Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Brücken der Hoffnung: Ein Leben nach Auschwitz
Brücken der Hoffnung: Ein Leben nach Auschwitz
Brücken der Hoffnung: Ein Leben nach Auschwitz
eBook301 Seiten3 Stunden

Brücken der Hoffnung: Ein Leben nach Auschwitz

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager finden Elli, ihre Mutter und ihr Bruder ihr Haus geplündert und zerstört. Die ehemaligen Nachbarn sind zurückhaltend – überhaupt wird ihr schnell bewusst, dass das Ende des Krieges nicht gleichbedeutend ist mit dem Ende des Antisemitismus. In den sechs Jahren, die sie auf ihr Visum für die USA warten muss, unterrichtet sie und riskiert ihr Leben, indem sie Flüchtlingen hilft, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs und nach Palästina zu gelangen.
Wie viel Freiheit bedeutete die Befreiung aus Dachau? In dieser Fortsetzung ihrer Memoiren berichtet die heute 87-jährige Livia Bitton-Jackson von den Schwierigkeiten der Jahre nach dem Krieg.
Antisemitismus und Vorbehalte gegenüber Fremden waren nach wie vor an der Tagesordnung. Ein unverzichtbares Zeugnis für unsere Zeit! Verfasst von einer der letzten Überlebenden des Holocaust.

• Deutsche Erstausgabe!
• Erschütternde Schilderung einer der letzten Überlebenden des Holocaust.
• Zweiter Teil der bewegenden Autobiografie einer faszinierenden Frau.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Urachhaus
Erscheinungsdatum10. Okt. 2018
ISBN9783825161910
Brücken der Hoffnung: Ein Leben nach Auschwitz

Mehr von Livia Bitton Jackson lesen

Ähnlich wie Brücken der Hoffnung

Ähnliche E-Books

Biografien – Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Brücken der Hoffnung

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Brücken der Hoffnung - Livia Bitton-Jackson

    können.

    Heimkehr

    Šamorín, Juni–Juli 1945

    Wir sind wieder zu Hause.

    Der Bauer, auf dessen Karren wir mitgefahren sind, setzt uns – meine Mutter, meinen Bruder und mich – direkt vor unserem Haus ab, vor unserem Heim, aus dem man uns vor über einem Jahr deportiert hat. Das Haus steht noch immer auf derselben kleinen Anhöhe, auf der es sich seit einem halben Jahrhundert befindet. Wie gewohnt duckt es sich bescheiden in den Schatten der riesigen Akazie. Aber es leuchtet nicht mehr gelb. Die Farbe ist ausgebleicht und mit grauen Flecken übersät. Und es gibt keine Fenster mehr. Jemand hat sie aus den Angeln gehoben.

    Vor etwas über einem Jahr wurden wir brutal aus dem Schoß unserer Heimat gerissen, und jetzt schaut uns das Gebäude mit dem leeren Blick einer verrückten alten Frau an, verständnislos und abweisend.

    Wir halten den Atem an und gehen auf unser geliebtes Haus zu. Einer nach dem anderen bewegen wir uns durch die Spinnweben der Zeit, über den kleinen Hof und hinein in die große Küche, den weiträumigen Salon. Die Zimmer sind leer … Möbel, Geschirr, Alltagsgegenstände, Vorhänge und Teppiche sind verschwunden. Sogar die Pumpe an der Wasserstelle ist nicht mehr da.

    Dafür gibt es in jedem Raum ein Häufchen menschlicher Ausscheidungen.

    Unsere Heimatburg ist jetzt ein kahles Gerippe ohne jede Würde. Eine leere Hülle, der die Seele geraubt wurde.

    Wer hat das getan? Wer hat uns unser Zuhause genommen?

    Und wo ist Vati?

    »Der wohnt sicher irgendwo anders«, versichert uns Mami. »Wie sollte er denn hier leben?«

    Wie sollte überhaupt jemand hier leben?

    »Stroh!«, ruft Mami fröhlich. »Lasst uns Stroh von den Nachbarn holen. Das wird gehen. Darauf können wir schlafen.« Mami ist wieder in ihrem Element.

