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Eleonore - Der verlorene Kampf
Eleonore - Der verlorene Kampf
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eBook547 Seiten7 Stunden

Eleonore - Der verlorene Kampf

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Über dieses E-Book

"S a n k t B a r t h o l o m ä u s – K i n d e r h e i m... !"
Norwin erschrak, als er das Wort gelesen hatte. Er schaute seine Mutter entsetzt an. Eleonore wäre auf der Stelle am liebsten im Erdboden versunken. Seit wann konnte Norwin denn lesen? Sie ertrug die ganze Situation nicht mehr und wünschte sich, nie geboren worden zu sein, geschweige denn, eigene Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Sie verstand auch nicht, warum ausgerechnet sie das alles ertragen musste. Wenn es denn einen Gott gab, warum strafte er sie? Vorsichtig fragte Norwin:
"Was wollen wir hier?"
Mit zittriger Stimme antwortete seine Mutter:
"Hier wohnt Schwester Elisabeth."
Ungläubig hinterfragte Norwin:
"In einem Kinderheim?"
Eleonore versagten fast die Nerven und sie hätte ihn jetzt am liebsten angeschrien, das er mit seiner Fragerei endlich aufhören sollte. stattdessen riss sie sich gewaltig zusammen und auf einmal hatte sie das Gefühl, eine Schauspielerin in einem fremden Film zu sein. Das verhalf ihr, so zu antworteten, als stände sie völlig über den Dingen:
"Ja, sie hat woanders keine so große Wohnung für ihre vielen Kinder, die sie liebt, gefunden. Also ist sie letztendlich in die Räume des Kinderheims gezogen. Das ist sehr praktisch, weil dort sehr viel Platz ist für alle Kinder. Außerdem gibt es dort jede Menge Spielzeug, was alle Kinder benutzen dürfen."
"Ach so, ich dachte schon, wir kommen jetzt in ein Kinderheim", gab Norwin völlig erleichtert von sich.
Eleonore schaffte es nicht, Norwin die volle Wahrheit zu sagen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum7. Aug. 2015
ISBN9783737560627
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    Buchvorschau

    Eleonore - Der verlorene Kampf - Cosima Cos

    Imprint:

    Eleonore - Der verlorene Kampf

    Cosima Cos

    Copyright: © 2015 Cosima Cos

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN: 978-3-7375-6062-7

    Das Buch:

    Dieses Buch erzählt die Geschichte der emanzipierten, alleinerziehenden Mutter Eleonore Müller, die in den Nachkriegsjahren als Lehrerin tätig war. Als sie 1959 schwanger wurde, ließen ihre Eltern sie polizeilich suchen. Sie brachte ihren Sohn Norwin heimlich zur Welt, vier Jahre später folgte die Geburt der Tochter Cosima. Beide Kinder waren unehelich und von verschiedenen Vätern, deren Namen die Mutter nie preisgab. 1964 erkrankte Eleonore an Krebs und musste einige Wochen im Krankenhaus behandelt werden. Die Kinder kamen in dieser Zeit in ein Heim...

    Alles könnte sich in Wirklichkeit zugetragen haben, vieles geschah tatsächlich.

    Grundlage dieser Geschichte sind diverse Originaltexte und Originalbriefe, die im Buch nahezu unverändert wiedergegeben werden. Die Mehrzahl der im Buch erwähnten Ortsnamen und Personennamen wurden zum Schutz diverser Personen geändert.

    Die Autorin:

    Cosima Cos, geb. 1963, studierte Soziologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, absolvierte anschließend eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, bildete sich darauffolgend im Bereich der Programmierung fort und arbeitete mehrere Jahre als Organisationsprogrammiererin in einem großen Konzern. Sie heiratete 1989, bekam drei Kinder und geht seit einigen Jahren mit Begeisterung ihrer Tätigkeit als freiberuflicher Musikpädagogin nach.

    Dieses Buch  widme ich meinen drei Kindern, die ich über alles liebe.

    Großer Dank geht an alle, die an mich geglaubt haben und sich meine ständigen Sorgen anhören mussten.

    Besonderer Dank gilt:

    Maren, Silvia, Evi, meiner Lieblingsschwägerin Rotraud und einem großartigen, pensionierten Deutschlehrer!

    Erster Teil

    1 Brief an Tante Auguste

    Liebe Tante Auguste,

    du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, zu wissen, dass du und Onkel Franz leben. Ich hoffe sehr, dass euch dieser Brief erreicht, obwohl ihr in der russischen Zone lebt. Hoffentlich geht es euch den Umständen entsprechend gut?!

    Fünf Jahre nach Kriegende ist Mutti noch immer manchmal ganz niedergeschlagen, aber ich persönlich habe wieder so viel Lebenswille und auch immer nur die gute Seite von allen Dingen gesehen. Ob ich darum bis heute so viel Glück gehabt habe?

    Aber nun sollt ihr zunächst eine klare Schilderung unserer Flucht bekommen. Somit könnt ihr euch eher in unsere Situation hineinversetzen und verstehen, warum wir in Kiel gelandet sind.

    Bevor ich mit meiner Schilderung starte, möchte ich dich, Tante Auguste, dann bitten, so bald wie möglich zu antworten. Vor allem möchte ich Näheres über möglichst viele mir bekannte Personen erfahren, von denen du weißt, wo und wie sie leben.

    Nun zur Flucht:

    Also damals in der bewussten Nacht, als auch die Stadt Neustrelitz den Räumungsbefehl erhielt, fuhren Elfrida (meine kleine Schwester, wie du immer sagtest, ist jetzt ein ganzes Stück größer als ich) und ich mit einem kleinen deutschen Schwimmer bis Waren. Mutti saß in einem Personenauto mit all unseren uns wichtigen Sachen. Schon nach wenigen Kilometern hatte das Personenauto Panne, der Draht hatte sich mit einem Vorderrad verwickelt. Mein letztes Hab und Gut hatte ich im Geiste schon aufgegeben. Warum sollte man sich auch um Dinge sorgen? Viel wichtiger war uns das Baby. Wir hatten es uns gleich zu Beginn der Flucht zur Aufgabe gemacht, es lebend durch den Krieg zu bekommen. Mutti hätte es nicht mitgenommen. Du weißt ja, warum. Stell dir vor, das arme kleine Baby wäre in der Wohnung geblieben und die Russen wären gekommen. Eine ganz, ganz schreckliche Vorstellung. Wie grausam Mutti war!

    Na ja, weiter zu meiner Schilderung: Plötzlich trudelte eine große Zugmaschine vor uns den Abhang herunter. Dabei wurden einige Menschen breit gedrückt und wir verloren Mutti aus den Augen, sie blieb irgendwo auf der Chaussee zurück. Ich hatte große Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte. Natürlich entstand eine Verkehrsstockung, denn die Maschine sollte wieder fahrbereit gemacht werden.

