beschrieb Vogel als einen dynamischen, knapp dreißig Jahre alten Mann, der vor allem junge Sportler vermarktet, die am Anfang einer erfolgreichen Karriere stehen. Jaeger gehöre zum Beispiel zu seinen Schützlingen. Vogel betreibe zwar eine erst im Aufbau befindende Sportagentur, könne ihm aber trotzdem die besten Trainer, die besten medizinischen Betreuer und die besten Trainingsmethoden bieten. Sogar eine Mentaltrainerin werde sich um ihn kümmern. Vogel habe ihm auch versprochen, bei den nächsten Olympischen Spielen um die Goldmedaille mitlaufen zu können. Zum Schluss meinte Charly, Vogel sei genau der Typ von einem Agenten, den er sich schon immer gewünscht habe: ein Erfolgsmensch mit besten Beziehungen und mit einem noblen Büro samt einer schwarzen Stretchlimousine.

    „Klingt echt gut, sagte ich zu Charly, nachdem er von seinem letzten Hoffnungsträger berichtet hatte. Aber ich war nicht ehrlich. Ich wusste eine Menge über Boris Vogel, nicht nur das, was mir Charly erzählt hatte, und ich vermutete sogar noch mehr. Ich observierte Vogel, weil er vermutlich Zugang zu einem Netzwerk international operierender Dopinghändler hatte. Wie sein Vater, ein ehemaliger Waffenhändler, war er so undurchsichtig wie der „Irrgarten auf dem Oktoberfest, in dem viele Spiegelgänge vom Eingang weg scheinbar zum Ausgang weisen, aber regelmäßig in einer Sackgasse enden.

    Während ich über Charly nachdachte, kam es mir vor, als ob seine Träume wie bunte Luftballons in den nachtblauen Himmel stiegen. Ich wusste nicht, wohin ihre Reise ging, aber etwas sagte mir: Charly war der Typ Mensch, der wie die Luftballons nicht ganz oben ankommen würde. Er geriet einfach immer an die falschen Leute. Aber verdammt, was hätte ich für ihn tun können? Er war halt nur eine Zufallsbekanntschaft, und ich war an diesem Abend selbst deprimiert.

    2

    Es war nach Mitternacht, als wir auseinandergingen. „Weißt was, sagte Charly beim Abschied, „du bist ein prima Kumpel, ein echt guter Typ. Merci dir, dass du mir zugehört hast. Ciao, Max.

    Ich gab ihm die Hand. „Servus, Charly." Doch ich hatte damals keine Sekunde lang geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde. Warum auch. Wie zwei sich im Wind berührende Blätter, so kam es mir mit uns beiden vor.

    Ich ging zu Fuß nach Hause. Nach ein paar Minuten, ich war in der stillen Baaderstraße, hatten mich meine Sorgen schon wieder eingeholt. Ich fühlte mich saumäßig. Keiner wartete auf mich. Bis vor vier Wochen lebte Gabi mit mir zusammen. Sie heißt eigentlich Gabriele, aber ich hatte sie natürlich schon immer Gabi genannt, so wie sie auch von ihren Freundinnen und Freunden genannt wurde. Nur ihr Vater rief sie Gabriele, mit einem rollenden „r und einem gedehnten „e in der Mitte. Sie hatte

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