    Unsere direkten Nachbarn, die Familien Botlós und Plutzer, erschüttert unser Anblick genauso wie die Mérys am Ende der Straße. Sind wir womöglich Geister, die von den Toten zurückgekehrt sind? Sie schlagen die Hände vors Gesicht und schütteln fassungslos den Kopf. Sie sind so schockiert, dass sich ihre Ausrufe nach und nach in Schreie des Entsetzens verwandeln.

    »Jesus Maria! Frau Friedmann?! Sind Sie das?«

    »Elli?! Bist du das?«

    »Oh, heiliger Jesus! Und der hier soll der junge Herr Friedmann sein?!«

    »Sie sind wieder da! Ich kann es kaum glauben. Wir dachten, dass … dass von dort niemand zurückkommt!«

    »Mein Gott, wie anders Sie aussehen! Sie sind ja nicht wiederzuerkennen!«

    »Wie abgemagert Sie sind! Nicht zu fassen, dass Sie das sind!«

    »Was haben die bloß mit Ihnen gemacht?«

    »Elli, was haben sie mit deinen Haaren angestellt, deinen wunderschönen Haaren? Was ist mit den langen Zöpfen passiert? Warum sind deine Haare so kurz?«

    »Wo ist Herr Friedmann?«

    »Und Frau Serena? Und all die anderen?«

    »Ist die ganze Familie zurückgekehrt?«

    »Sind alle so … nur Haut und Knochen? So verändert?«

    Frau Plutzer gibt uns einen Ballen Stroh, einen Krug Milch und ein Körbchen voller Eier. Frau Méry bringt einen Besen, damit wir den Boden fegen können. Frau Botlós schleppt Schüsseln mit Obst und Gemüse heran. Herr Botlós bringt Holzbretter und nagelt damit die Fenster zu. Von anderen bekommen wir einen Sack Kartoffeln und Feuerholz, und das Haus erwacht wieder zum Leben.

    Vati wird staunen, wie schnell wir es wieder bewohnbar gemacht haben. Bubi, mein Bruder, hat Schmerzen in seinem verletzten Bein, deshalb sagt meine Mutter, er solle sich auf dem Stroh ausstrecken. Stattdessen geht er ins Dorf, um Vati zu suchen.

    Einige der jüngeren Männer und Frauen sind zurückgekehrt. Offiziell heißen wir »Repatriierte«, also Deportierte, die wieder heimgefunden haben. Manche Häuser sind mittlerweile unbewohnbar, deshalb finden ihre Besitzer Unterschlupf in einem verlassenen Gebäude, welches die Regierung extra für die Heimkehrer bereitgestellt hat. Vati ist nicht unter ihnen.

    Nach und nach treffen immer mehr Überlebende ein. Aber keine Spur von Vati. Wo kann er nur sein? Warum braucht er so lang?

    Wir sind schon ganze zwei Wochen wieder daheim, als wir endlich etwas von ihm hören. Neuankömmlinge haben ihn in Österreich gesehen, und zwar in Begleitung eines gewissen Herrn Weiss, der in einem vierzehn Kilometer entfernten Dorf wohnt. Gott sei Dank – in ein oder zwei Tagen wird er bei uns sein!

    Nachdem eine weitere Woche vergeblichen Wartens verstrichen ist, kann Bubi im Lieferwagen eines Viehhändlers mit in das Dorf von Herrn Weiss fahren, um sich nach Vati zu erkundigen. Ich will auch mit, aber Mami hat viel zu viel Angst, dass sich in der Gegend russische Soldaten herumtreiben. Es kursieren allerhand Gerüchte von Vergewaltigungen und Raubüberfällen durch unsere sowjetischen Besatzer.