    Bald ging unsere Fahrt weiter gen Waren. Wo Mutti geblieben war, wussten wir nicht. Die Straßen waren übervoll von Menschen. Frauen, Kinder, Menschen, Menschen. Alles lief vor den Russen davon. Niemals werde ich den Anblick aller der Verwundeten vergessen, die fast nackend ohne Brot vor der Front her humpelten. Manche hatte keine Schuhe mehr. An einem langen Zug KZ-Gefangener ging die Fahrt vorbei.

    Die kleinen Schwimmer waren gut. Wir fuhren durch alle Gräben durch. Kein Pferdefuhrwerk, von denen eines hinter den anderen fuhr, konnte unsere Fahrt hindern. Immer in das dichteste Gewühl hinein mit uns und jedes Mal sicher wieder heraus.

    Damals habe ich sofort erkannt, was diese Flucht für uns bedeutete. Dass es um Sein oder Nichtsein ging. Elfrida und ich haben gelacht, gesungen und gescherzt. Den am Straßenrand liegenden Soldaten haben wir gewinkt. Oh, hier konnte ein einziges gutes Wort ein ganzes Menschenleben retten. Wir waren ja die Jugend, die sorglose.

    Und nach einer gewissen Wartezeit trudelte dann der bewusste Personenwagen in Waren ein. Waren selbst war vor lauter Menschen nicht zu sehen. Wir trafen auf Frau Lüder und gingen ins nächste Haus, wo wir auch noch etwas zu essen bekamen. Und das Wichtigste war, wir bekamen auch Milch für das Baby. Frau Lüder wollte Erkundigungen über ihre Mutter einziehen und ging auf die Straße. Wir haben sie von dem Zeitpunkt nie wieder gesehen. Nachdem wir uns satt gegessen hatten, gingen wir wieder auf die Straße. Das Warten auf der Straße wurde für uns mit dem Kinderwagen auf alle Fälle zwecklos. Also, Lori nimmt Koffer und Eimer und meinen mir so heißgeliebte Stoffaffen und dann mit Elfrida und Baby auf zum Bahnhof! Der letzte Güterzug nach Lübeck war fort. Aber warte,- hier wird noch ein Personenzug zusammengestellt. Wohin bringt er uns?

    Zwei Landstationen hinter Waren, dann steht er eisenfest. Erst zwölf Stunden. Allmählich wird es kalt, man bekommt Hunger. Dann stehen wir noch zwölf Stunden. Man wird ungnädig und müde. Nach wiederum zwölf Stunden ist die Lage schon kritisch. Wie der Zug so 48 Stunden steht, wird er aufgelöst. Du, in dem Augenblick habe ich gar nicht gedacht. Mein Gehirn war völlig taub. Aber warte, auf einem anderen Gleise steht ein sonderbar geschlossener D-Zug. Posten gehen unentwegt auf und ab.

    Gerade überlege ich, was das wohl für ein Zug ist, sehe ich Mutti, wie sie mit einer fremden Frau am D-Zug spricht. Ich laufe hin und umarme sie herzlich. Wir freuen uns unsagbar. Schnell erkenne ich Muttis Gedanken und beginne ein Gespräch mit einem der Wachposten. Mutti spricht weiterhin mit der fremden Frau über die Sachlage. Die freundliche Frau war ein Spitzel und den Zug, der Zug selbst der Führerzug (die Befehlsstelle wurde damals verlegt) und dem Spitzel war Familie Müller sympathisch, so dass wir heimlich auf eigene Lebensgefahr in dem geschlossenen Zug einsteigen durften. Wie der Posten mir erzählte, saßen wir in einem Wagen, der in England gebaut, einer ungarischen Prinzessin zum Geburtstag geschenkt wurde und nun der deutschen Wehrmacht gehörte. Jedenfalls war der Zug leer und die Leute auf der Straße wiesen mit Fingern auf uns.

    Nach Möglichkeit durften wir uns nicht am Fenster sehen lassen. Nachts, heimlich, fuhren wir immer. Wohin? Wie lange? Wir waren nicht dumm. Heute kann ich mit Sicherheit schreiben: Der einzige uns unsympathische Mensch im Zug, ein Zivilist, war Himmler. Schließlich kamen wir nach Schwerin, wo wir aussteigen mussten. Nach dem anfänglichen Glücksgefühl außer Vati die gesamte Familie vereint zu sehen, näherten wir uns einem Tiefpunkt.

    Liebe Tante Auguste, hier in Schwerin habe ich das erste Mal den Kopf hängen lassen. Wir kamen nicht weiter. Kein Zug fuhr mehr. Nichts zu essen gab es. Das Baby schrie schon gar nicht mehr. Es wurde auch immer apathischer. Doch das war mir egal! Mein einziger Gedanke war Hitler. Es war das Letzte, woran ich glauben konnte und an irgend etwas muss man sich doch klammern. Meine Mundharmonika hat mir auch viel geholfen.

    Nach zwei schrecklich Nerven aufreizenden Tagen konnten wir schließlich Schwerin verlassen. Ein Lazarettzug nahm uns mit. Wir wurden von einem Viehwagen in den anderen geschickt, um endlich irgendwo für die drei kommenden Tage zu bleiben. Sie wurden die bisher schwersten der Flucht. Mit einem großen Schritt konnte man auf einen Steigbügel steigen und mit einem abermaligen Beinausreißen gelangte man in das Innere des dunklen Wagons. Links stand ein Blockwagen, der einer schwangeren Frau mit ihren fünf Kindern gehörte. Weiter zurück stand noch ein hoch bebauter Wagen. Auf allem Gepäck wiederum lag mein Affe. Das Ganze schloss und gipfelte in meiner Persönlichkeit. Um eine Verbindung zur übrigen Welt herzustellen, streckte ich einen Arm aus. Mit diesem Arm hielt ich drei Tage und Nächte den an der Decke hängenden Kinderwagen mit dem Kind. Mutti war nicht mehr ansprechbar, sie wirkte geistig abwesend. Sie lag auf dem noch nicht beschriebenen Teil des Fußbodens, welcher von  Menschenmassen belagert wurde. Die Stimmung war eine gereizte, überspannte, wie ich sie früher oder später nie mehr fand.

