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Divine
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eBook406 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Divine ist ein Weltstar. Sängerin, Schauspielerin, Buchautorin. Grammy- und Oscar-Preisträgerin, für den Friedensnobelpreis nominiert. Ein Vorbild für viele Menschen, für die sie mit ihrem ehrlichen Charakter und ihrem reinen, fast schon puritanischen Auftreten ein Sinnbild für die Zukunft darstellt. Ihre Karriere ist ohne Makel und frei von Skandalen.

Vernon van Trekh ist ein erfolgreicher Werbefotograf, der sich auf digitale Bildbearbeitung spezialisiert hat und das Auge meisterhaft zu täuschen vermag.

Als sich ihre Wege kreuzen, bahnt sich eine schicksalhafte Wende an, die die gottgleiche Divine vor den Augen der Öffentlichkeit und ihrer sie verehrenden Fans zu Fall bringen und alles auf ewig verändern könnte.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum28. Feb. 2018
ISBN9783864025778
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    Buchvorschau

    Divine - H. D. Klein

    www.atlantis-verlag.de

    Kapitel 1

    Ende August

    Vor vier Wochen hatte ihn Christine mit einer Ankündigung überrascht.

    Nein, es war eigentlich keine Ankündigung gewesen, vielmehr war es ein zögerlich vorgebrachtes Darlegen über ein berufliches Angebot, mit dem sie sich anscheinend schon länger beschäftigte.

    Die Art und Weise, mit der sie ihm die Informationen vortrug und diese anschließend kommentierte, deutete darauf hin, dass ihr Vorhaben bereits weit über ein Planungsstadium hinaus gediehen war.

    »Vernon, ich habe ein Angebot von Vega International«, begann sie eines Abends unvermittelt nach dem Abendessen. Ihre Hände hielten das große, dünnwandige Weinglas fest umschlossen.

    Christine trank ihren Rotwein grundsätzlich aus diesen empfindlichen und überdimensionierten Designerstücken.

    Aus Gründen des Geschmacks und der Optik.

    Er war sich nicht ganz sicher, welcher der beiden Gründe ihr wichtiger war. Er selbst war in solchen Dingen nicht so wählerisch. Ihm genügten einfache Weine in einfachen, standfesten Gläsern. Es hatte endlose Debatten gedauert, bis sie ihm seinen geradlinigen Landwein in primitiven Behältnissen zugestanden hatte.

    Überrascht und erwartungsvoll lehnte er sich zurück.

    »Es geht dabei um ein großes Projekt. Einen Spielfilm«, sagte sie kurz angebunden.

    »Das ist doch fantastisch«, meinte er beeindruckt und wollte nach seinem gläsernen Behältnis greifen, doch dann überlege er es sich anders. Aus irgendeinem Grund schien die Situation mehr Eleganz und Würde zu verlangen. Unbewusst richtete er sich am Tisch gerade auf. Vielleicht lag es auch daran, wie Christine ihre Worte gewählt hatte. Fast wie eine Eröffnung beim Schach. Den weißen Bauern vor der Königin zwei Felder nach vorne. Im Grunde genommen kein dramatischer Zug, aber Christine hatte die Figur einen Hauch zu energisch bewegt.

    »Nun ja, es ist so«, fuhr sie nach einer fahrigen Handbewegung durch ihre kurzen, blonden Haare fort. »Man hat mir angeboten, die Produktionsleitung zu übernehmen. Der Job wäre für die Dauer von einem halben Jahr. Und …« Sie zögerte einen Moment, fuhr sich wieder durch die Haare, stellte das Glas ab. Dann blickte sie ihn offen an.

    »Der Film wird in L. A., sprich in den USA gedreht.«

    Das war es also. Vernon sah seiner Frau regungslos ins Gesicht. Er suchte darin nach einer Frage, nach einem »Was meinst du dazu?«, aber er konnte nichts dergleichen entdecken. In ihren ungewöhnlichen graugrünen Augen lag eine feste Entschlossenheit und ihre Kopfhaltung signalisierte eine verborgene Aggression. In diesem Augenblick hatte Vernon für einen Moment den Eindruck, einer Fremden gegenüberzusitzen. Das war nicht seine Christine, die er seit mehr als fünfzehn Jahren liebte und die er zu kennen glaubte. Ihre von Natur aus weichen Gesichtszüge hatten plötzlich etwas Hartes, etwas Kantiges angenommen. Und … täuschte er sich oder bewegten sich da tatsächlich ihre Nasenflügel mit einem unscheinbaren, nervösen Zittern?