    »Für dich als Mädchen ist so ein Ausflug viel zu gefährlich«, sagt Mami entschieden. »Besser, du bleibst hier bei mir. Du musst einfach geduldig sein und warten, bis wir etwas von Vati hören. Heute Abend ist Bubi wieder da. Du und ich, wir warten hier gemeinsam.«

    Eine Stunde später kommt Bubi wieder zur Tür herein, weiß wie eine Wand. Als ich ihn ansehe, schließen sich eiskalte Finger um mein Herz und bringen es zum Stillstand. Kaum hörbar fragt Mami: »Bubi, was ist passiert?«

    »Ich bin gar nicht erst gefahren. Der Viehhändler hat es mir gesagt.«

    Die Zeit bleibt stehen. In vollkommener Stille beginnt die Welt sich so schnell um mich zu drehen, dass ich mich an der Lehne von Mamis Stuhl festhalten muss. Von irgendwo aus der Leere dringt Bubis Stimme zu mir: »Vati wird nicht nach Hause kommen. Er ist zwei Wochen vor der Befreiung in Bergen-Belsen gestorben …«

    Mein Aufschrei klingt wie das Jaulen eines verwundeten Tieres. Ich laufe hinaus ins Freie. Bubi kommt hinter mir her und führt mich vorsichtig zurück in die Küche.

    »Elli, ich muss einen Riss in dein Kleid machen«, sagt er, und die Trauer in seiner Stimme zerrt schmerzhaft an meiner Wunde. »Und dann werden wir eine Stunde lang Shiwa sitzen. So ist die Vorschrift. Wenn die Todesnachricht erst nach der dreißigtägigen Trauerperiode eintrifft, sitzt die Familie nur eine Stunde Shiwa, anstatt wie sonst eine ganze Woche. Vati ist im April gestorben, und jetzt haben wir schon Juli.«

    Ich heule weiter, während Bubi mein Kleid am Kragen einreißt. Dann drückt er mich vorsichtig zu Boden, wo ich neben Mami sitzen bleibe. Meine sonst so schöne Mami ist kreidebleich und leblos wie eine chinesische Puppe und starrt vor sich hin.

    Wie sollen wir ohne Vati der Zukunft entgegensehen?

    Wieder in der Schule

    Šamorín, September 1945

    Die langen, heißen Sommertage sind vorüber und die Blätter unserer Akazie haben sich goldgelb verfärbt. Während ich mit den Schulheften unter dem Arm die Hauptstraße entlanglaufe, sauge ich mit der Atemluft die melancholische Botschaft des Herbstes ein. Die letzten Überbleibsel des Sommers mit gelegentlichen Funken von Sonnenlicht überdecken ein zartes und bittersüßes Gefühl des Abschieds. Eine Schultasche aus Leinen, die Mami aus einem alten Rucksack geschneidert hat, ist stolz über meine Schulter geschwungen. Ich gehe wieder zur Schule.

    Ich bin hier die einzige Überlebende, die wieder die Schulbank drücken will, und so besuche ich erneut meine alte Schule, die städtische Mittelschule von Šamorín. Erneut bin ich in der Abschlussklasse, in meinem alten Klassenzimmer. Genau wie früher hängt der Geruch nach ranzig gewordenem Öl im Raum. Die Tafel hat an denselben Stellen Risse. Wenn die Kreide über die Tafel quietscht, bekomme ich wie schon seit jeher Gänsehaut. Und auch das Läuten der Schulglocke am Ende der Stunde erschreckt mich immer noch.

    Und doch ist nicht alles so wie einst. Andere Mitschüler. Andere Lehrer. Eine andere Unterrichtssprache. Unsere Stadt und die umliegende Gegend gehören nicht mehr zu Ungarn. Sie gehören jetzt wieder zur Tschechoslowakei. Viele meiner christlichen Freunde sind mit ihren Familien als alteingesessene ungarische Bauern und Landbesitzer auf die andere, die ungarische Seite der Donau umgesiedelt worden. An ihrer statt wurden neue Leute geholt. Tschechische und slowakische Lehrer unterrichten jetzt anstelle der ungarischen, die ich früher hatte. Und die ich geliebt habe. An der Schule findet sich kein einziges bekanntes Gesicht mehr.