    In Lübeck hatte ich einen Herzfehler und konnte nicht sprechen. Wochenlang hat mir die Lunge nicht gehorcht. Woher sollten wir wissen: Lübeck ist eine freie Stadt! Englische Truppen stehen auf dem Hauptbahnhof! Schwerster Bombenangriff auf Kiel! Hitler in Berlin untergegangen! U.s.w., u.s.w. - Wir ließen unsere Koffer bei einem Ehepaar, was seine Heimat in Lübeck wiederfand. Dann stiegen wir ohne Gepäck in einen Transportzug. Er brachte uns aus Lübeck. Kaum 14 Kilometer hinter der Stadt kamen die englischen Flieger und beschossen uns und wir standen und sahen in den herrlichen blauen Himmel.

    Wohin sollten wir? War das nun das Ende? Die Lokomotive wurde durch Bombenabwurf zerschlagen. Was tun? Familie Müller haut ab! Per Kompass wird der Zug erst einmal in schnurgerader Richtung verlassen. Und zwar nicht, wie es viele machten, zur Straße, sondern auf die Felder. Der Affe, ach er war zu schwer! Im Graben lag er besser.

    Auf unserer Flucht entdeckte man uns öfter. Mutti musste zum Beispiel einmal in einem kleinen Fluss stehen bleiben, weil sie sonst von Kugeln getroffen wäre. Aber im Großen gesehen hatten wir Glück. Plötzlich standen wir vor einer Hütte. Wir gehen hinein und werfen uns todmüde auf das Heu. Unser Kind war nackend und vom Draht blutig gerissen. Mein Gehirn war völlig taub. Auf dem Zuge hatte ich vom Tode Hitlers gelesen. Nun wusste ich, dass eine Wendung kam, kommen musste. Ich habe geweint, sehr sogar. Dann dachte ich plötzlich ganz anders: Hitler ist tot und das ist gut. Er erlebt das Schwere, was nun kommen muss, nicht mehr, das wirst du alles tragen müssen; aber du hast für ihn gelebt und wirst es können. Seine Idee geht verloren, er ist für dich eingereiht in die Reihe der vielen Helden unserer Geschichte, die gelebt haben und untergegangen sind. Seine Zeit ist vorüber und du bist jung, du musst dich der kommenden Zeit anschließen, um leben zu können.

    Liebe Tante Auguste, Du kennst mich und weißt, dass mir das Herz oft geblutet hat; aber meine eigenen Gedanken haben mich über die schwerste folgende Zeit hinweggebracht. Ich bin oft stundenlang allein spazieren gegangen. Ich habe gesehen, wie das Korn gewachsen ist, habe im Haus mitgeholfen, habe Kühe gehütet. - Was kümmert mich die übrige Welt, wenn ich selbst nicht mit mir einig bin?

    In der folgenden Nacht holte ich mein Hab aus dem Graben und einige Tage später konnte ich fast alles vom Zug holen, weil das Lübecker Ehepaar es für uns bewacht hatte. (Nie werde ich den Leuten das danken können.) Dann wohnten wir fünf Wochen im Kuhstall. Zehn Tage nach der Kapitulation wussten wir noch nichts vom Kriegsende. Nur, dass Vati in Kiel war, das wussten wir von einer Verwandten (Schwester Onkel Ottos), die auch da wohnte, welche ich aber gar nicht vorher kannte!! Als Mutti erfuhr, dass Vati lebte, ging es mit ihrer Verfassung langsam bergauf. Später bot uns eine Frau ein Zimmerchen an. Dann kamen die ersten Engländer. Sie waren für mich „Der Feind". Eines Abends überfiel mich starkes Fieber, da wandten wir uns an die Tommies, der Not gehorchend. Ich bekam von den Sanitätern deutsche Bayertabletten. Ein Blick ihm mitten ins Gesicht, dann war die Scheu überwunden und ich habe das erst Mal Englisch gesprochen.

    Und jetzt? Ja, jetzt lebe ich alleine in Wittenberg und arbeite hier als Schuldirektorin. Meine Ausbildung konnte ich nach der Flucht in Kiel beenden. Dort habe ich dann auch fünf Jahre an einer Schule als Lehrerin gearbeitet und nun habe ich meine eigene Schule. Das ist unglaublich schön. Mutti, Vati, Anna wohnen in Kiel-Gaarden. Sie haben dort eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Anna geht es gut. Sie ist jetzt fünf Jahre alt. Nur leider fehlt Mutti das richtige Verhältnis zu ihr. Du weißt schon warum! Vati hat wieder Arbeit als Schweißer auf der Werft gefunden und alle müssen nicht hungern. Elfrida arbeitete als Haushälterin in einem wohlhabenden Haushalt. Jetzt hat sie Kiel verlassen und wohnt in Stuttgart, um dort in einem Krankenhaus tätig zu sein.

    Ihr glaubt gar nicht, wie gut es mir tat, euch diese Zeilen geschrieben zu haben. Es ist, als ob ich endlich einen Schlussstrich unter meine Vergangenheit ziehen könnte. Ein unglaublich befreiendes Gefühl.

    Ach, was wäre es schön, wenn wir uns sehen könnten. Vielleicht ist es ja bald einmal möglich. Ich hoffe innigst, dass es euch gut geht.

    Alles, alles Liebe

    Eure Lori

    2 Telefonanruf

    Eleonore legte ihren Federhalter zur Seite, nahm den Roller mit dem Löschpapier und fuhr damit einige Male über den Brief. Ganze sechs Seiten hatte sie geschrieben. Was waren das damals für schreckliche Erlebnisse! Langsam tauchte sie aus der Vergangenheit auf und registrierte die Gegenwart. Sie nahm die beschriebenen Briefbögen, faltete sie, steckte sie in einen Briefumschlag, beschriftete diesen und klebte eine Briefmarke herauf. Gedankenverloren schaute sie ihren Hund an. Er lag neben ihr. Als er Eleonores Aufmerksamkeit für ihn spürte, blickte er sie von unten an, ohne den Kopf zu bewegen. Nur seine Augenbrauen hoben sich und ließen seine großen braunen Augen noch größer und treuer wirken. Eleonore sagte zu ihm gewandt:

    „Na Rusty, du hast es vielleicht gut. Über all die Dinge musst du gar nicht nachdenken."

    Sie bückte sich und streichelte ihm liebevoll über Kopf und Rücken. Er legte sich sofort auf den Rücken und streckte alle Viere von sich, um am Bauch gekrault zu werden. Eleonores Hund war ein sehr schöner, weißer Schlittenhund. Er war ungewöhnlich intelligent und gehorchte perfekt. Eleonore hatte viel Zeit in seine Erziehung investiert und große Erfolge erzielt. Durch seinen unbedingten Gehorsam benötigte sie keine Leine bei den Spaziergängen. Rusty entfernte sich niemals unerlaubt. Während Eleonore ihn streichelnd verwöhnte und in ihre Gedanken versunken war, klingelte plötzlich das Telefon. Der Hund sprang erschrocken auf, bellte kurz und horchte. Er drehte dabei seinen Kopf und stellte die Ohren noch mehr auf, als sie ohnehin schon hoch standen. Er schaute Eleonore mit geneigtem Kopf an. Sie musste lächeln, tätschelte ihn etwas und besänftigte ihn:

    „Ist ja gut, mein Lieber. Das ist nur das Telefon. Das Geräusch kennst du noch nicht so gut, nicht wahr? Es wird auch nicht zu oft zu hören sein."