    Meine Klassenlehrerin war früher Frau Kertész. In den Lagern, bei der Zwangsarbeit, bei den endlosen Zählappellen und in überfüllten Viehwaggons habe ich immer wieder sehnsüchtig an sie gedacht. Da ich weder Papier noch Stifte hatte, schrieb ich ihr in Gedanken lange Briefe und berichtete darin von meinen Sorgen, meinem Schmerz und meiner Todesangst. Und ich betete, dass ich eines Tages zurückkehren würde und ihr diese Briefe wie ein Kapitel meiner Seele in die Hand drücken könnte. In Gedanken sah ich sie lächeln und mich loben.

    Nun bin zwar ich zurückgekommen, aber nicht Frau Kertész, und niemand hier hat je von ihr gehört.

    Kein Mensch erinnert sich an Herrn Apostol, der früher unser Rektor war und wie eine mächtige Zitadelle über die Schule wachte. Keiner kennt Herrn Kállai, den beliebten Sachkundelehrer, oder Fräulein Aranka, die kleine, alte Jungfer, durch die der Mathematikunterricht zum Synonym für blanken Terror wurde. Ich bin die Einzige, die sich an all diese Menschen erinnert. Und ich habe niemanden, mit dem ich meine Erinnerungen teilen könnte.

    Nicht ein Jahr und zwei Monate lang war ich weg – nein, eine ganze Ewigkeit. Ich war auf einem anderen Planeten, im Reich der Vernichtungslager Polens und Deutschlands.

    Als ich weggebracht wurde, war ich eine energiegeladene Dreizehnjährige mit langen, blonden Zöpfen und in glücklicher Erwartung der Überraschungen, die das Leben für mich bereithielt. Ich kam zurück als wissende, geläuterte Erwachsene, bar meiner Zöpfe und jeder Erwartung.

    Die Haare wachsen jetzt wieder. Und ich habe zwei neue Freunde. Am dritten Schultag, als ich in der Pause alleine dastand, kamen Yuri und Marek auf mich zu und wollten wissen, wer ich sei. Als ich auf Slowakisch antwortete, sprangen sie vor Freude fast in die Luft. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ich sie verstehen würde. Yuri ist aus der Sowjetunion und kann nur Russisch, Marek ist aus Böhmen und spricht Tschechisch. Beide Sprachen sind mit dem Slowakischen verwandt, deshalb können wir uns problemlos verständigen. Alle anderen Mitschüler reden nur Ungarisch, was mit dem Slowakischen rein gar nichts gemein hat. Sie sind Slowaken, die in Ungarn geboren und zur Schule gegangen sind und von der Regierung erst kürzlich »repatriiert« wurden. Weil ich hier geboren bin, kann ich sowohl Ungarisch als auch Slowakisch. Binnen kurzer Zeit habe ich durch meine Sprachkenntnisse eine gewisse Berühmtheit erlangt und mir die Position der Klassendolmetscherin erarbeitet. Und die Freundschaft von Yuri und Marek. Mittlerweile sind wir unzertrennlich geworden.

    Obwohl ich ein ganzes Schuljahr versäumt habe, sind meine Mitschüler so alt wie oder sogar älter als ich. Während der ungarischen Besatzung hatte ich die Möglichkeit, nach vier Jahren Grundschule in die Mittelstufe zu wechseln. In der Tschechoslowakei und der Sowjetunion dauert die Grundschule fünf Jahre.

    Nach wie vor kann ich kaum glauben, dass ich jetzt zur Schule gehe und wie früher in einer Welt der Fächer, Hausaufgaben, Lehrer, Mitschüler und Prüfungen lebe. Meine Schulfreunde kämpfen mit nichts anderem als Matheproblemen, russischer Grammatik und ihren Aufsätzen in slowakischer Sprache. Wie sehr wünschte ich, ich könnte genauso sein wie sie.

    Zwei russische Soldaten gehen vorbei und stoßen quiekende Laute der Begeisterung aus. Den Vorwurf, Mädchen seien ihnen gleichgültig, kann man diesen Russen definitiv nicht machen. Einer versucht, mir den Weg zu versperren, doch ich weiche ihm mit geübtem Elan aus und eile weiter die Straße entlang. Die Rollläden der Geschäfte sind zu, obwohl es schon fast acht Uhr morgens ist. Seit dem Ende des Krieges öffnen die Geschäfte nicht mehr um acht. Es gibt kaum etwas zu verkaufen, deshalb bleiben viele den ganzen Tag lang geschlossen.

    Eine große sowjetische Flagge hängt über dem Eingang der Schule und überdeckt mit ihrem Stern beinahe die kleinere, rotweiß-blaue Flagge der Tschechoslowakei. Die Schulglocke läutet, als ich die breite Treppe zum Eingang erreiche. Vor der Schule ist niemand zu sehen; alle Schüler sind bereits hineingegangen. O Gott, bin ich vielleicht zu spät dran? Wie spät ist es denn? Von hier aus kann ich die Turmuhr nicht sehen. Und warum gibt es eigentlich das Acht-Uhr-Läuten der Kirchenglocken nicht mehr?

    Mit einem Stechen in der Magengegend eile ich in mein Klassenzimmer. Beim Eintreten wirft mir der Lehrer einen fragenden Blick zu. Aber Pan Černiks kantiges, fast viereckiges Gesicht mit den freundlichen, blauen Augen wirkt eher amüsiert als verärgert, als er mein Auftauchen mit einem Kopfnicken registriert. Die Dielen knarren, als ich auf Zehenspitzen zu meinem Platz in der hintersten Reihe gehe und mich verlegen an Yuri und Marek vorbeiquetsche. Yuri schämt sich immer für mich, wenn ich zu spät komme. Er räuspert sich missbilligend und fragt mit gepresster Stimme: »Hast du die Hausaufgaben? Ich geb’ sie für dich ab.«

    »Hast du deine schon abgeliefert?«

    »Ja. Er hat schon alles eingesammelt.« Yuri schnappt mir das Blatt aus der Hand und geht nach vorn zu Herrn Černiks Tisch:

    »Pan učitel. Herr Lehrer. Hier sind die Aufgaben von der Friedmannowa.«

    Pan Černik nickt erneut, lächelt milde und beginnt mit der Stunde, in dem Fall Gesundheitslehre. Obwohl das Slowakische relativ neu für mich klingt, kann ich Pan Černik dank seiner deutlichen Aussprache recht gut verstehen. Er unterrichtet mit besonderer Rücksicht auf die ungarischsprachigen Schüler, macht nach jedem Satz eine kleine Pause, stellt Verständnisfragen, wiederholt wichtige Punkte und wartet dann geduldig, bis alle fertig geschrieben haben. Wir haben keine Bücher, deshalb müssen wir den Stoff der jeweiligen Stunde komplett aufschreiben.

    Vor dem Krieg gab es für jedes Fach einen anderen Lehrer. Jetzt unterrichtet Herr Černik sämtliche Fächer, mit Ausnahme von Russisch. Das kann er nämlich nicht. Er ist Slowake aus dem Hügelland im Norden, ein kräftig gebauter Mann mit breiten Schultern und einem freundlichen, wenngleich müde wirkenden Gesicht von leicht dunkler Hautfarbe. Fräulein Drugowa, die Russischlehrerin, ist energisch und drall und hat ihr hellbraunes Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Genossin Drugowa pflegt eine präzise und fast schon kompromisslose Art des Unterrichts. Sie hat keinerlei Bewusstsein dafür, dass manche Besonderheiten des Russischen komisch wirken könnten – zum Beispiel, dass sie Hitler immer als »Gitler« bezeichnet oder zu Hans immer »Gans« sagt –, und betrachtet unser allfälliges Gelächter als persönlichen Affront.