    Das Klingeln schallte aus der Ferne und drang in den Raum:

    „Ring - ring - ring …!"

    Eleonore lauschte nun auch aufmerksam, während ihr Blick durch das Zimmer schweifte und an der Tür heften blieb. Ein klingelndes Telefon war für Eleonore genau so neu, wie für Rusty, denn erst seit drei Tagen gab es ein solches in diesem Gebäude. Das erklärte nun auch Rustys Unruhe, denn er bellte nur bei neuen ungewohnten Geräuschen. Eleonore stand auf und begab sich in Richtung des Telefons. Sie zögerte etwas und überlegte, wer sie denn anrufen könnte. Die Nummer ihres Telefonanschlusses konnte kaum einer kennen, denn sie hatte sie bisher nur ihren Eltern mitteilen können, später wollte sie sie auch an alle Schüler weitergeben. Eleonore wartete, ob das Klingeln endete, doch es läutete unentwegt weiter. Es klang so unwirklich. Sie fühlte sich ein bisschen wie in einem unrealistischen Zukunftsfilm und hoffte, es hätte sich jemand verwählt und würde wieder auflegen. Aber es klingelte kontinuierlich weiter. Dann war es wohl tatsächlich ein Anruf für sie und es konnten somit nur ihre Mutter oder ihr Vater sein.

    Eleonore verließ das Zimmer und betrat den Flur ihrer Wohnung. Rusty ging schwanzwedelnd hinterher. Hier im Flur hallte das Telefon wesentlich eindringlicher, was Rusty verlockte, erneut energisch zu bellen. Eleonore beschleunigte ihren Schritt, denn sie war doch neugierig, wer am Nachmittag in ihrer zu dieser Zeit leeren Dorfschule anrief. Eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass es ihre Mutter war. Zügig eilte sie den langgezogenen Flur entlang, kam ins Treppenhaus des Schulgebäudes und stieg die steile Holztreppe hinunter. Nun befand sie sich im Eingangsbereich des Hauses. Rechts neben der Treppe war die große Eingangstür. Sie bestand aus zwei großen Holzflügeln, die Eleonore jeden Morgen weit öffnete. Es sah immer aus, als lade sie alle Kinder mit weit ausgestreckten Armen in ihre Schule ein.

    Plötzlich war es ganz still. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln. Eleonore blieb stehen, verharrte und horchte. Kein Ton war mehr zu hören. Nun ärgerte sie sich, nicht schneller gelaufen zu sein, denn die Neugierde hatte gesiegt. Das Telefon hatte die übliche Ruhe genau so schnell zerrissen, wie es sie wieder herstellte. Eleonore schaute sich um, als erwarte sie jemanden. Dann besann sie sich, dass ja nur das Telefon und nicht die Türklingel geläutet hatte und ging zum Klassenraum, der sich direkt gegenüber der Eingangstür befand. Es war ein schönes, geräumiges Klassenzimmer mit vier Tischreihen. Jeweils zwei Reihen standen parallel aneinander, so dass sich die Kinder gegenüber saßen und anschauen konnten. Um zum Lehrerpult zu sehen, mussten die Schüler immer zur Seite blicken, was aber keines der Kinder störte. Auf den Tischen standen ordentlich die Stühle der Kinder. Es gab hier Platz für vierzig Schüler in dem einladend hellen Raum. Die Breitseite hatte vier große Fenster, durch die die Sonne gerne schien und die hellgelb gestrichenen Wände zum Leuchten brachte. An den Wänden hingen viele bunte Bilder der Kinder. Alles sah sehr fröhlich und verspielt aus. Ein schönes, braunes, altes Klavier mit gedrechselten Beinen und zwei Kerzenhaltern mit weißen Kerzen an dem Tastendeckel stand schräg in einer Ecke des Raumes. An dem aus vier Regalböden bestehenden hüfthohen Regal neben dem Klavier lehnten ein Geigenkasten und eine kleine Wandergitarre. Auf dem obersten Regalbrett befanden sich ein Triangel, Klanghölzer, ein Tamburin, eine Rassel aus Muscheln und zwei Schellen. In dem sich darunter befindenden Regalboden stapelten sich Massen an Notenbüchern. Die beiden unteren Regale waren mit diversen Büchern voll gestellt.

    Direkt neben dem Klassenzimmer lag das Lehrerzimmer, gegenüber befanden sich die Mädchen- und die Jungentoilette.

    Eleonore überlegte, ob sie wieder nach oben in ihre Wohnung gehen sollte, entschied sich aber anders. Sie begab sich in ihr geliebtes Lehrerzimmer. Da sie auf dieser Dorfschule die einzige Lehrerin war, hatte sie sich ihr Lehrerzimmer nach ihrem eigenen Geschmack einrichten können. Es war ein Raum von ungefähr 20 m² mit zwei Fenstern an der linken Wand. Betrat man den Raum, schaute der Besucher sogleich auf Eleonores Schreibtisch, hinter dem ein großer Schreibtischstuhl mit ausladenden Armlehnen Platz fand. Man konnte sich mit ihm drehen, was Eleonore gerne tat, um besser denken zu können. Um besonders abgespannten Schülern ab und zu eine Auszeit zu gönnen, hatte Eleonore vor eines der Fenster einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen gestellt. Dort durften die Schüler sich dann etwas erholen oder in aller Ruhe bearbeiten, was sie in der Klasse nicht schafften. Eleonore horchte auf. Hatte das Telefon nicht eben geknackt? Nein,- es blieb still. Sie verharrte, schaute sich um und versank in Gedanken.

    Vor einigen Wochen hatte sie zwei große Gummibäume erstanden. Beide hatten bereits eine stattliche Höhe von zwei Metern erreicht. Sie standen im Lehrerzimmer jeweils in großen Übertöpfen rechts und links neben dem Tisch und breiteten großflächig ihre Blätter über ihn aus. Eleonore liebte Pflanzen, hatte aber kein Händchen für sie. Damit die Pflanzen bei ihr überhaupt eine Überlebenschance hatten, fand sie in der Not eine sehr gute Lösung: ihre Schüler hatten regelmäßig Gieß- und Versorgungsdienste für die Gummibäume. Sogar in den Ferien gab es freiwillige Pfleger. Vorteilhaft war natürlich auch, dass diese Gewächse sehr pflegeleicht waren.