    Genossin Drugowas Lust am Unterrichten passt hervorragend zu meiner Lust am Lernen. Ich bin wie eine Musikerin in ihrem Orchester und lerne Russisch in dem ähnlich unbarmherzigen Tempo, in dem sie dirigiert. Gedichte von Puschkin und Lermontow, Erzählungen von Gogol und Lazhechnikow, die Theaterstücke von Tschechow. Für mich verwandelt Genossin Alla Drugowas gnadenloser und bierernster Frontalangriff den Russischunterricht in ein Liebesfest des Lernens.

    Der Unterricht hat Yuri und mich enger zusammengebracht. Unsere Freundschaft war der Grund dafür, dass mir Russisch leichtfiel und er einen besseren Zugang zum Slowakischen hatte. Sein großes Problem war aber das Schriftliche: Im Gegensatz zu den Slowaken, Tschechen und Ungarn musste Yuri erst noch die lateinischen Buchstaben lernen, bevor er im Unterricht mitschreiben konnte. Da er aus dem weit entfernten Moskau stammte, musste er sich viel mehr umstellen als die Slowaken aus dem angrenzenden Ungarn oder die Tschechen aus dem nahen Böhmen. Die Unterschiede erzeugten eine unsichtbare Wand um Yuri, die ich aber deutlich wahrnehmen konnte. Yuri wiederum spürt, davon bin ich überzeugt, dass ich trotz meiner Begeisterung für die neuen Freundschaften in Wahrheit einer anderen Welt angehöre – einer Welt weit entfernt von diesem Klassenzimmer. Er versteht, dass die Kluft, die mich und meine Mitschüler voneinander trennt, nicht überbrückt werden kann. Nicht durch ihn. Und auch durch keinen anderen meiner neuen Schulfreunde.

    Der »Tattersall«

    Šamorín, Juli 1945–Juli 1946

    Meine geheime Welt jenseits der unüberbrückbaren Kluft ist der »Tattersall«. Dabei handelt es sich um das Gemeinschaftsheim unserer neuen Familie, die aus den wenigen Überlebenden unseres Städtchens besteht. Von den über fünfhundert jüdischen Einwohnern, die Šamorín ursprünglich hatte, sind nur sechsunddreißig zurückgekehrt, hauptsächlich junge Männer und Frauen. Wo vorher all jene waren, die nicht wiedergekommen sind – unsere Kinder, Partner, Großeltern, Geschwister, Ehemänner, Ehefrauen, Tanten, Onkel, Cousins und Kusinen, Freunde und Liebhaber –, ist jetzt ein Abgrund.

    Dieser Abgrund zieht sich wie ein Schutzgraben um den Tattersall. Ich habe keine Ahnung, wer dem verlassenen Gebäude, das uns »Repatriierten« von den Behörden zugewiesen wurde, diesen merkwürdigen Namen, den Namen eines englischen Pferdehändlers, gegeben hat. Die vormaligen Besitzer haben das geräumige Haus mit seinem kopfsteingepflasterten Hof, einer großen Küche und ein paar spärlich eingerichteten Zimmern verlassen, als die Sowjetarmee näherrückte. Die Stadt hat es daraufhin in eine Art Herberge und Zufluchtsort umgewandelt. Hier haben wir uns einen Rückzugsbereich geschaffen, eine Insel des Beisammenseins.

    Die Welt außerhalb des Tattersall gehört »denen«, also den ehemaligen Nachbarn, Freunden, Mitschülern und Arbeitskollegen, die uns gewaltsam aus ihren Reihen vertrieben und uns sowohl nahestehende Menschen als auch unser jeweiliges Zuhause geraubt haben. Die Welt jenseits des Abgrunds hat für uns keinerlei Bedeutung. Unser Geburtsort, das Vaterland, das uns brutal aus seinem Schoß gestoßen hat, existiert für uns nicht mehr.

    Der Tattersall ist unsere einzig wirkliche Welt. Dies ist der Ort, an dem wir »wir selbst« sind: Wir träumen von zukünftigem Glück als junge Männer oder Frauen und sehnen uns nach emotionaler wie körperlicher Erfüllung. Sechsunddreißig Menschen verbringen ihre Tage im Tattersall und träumen denselben Traum. Wir führen die intimsten Gespräche, als wären wir alle eng miteinander verwandt, und erzählen uns die geheimsten Ängste, Pläne und Hoffnungen. Wir reden über ein Leben weit weg von hier, jenseits des Abgrunds.