    An der rechten Zimmerwand hing eine afrikanische Maske aus Holz und unter dieser stand eine Buschtrommel, die den Kindern bis zum Bauch reichte. Die Kinder liebten es, in dieser afrikanisch, mystischen Atmosphäre in aller Ruhe Arbeiten zu verrichten oder einfach nur einmal abzuschalten und sich träumend hinzusetzen oder vorsichtig die Trommel auszuprobieren, was sie leise durften. Wiederholt fragten die Schüler Eleonore während des Unterrichts, ob sie in den „Erholungsraum" dürften. Meistens erlaubte Eleonore es ihnen, allerdings war es immer maximal zwei Kindern erlaubt, sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie bereiteten einen Vortrag vor. Dann gestattete es Eleonore auch drei oder vier Kindern gleichzeitig. Oft hörte sie die Buschtrommel leise klingen. Aber nie missbrauchten die Kinder ihre Freiheit in dem Lehrerzimmer, tobten dort herum oder stellten Unsinn an. Die Schüler wussten Eleonores Großzügigkeit zu schätzen.

    Eleonore hatte den richtigen Weg gefunden, wie man Kindern Verantwortung übertrug, ohne dass sie es ausnutzten. Leider eckte sie mit dieser Idee des Erholungsraums bei den Eltern an. Sie waren den Frontalunterricht gewohnt und wollten ihn auch für ihre Kinder beibehalten. Ihre Kinder sollten nicht unbeaufsichtigt im Nebenraum spielen dürfen. Diesmal schwor sich Eleonore allerdings, sich nicht unterkriegen zu lassen. Schon einmal hatte sie gekämpft und verloren. Jetzt war Schluss! Dieses hier war ihre Schule und sie wollte bestimmen, was darin geschah.

    Mehrfach schon hatte Eleonore Gespräche mit den Eltern geführt, um sie von dem pädagogischen Wert dieses Erholungsraumes zu überzeugen. Das war aber nicht sehr einfach. Letztendlich hatte sie es auch nicht wirklich geschafft und den Kampf aufgegeben, alle überzeugen zu wollen.

    Ebenso gefielen den Eltern ihrer Schüler auch nicht die von ihnen selbstständig ausgearbeiteten und vorgebrachten Vorträge. Die Eltern wollten, wenn ihre Kinder schon zur Schule gehen mussten und in der Zeit nicht im häuslichen Betrieb helfen konnten, dass ihre Kinder etwas lernten und zwar mit Disziplin und Ordnung. Kinder hatten still zu sitzen und der Lehrerin zuzuhören. Sie sei verantwortlich für den Unterrichtsstoff und die Art, ihn den Kindern zu vermitteln. Würden ihre Kinder die Vorträge selber vorbereiten, bräuchten sie ja nicht mehr in die Schule zu gehen! Das waren ihre Argumente.

    Vor zwei Wochen kam Eleonore auf die Idee, einen Elternabend einzuberufen und den Eltern den pädagogischen Wert ihrer Lehrmethoden näher zu bringen. Sie ließ jedes Kind in Schönschrift eine Einladung schreiben und bat sie, den Eltern den Brief zu geben. Die Hälfte der Schüler kam am nächsten Tag wieder und äußerte, ihre Eltern hätten keine Zeit für Elternabende. Von der anderen Hälfte erschienen letztendlich fünf Eltern. Und das waren diejenigen, die Eleonores revolutionären pädagogischen Ideen schon zuvor gut fanden.

    Das Schultelefon stand im Lehrerzimmer. Eleonore hatte es auf das große, dunkle, massive Eichenregal, welches an der Wand hinter ihrem Schreibtisch stand, gestellt. Da sie kaum Anrufe erwartete, und um den Versuchungen der Schüler entgegenzusteuern, hatte sie es ganz oben untergebracht. In dem Regal lagerten ebenso alle ihre Utensilien, die sie täglich für die Schule brauchte: Kreide, Stifte, Ordner, Tuschkästen, Schulhefte, Papier und vor allem viele, viele Bücher. Bücher waren ihr heilig und sie besaß mit ihrer 27 Lebensjahren eine beachtliche Sammlung. Ganze vier Regalbretter des fast drei Meter langen Regals waren mit Büchern gefüllt. Zu diesen Zeiten war das eine große Seltenheit, selbst Bücher für die Schüler waren eine Rarität. Noch immer waren die Folgen des Krieges deutlich zu spüren.

    Eleonore ging zum Telefon und musste sich ordentlich strecken, um den Hörer zu erreichen. Sie nahm ihn ab, hielt ihn an ihr Ohr und dachte, dass vielleicht doch jemand am anderen Leitungsende zu hören war. Sie horchte kurz, sah den Hörer an, hielt ihn wieder an das Ohr und sagte:

    „Hallo, ist da jemand?"

    Natürlich kam keine Antwort, stattdessen ein monotoner Pfeifton. Ein bisschen enttäuscht legte sie den Hörer wieder auf die Gabel und wandte sich der Tür zu, um wieder zu gehen. In dem Moment klingelte das Telefon erneut. Eleonore wäre fast in Ohnmacht gefallen, so erschrak sie sich. Ihre Finger wurden ganz kalt und ihr Herz pochte wie nach einem Dauerlauf. Rusty, der ihr gefolgt war, schlug sofort an, lief auf das Regal zu, in dem das Telefon stand und sprang an ihm hoch. Eleonore befahl ihm, still zu sein. Als hätte Eleonore einen Ausschalter betätigt, erlosch sein Bellen augenblicklich und er legte sich mit dem Schwanz wedelnd vor das Regal. Eleonore griff rasch nach dem Hörer, hielt ihn an ihr rechtes Ohr und horchte. Es war still, kein Pfeifton, nur ganz leichtes Knistern war zu vernehmen. Vorsichtig, als käme im nächsten Moment etwas Unerwartetes aus dem Hörer, flüsterte Eleonore in der Hörer:

    „Ja?! Hallo?"

    Es knisterte weiter im Hintergrund, bis eine vorsichtige ebenfalls flüsternde Frauenstimme antwortete:

    „Hallo?!"

    „Ja, hallo. Wer spricht denn da?"

    Eine kurze Pause entstand und dann hörte man:

    „Müller! Alwine Müller aus Kiel! - Mutti!"

    „Mutti?", fragte Eleonore nun lauter.

    „Eleonore,- bist du es?", antwortete ihre Mutter nun auch mutiger.

    „Ja, ich bin es. Was für eine Überraschung, dass du anrufst. Wolltest du mein neues Telefon ausprobieren? Oder wolltest du sehen, ob dein Telefon funktioniert?"

    Es raschelte in der Leitung.

    „Ja! Mmh,- nein! Ich... ich dachte, ich rufe 'mal an und frage, wie es dir geht und ob du uns wieder einmal besuchen kommst?"

    „Ja, eigentlich wollte ich schon letztes Wochenende kommen, aber ich habe so viel zu tun!", antwortete Eleonore.

    Das entsprach der Wahrheit, aber sie hätte sich dennoch letztes Wochenende für einen Besuch freinehmen können. Parallel zu ihrer Tätigkeit als Lehrerin an ihrer Wittenberger Schule, arbeitete sie noch an einer zwei wissenschaftlichen Arbeiten.

    „Aber Kindchen, du musst auch einmal abschalten können. Wenn du immer nur arbeitest, hast du ja keine Freizeit mehr."

    „Mutti,- ich bin doch glücklich mit meiner Arbeit. Sie ist für mich wie Freizeit."

    „So hast du doch nie Zeit, um einmal herauszukommen", konterte Eleonores Mutter.

    „Was soll ich denn machen, wenn ich herauskomme?, fragte Eleonore und betonte dabei das Wort „herauskommen besonders.

    „Man muss doch auch einmal neue Leute kennenlernen. Du kannst doch nicht ewig alleine in deiner Schule hocken. Was sollen denn dann die ganzen Leute von dir denken?"

    Eleonore wurde etwas grantig:

    „Mich interessieren die anderen Leute nicht so sehr wie dich. Sie haben mir jahrelang gesagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Jetzt möchte ich endlich in Frieden so leben, wie ich es für richtig halte!"

    „Denk doch auch einmal an deine Eltern! Was sollen wir denn den Nachbarn, der Familie und den Freunden erzählen? Unsere Tochter sitzt immer nur in der Schule? Sie hat nur noch Zeit für ihre Schüler und nicht einmal mehr für ihre alten Eltern? Du musst doch auch einmal kommen und dich um uns kümmern!", warf Alwine Müller ihrer Tochter vor.

    Nun wurde Eleonore richtig ungehalten, denn sie war das Gejammer ihrer Mutter leid. Erbost antwortete sie:

    „Welche Freunde meinst du denn?! Und welche Familie? Meinst du mit Familie Vati, der jeden Tag 12 Stunden arbeitet, dann in die Kneipe geht und nachts laut schnarchend betrunken ins Bett fällt? Oder meinst du Elfrida, die im weit entfernten Stuttgart als halb ausgebildete Krankenschwester Alkoholikern in der Zelle hilft, wieder nüchtern zu werden? Oder meinst du dich, die sich immer nur mit Wäsche und Putzen und Kochen beschäftigt? Aber nein, du meinst wahrscheinlich einen von Vatis acht Brüdern, deren Namen er selbst nicht alle nennen kann? Oder meinst du deine Schwester, bei der wir nach dem Krieg zwei Jahre gnädigerweise in ihrer Gartenhütte ohne Heizung und Wasser wohnen durften? Und das auch nur, weil ich mit Elfrida täglich die Wäsche ihrer fünf Kinder wusch und den Haushalt führte und du sie morgens, mittags und abends bekocht hast? Meinst du das etwa mit Familie?!"

    Eleonore war überrascht von ihrer plötzlich aufkommenden Wut, sie bereute bereits das Gesagte und wollte sich gerade entschuldigen, als am anderen Ende nur noch ein Knacken zu hören war.

    „Mutti?", horchte Eleonore in den Hörer. So hatte sie noch nie mit ihrer Mutter geredet. Sie verstand gar nicht, was eben passiert war.

    „ ... ach Eleonore, hörte sie nun ihre Mutter seufzen. „Ich kann doch nichts für unsere Familie. Du weißt aber doch, wie ich es meine! Wir brauchen dich hier zu Hause. Ich muss mich um Anna kümmern und die Wohnung täglich sauber halten, kochen, bügeln und Wäsche waschen. Das schaffe ich kaum noch alleine! Anna ist noch viel zu jung, um mir zu helfen. Ich bräuchte so dringend Hilfe!

    Eleonore hatte gerade noch ihren Wutausbruch bereut, als sich nun ein neuer anbahnte, welchen sie nur schwer in Bann halten konnte:

    „Mutti! Warum brauchst du Hilfe? Du hast doch nur ein Kind und eine winzige Drei-Zimmer Wohnung. Du musst nicht arbeiten, sondern hast den ganzen Tag Zeit! Ich kann dir nicht mehr helfen und ich will es auch nicht mehr! Ich führe hier in Wittenberg mein eigenes Leben und du führst in Kiel dein Leben. Ich bin nicht verantwortlich für dich und deine Arbeit, so wie du nicht für mich und meine Arbeit zuständig bist. Du kannst nicht mehr mit meiner Hilfe rechnen. Es geht nicht! Ich bin nur für mich verantwortlich und für meinen Unterhalt. Was habe ich überhaupt für ein Glück, Arbeit zu haben. Und dann auch noch eine Arbeit, die ich liebe. Es bleibt keine Zeit! Es tut mir Leid, aber verstehe das doch endlich!"

    Nun wurde Alwine Müller ungehalten und sprach energisch in den Hörer:

    „Nein, das verstehe ich nicht, Lori! Da habe ich dich jahrelang großgezogen mit viel Liebe und wir haben unser ganzes Geld in deine Lehrerausbildung gesteckt. Das war für uns auch kein Zuckerschlecken! Oft mussten wir unsere eigenen Bedürfnisse zurückstecken, nur um dir die Ausbildung zu ermöglichen. Immer haben wir versucht, dich zu unterstützen und jetzt, wo ich dich einmal brauche, weil ich mich jahrelang für dich verausgabte, da hast du keine Zeit für mich und Vati! Ich..."

    Eleonore hörte ein Schluchzen, dann ein Räuspern. Sie verdrehte die Augen und wurde nun unsagbar wütend. Sie hatte sich geschworen, nie mehr das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern aufkommen zu lassen. Schließlich hatten sich die Eltern damals entschieden, Kinder zu bekommen. Bis auf Anna, sie war kein Wunschkind. Dennoch hatten ihre Eltern auch ihre Freude an ihren Kindern. Eleonore wollte sich nicht mehr ihren Eltern gegenüber verpflichtet fühlen. Sie war erwachsen und unabhängig. Das würde sie nie wieder aufgeben. Entschlossen antwortete sie:

    „Ich führe mein Leben und ihr führt das eurige. Gerne komme ich euch einmal am Wochenende besuchen, aber ich habe keine Zeit mehr, um eure Aufgaben mit zu übernehmen. Es tut mir Leid!"