    Ich habe größtes Verständnis dafür, dass die Tattersall-Familie meine Teilnahme am Außenleben argwöhnisch betrachtet. Nur mich selbst verstehe ich nicht recht. Warum gibt es bei mir diese Leidenschaft fürs Lernen, diesen unwiderstehlichen Drang, die Hand auszustrecken und die Welt zu berühren? Ein Teenager wie jeder andere zu sein?

    Miki ist der Einzige, der mich versteht.

    Miki ist der Sekretär des Tattersall und hat damit die renommierteste Stellung innerhalb der Familie inne. Er verwaltet unser Essen und die Geldzuweisungen durch die Regierung. Darüber hinaus vertritt er uns gegenüber den Behörden. Miki ist groß und schlank, mit hängenden Schultern und großen, hellblauen Augen, die aber weitgehend von seinen gesenkten Augenlidern verdeckt sind. Ich finde hängende Schultern und gesenkte Augenlider höchst romantisch und aufregend.

    Miki findet es gut, dass ich wieder zur Schule gehe, und rückt mich bei den Gesprächsrunden gern in den Mittelpunkt. Dann dreht er sich in meine Richtung und fragt vor allen anderen nach meiner Meinung: »Und was sagst du dazu, Elli?« Die anderen sehen überrascht zu mir und warten geduldig auf meinen Beitrag, den ich aus Respekt vor Miki – wenngleich stammelnd – von mir gebe. Danach geht Miki immer an meinem Stuhl vorbei, fragt, wie es mir in der Schule gehe, und hält dabei seine stahlblauen Augen fest auf mich gerichtet.

    Jeden Nachmittag gegen halb fünf trinkt Miki seinen Tee im Speiseraum, also genau dort, wo ich meine Hausaufgaben mache. Wenn der Uhrzeiger sich auf dreißig nach vier zubewegt, lausche ich gespannt, ob nicht langsam seine trägen, unaufgeregten Schritte über den Hof kommen. Ich lausche, und mein Herz schlägt schneller.

    »Hallo, Miki«, sage ich leise und versuche, meine Stimme normal klingen zu lassen.

    »Ach, hallo. Wie geht’s mit den Aufgaben? Brauchst du Hilfe?«

    »Na ja, es ist Algebra. Hast du denn Zeit?«

    »Ich hab’ eine Stunde Pause. Schau’n wir mal, wo es klemmt.«

    So wissend und entspannt wie immer zieht er einen Stuhl heran, und innerhalb weniger Sekunden sind wir in die Fallstricke der Algebra verwickelt. Eine Genossin, die gerade Küchendienst hat, bringt Miki seinen Tee mit Zitrone – ein Privileg für den Sekretär des Tattersall.

    Mikis Nähe stellt seltsame Dinge mit meinen Gefühlen an. Aber ich konzentriere mich und sauge jedes Wort in mich auf, das aus seinem Munde kommt. Wenn das Problem gelöst und seine Teetasse leer ist, erhebt sich Miki mit einem Nicken und geht wieder in sein Büro am Hofeingang. Ich lerne weiter, bis die Tattersall-Gruppe zum Abendessen eintrudelt.

    Das Essen wird um Punkt sieben serviert. Miki kommt immer ein paar Minuten später. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, aber er scheint mich nicht zu bemerken. Als die Gesellschaft sich langsam auflöst, verschwindet Miki aus dem Raum, ohne mich auch nur anzusehen. Warum ist er so schrecklich distanziert?

    Aber ich weiß, dass ich ihn später noch treffen werde. Wie jeden Abend wird er in seinem Büro auf mich warten, um mich die Hauptstraße entlang – quer durch unser Städtchen – nach Hause zu begleiten.

    Ich bin die Einzige aus

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1