    Sie hörte ihre Mutter mit sich ringen:

    „Ich verstehe dich nicht mehr. Du hast dich in der letzten Zeit so verändert. Vati ist jetzt … arbeitet immer ... da ist, dann trinkt er viel, was  ..."

    Es raschelte jetzt unentwegt in der Leitung und Eleonore verstand nur noch Bruchstücke, wie:

    „Oh, der Empfang … so schlecht. Ich wollte … für dich... Du erinnerst dich? … besprechen... vorbeikommen ..."

    Sie wollte das Gespräch sowieso zu Ende bringen und sagte:

    „Mutti, ich verstehe dich nicht. Irgendwie ist die Leitung so schlecht. Kannst du mich besser hören als ich dich?"

    „Was hast du ….", kam die Antwort. Dann erstreckte sich das Telefonat in einem Dauerrauschen.

    Eleonore legte auf. Es war Sonntag und sie überlegte kurz, ob sie ihre Eltern in Kiel-Gaarden spontan besuchen sollte. Eigentlich wollte sie die aufgebaute Distanz zu ihren Eltern eher ausbauen als wieder abbauen und endlich ohne Vormund leben. Ihre Eltern hatten ihr ein Leben lang vorgeschrieben, was sie wann, wo, wie, wozu und weshalb zu tun habe. Nun wollte sie endlich zur Ruhe kommen, um ihr Leben selbst zu gestalten. Und das war ihr gerade recht gut geglückt. Leider schien es aber doch nicht so einfach, sich von ihnen abzunabeln. Ihre Eltern hatten ihr tatsächlich jahrelang eine Ausbildung als Lehrerin finanziert. Sie fühlte sich weiterhin zu Dank verpflichtet. Ihre Eltern forderten ihn auch permanent ein. Wie um alles in der Welt kam man aus dieser Zwickmühle heraus?

    Für Eleonores Situation kam erschwerend hinzu, dass ihre Eltern der ein Jahr jüngeren Schwester Elfrida eine solche Ausbildung nicht ermöglichen konnten und wollten, obwohl diese liebend gerne den gleichen Weg eingeschlagen hätte. Elfrida hatte damals förmlich um Unterstützung gebettelt, aber ihre Eltern ließen sich nicht erweichen, da das Geld zu knapp war. Somit musste Elfrida nach dem Abschluss der Volksschule in einem privaten Kieler Haushalt als Haushälterin und Kindermädchen hart arbeiten, während Eleonore nach der Flucht die Ausbildung als Lehrerin in Kiel und Ahrensbök zu Ende bringen konnte.

    Trotz der Umstände wollte Eleonore endlich das Gefühl der Dankesschuld gegenüber ihren Eltern ablegen. Sie wollte sich nicht weiter vorhalten lassen, zum Dank verpflichtet zu sein und deshalb das tun zu müssen, was ihre Eltern ihr vorschrieben. Eleonore ahnte, dass es erst möglich wäre, sich von den Eltern gefühlsmäßig zu trennen, wenn sie den Kontakt auf das Minimum reduzierte. Aber irgendwie konnte sie dann doch nicht so kaltherzig sein.

    Das Schlimmste an der Situation war allerdings, dass sie noch Anna , ihre kleine fünfjährige Schwester hatte, die bei den Eltern lebte. Sie war sehr niedlich, hatte langes, glattes blondes Haar, das ihr die Mutter immer zu Zöpfen flocht. Ihr Gesicht war so süß mit der hohen Stirn und der entzückenden Stupsnase. Die blauen Augen strahlten viel Lebenslust aus und ihre vollen roten Lippen vollendeten das Bild des bezaubernden Mädchens. Vom Körperbau war Anna sehr zart und dünn. Eleonore liebte ihre kleine Schwester über alles und war sehr traurig, dass sie sie nach ihrem Umzug nach Wittenberg nicht mehr so oft sehen konnte. Auch Anna hing sehr an ihrer großen Schwester Eleonore und weinte erbärmlich, als Eleonore ihr erzählte, dass sie nun nach Wittenberg ginge.

    3 Rückblick

    Eleonore verließ das Lehrerzimmer und ging die steile Holztreppe zu ihrer Wohnung wieder hinauf. Rusty folgte ihr. Die Lust auf Arbeit war Eleonore vergangen. Sie setzte sich in ihren Sessel im Wohnzimmer, was für ein Luxus, nun ein Wohnzimmer zu besitzen, und dachte nach. Warum schaffte man mit fast dreißig Jahren nicht, sich von den Eltern zu lösen? Würde man sich ihnen gegenüber immer verpflichtet fühlen müssen?

    Vor einiger Zeit hatte Eleonore diese Umklammerung ihrer Mutter nicht mehr ertragen, war über Nacht von zu Hause „ausgebrochen" und ihren eigenen unabhängigen Weg gegangen. Ihre Eltern sah sie in der Zeit sehr selten. Den spärlichen Kontakt zu ihnen und vor allem zu ihrer geliebten kleinen Schwester Anna hielt Eleonore aber nach mehreren Monaten nicht mehr aus und hatte ihn vorsichtig wieder aufgebaut.

    Eleonore ließ ihren Kopf nach hinten in die Nackenstütze des Sessels fallen, schloss die Augen und ließ die Erinnerungen aus ihrer Zeit zwischen der Flucht und vor Wittenberg an sich vorbeiziehen. Das hatte sie bisher kaum gewagt. Aber irgendwann musste man sich ja der Vergangenheit stellen, man durfte sie nicht einfach ausblenden. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst. Man konnte sich nicht immer im Griff haben. Sie ließ ihren Gedanken jetzt freien Lauf und erinnerte sich.

    In der Zeit als Eleonore die Beziehung zu den Eltern völlig lahmlegte, arbeitete sie zunächst an unterschiedlichen Schulen, um Berufserfahrung zu sammeln. Dann erhielt sie bedingt durch den Lehrermangel eine Festanstellung als Lehrerin an der Realschule in Kiel-Gaarden. Während dieser Zeit baute sie das Verhältnis zur Mutter und zum Vater wieder allmählich auf, allein schon dadurch bedingt, dass ihre Eltern ganz in der Nähe der Realschule wohnten, aber besonders wegen des guten Verhältnisses zur kleinen Schwester Anna. Eleonore begann, ihre Eltern und Anna wieder regelmäßiger zu besuchen. Sie selbst hatte damals ein Zimmer in Kiel-Elmschenhagen gemietet und legte täglich den Weg zur Schule zu Fuß zurück. Das waren manchmal sehr lange und beschwerliche Fußmärsche, besonders im verschneiten Winter. Oft erschien sie mit Gummistiefeln und Regenjacke völlig durchnässt und durchgefroren im Klassenraum.

    Eleonore tauchte weiter in ihre Vergangenheit ein. Sie befand sich auf einer unaufhaltsamen Zeitreise. Angst überkam sie.

    Ein Tag veränderte ihr Leben als Lehrerin in Gaarden damals abrupt. Sie befand sich an ihrem Arbeitsplatz, einem Klassenzimmer der Gaardener Realschule. Dort saß sie, wie so oft nach Schulschluss nachdenklich an ihrem Lehrerpult in der leeren Klasse. Sie stützte ihre spitzen Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihren Kopf in ihre Hände. Die langen, gewellten dunkelblonden Haare fielen nach vorne und verdeckten ihr Gesicht. Ihrem Mund entfloh ein tiefer Seufzer. Im Flur hallten noch die letzten lauten Kinderstimmen nach. Aufgeregt unterhielten sich die Schüler über ihre gerade abgeschlossene Klassenarbeit. Eleonore hörte ein Kind sagen:

    „Das war gar nicht so eine schwere Arbeit. Frau Müller ist wirklich eine großartige Lehrerin. Sie kann uns alles so gut beibringen."

    Ein zweites Kind antwortete darauf:                                                                            

    „Ja, das finde ich auch. Und ihre kleine Schwester ist so niedlich. Ich habe sie neulich mit ihr gesehen. Aber meine Mutter sagt, dass sie etwas ..."

    Den Rest des Satzes konnte Eleonore nicht mehr hören, denn nun verklangen die Stimmen in der Ferne. Sie hörte, wie sich die Schultür schloss und dann wurde es ganz still. Wie sehr liebte sie diese Stille. Hier konnte ihr niemand etwas antun. Keine gehässigten Worte über ihr Äußeres, über ihr Wesen und über ihr Privatleben. Jeden Tag sehnte sie sich nach dieser Stille und menschenleeren Zeit. Sie stand auf und schaute aus dem Fenster. Einige Schüler waren noch auf dem Schulhof und diskutierten. Der Fahrradständer war leer, bis auf ein Fahrrad, es war das Fahrrad des Direktors, Bernd Reller. Sie wusste, dass er noch in der Schule war. Einerseits freute sie das, auf der anderen Seite wünschte sie ihn weit weg. Langsam ging sie zu ihrem Lehrerpult zurück, setzte sich auf ihren Stuhl und dachte nach.

    Vor einigen Monaten hatte Eleonore mit Bernd Reller und einem weiteren Kollegen, Lars Gronau, über ein neues moderneres Schulkonzept nachgedacht. Alle drei waren diesbezüglich sehr engagiert gewesen und hatten letztendlich ein großartig ausgereiftes Konzept entworfen, welches behutsam realisiert werden sollte. Es basierte vor allem auf mehr Toleranz gegenüber den Schülern und dem Abbau des bisherigen Frontalunterrichts. Allerdings fand es bei diversen Kollegen und Eltern nicht allzu großen Anklang. Eleonore ließ sich dadurch nicht entmutigen, sie setzte die neuen Prinzipien auch gegen Widerstand rigoros durch.

    Im Gegensatz zu ihr gingen Bernd Reller, Lars Gronau und andere Kollegen mit der Einführung des neu entworfenen Unterrichtsstils wesentlich behutsamer vor, um nicht auf zu viel Widerstand zu stoßen. Eleonore war wesentlich resoluter und ließ sich von abgeneigten Kollegen und Eltern nicht einschüchtern. Ihr moderner Unterrichtsstil widersprach allen bisherigen Methoden. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, war sie immer freundlich zu ihren Schülern und züchtigte sie nie körperlich. Für sie stand jeder einzelne Schüler im Vordergrund, für den sie sich auch nach dem Unterricht oder in den Pausen Zeit nahm. In jeder Klassenarbeit fand sie etwas herausragend Positives, was sie am Ende der Arbeit schriftlich besonders betonte und lobte. Sie verteilte nie Fünfen und Sechsen. Wie mit ihren Kollegen besprochen, ließ Eleonore ihre Schüler ab sofort eigene Referate vorbereiten, welche sie anschließend engagiert vortrugen. Durch ihren neuen Unterrichtsstil konnte Eleonore ihre Schüler so gut motivieren, dass alle immer gute Leistungen ablieferten und durchgängig gute Noten bekamen. Dies brachte ihr allerdings die Ablehnung der anderen Lehrer ein. Man glaubte, sie würde die Schüler zu positiv bewerten und auch die Klassenarbeiten zu leicht gestalten, eventuell dabei sogar unerlaubte Hilfestellung leisten. So ein Blödsinn! Um diese Vermutungen zu widerlegen, sah sich Direktor Reller gezwungen, ab und zu Eleonores Unterricht zu besuchen und zu beobachten. Als Direktor war er verpflichtet, sich um die Beschwerden der Kollegen und Eltern zu kümmern. Schon nach kurzer Zeit aber erkannte er den Erfolg von Eleonores Unterrichtsstil und stand schnell insgeheim voll und ganz hinter dieser modernen, jungen, einfühlsamen Lehrerin, die mutig das über Wochen neu ausgearbeitetes Unterrichtskonzept wesentlich konsequenter verwirklichte, als er und seine anderen Kollegen.

    Neben den Kontrollbesuchen gab es aber noch einen ganz anderen Grund, warum Direktor Reller sich Eleonores Unterricht immer öfter ansah. Er begehrte Eleonore unbeschreiblich. Schon nach der dritten zu beobachtenden Stunde hatten sich Eleonore und Bernd Reller am gleichen Tag nachmittags zufällig in der menschenleeren Schule getroffen. Sie hatten sich bis dahin unzählige Male bei Besprechungen gesehen, miteinander diskutiert und Pläne entworfen. Aber dieses Mal trafen sie sich zufällig ohne Grund und es war niemand in der Nähe. Bei diesem ungeplanten Treffen spürten beide erstmalig, dass sie sich körperlich wie Magneten anzogen. Es traf sie wie ein Blitz und es passierte das Unvermeidliche. Ungehemmt liebten sie sich im Klassenzimmer.

    Es blieb nicht einmalig. Regelmäßig nach Schulschluss, immer, wenn es Bernds Berufs- und Privatleben zuließ, kamen sie zusammen. Eleonore war sich von Anfang an bewusst, dass er verheiratet war und er seine Frau und sein Kind niemals

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