    Christine war mit ihren 38 Jahren eine absolut attraktive Frau. Kurze blonde Haare, schlanke Figur mit einer verführerischen Schulterpartie. Wenn er an all die Jahre zurückdachte, waren es ihre Schultern gewesen, in die er sich damals zuerst verliebt hatte: sportlich geschwungene Linien, die von einem geraden Halsansatz in einem sanften Bogen nach außen verliefen und in ihm sofort Begehren hervorgerufen hatten.

    Eigentlich hatte sich ihre Gestalt in der vergangenen Zeit kein bisschen verändert. Die Linien waren natürlich erwachsener geworden und nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Kay hatte Christines Figur leicht mütterliche Konturen angenommen, aber gerade diese unmerkliche Verwandlung hatte seiner Frau zu einem extravaganten Aussehen verholfen, von dem nicht nur Vernon immer wieder begeistert war.

    Er setzte zu einer Frage an, hielt sie dann jedoch zurück.

    Die Ausgangslage war offensichtlich.

    Christine hatte Erfolg in ihrem Beruf. Trotzdem war ihr Betätigungsfeld im Wesentlichen auf nationale Produktionen beschränkt. Sie betreute vor allem Spielfilme, die im Inland mit positiven Ergebnissen liefen, im Ausland aber nur mäßige Beachtung fanden. Eine Tätigkeit bei einer großen internationalen Produktion würde ihr mit einem Schlag Anerkennung und Reputation einbringen. Einen Aufstieg in eine höhere Liga sozusagen.

    Sogar einen Aufstieg um zwei Ligen, dachte Vernon. Hollywood war schließlich ein vollkommen anderes Terrain als die Bavaria Filmstudios hier in München. Es könnte der Beginn einer ziemlich steilen Karriere für Christine sein.

    »Ich verstehe. Du meinst also damit, dass du für sechs Monate in Los Angeles arbeiten müsstest.«

    Seine Erwiderung fiel ungewollt etwas bissig aus, denn er hasste das flapsige Kürzel für die kalifornische Stadt, mit dem die Filmleute ihre vermeintliche Kollegialität gegenüber der amerikanischen Filmindustrie zum Ausdruck brachten. Unmerklich biss er sich auf die Unterlippe. Er sollte in dem Moment etwas rücksichtsvoller sein. Es war jetzt nicht der Augenblick für kleine Scharmützel.

    Christine schien seine Anspielung jedoch nicht bemerkt zu haben.

    »Ja, genau, ich meine, vielleicht würde es auch für eine kürzere Zeit sein, aber nach dem, was ich bisher an Informationen habe, sieht es nicht danach aus.«

    »Welche Informationen hast du denn?«, fragte er abwartend. Er war etwas ungehalten, weil ihm eine innere Stimme sagte, dass sie von alldem schon länger wissen musste. Früher wäre sie mit einer solchen Nachricht sofort zu ihm gekommen und sie hätten über die Sache gesprochen.

    Sie stand abrupt auf und holte ihre Zigaretten aus der Handtasche.

    »Vernon, die Details sind doch im Grunde jetzt unwichtig«, sagte sie gereizt und holte einen Aschenbecher aus dem Regal. »Es geht um zwei Punkte: die lange Zeit, in der wir mehr oder weniger getrennt sein würden, und natürlich die Frage, was wir mit Kay machen werden.«

    Sie schob den Teller mit den Essensresten zur Seite und stellte den Aschenbecher vor sich hin.

    »Es ist für mich die einmalige Chance, in meinem Beruf einen Riesenschritt weiterzukommen, deswegen möchte ich Vega Film unbedingt zusagen. Und Kay …« Sie zündete sich mit einem sanften Klicken ihres Porsche-Feuerzeugs die Zigarette an. »… und Kay würde ich gerne mitnehmen.«

    Entschlossen blies sie den Rauch zur Seite und sah ihn abwartend an.

    Vernon starrte einen Moment lang ins Leere. Irgendwo in seinem Innern suchten unterschiedliche Gefühle nach einem Halt. Es war nicht so, dass er von Christines Worten vollkommen überrascht war, denn in letzter Konsequenz hatte er angesichts ihrer sichtbaren Nervosität mit einer unangenehmen Mitteilung gerechnet, aber als sie die Fakten aussprach, musste er doch etwas schlucken. Und besonders nachhaltig traf ihn die Endgültigkeit der Pläne, mit der sie ihn konfrontierte. Das waren keine Entscheidungen, die sie aus dem Bauch heraus getroffen hatte. Sie musste schon länger davon wissen und alles nach und nach geplant haben.

    Und er hatte von alldem nichts mitbekommen. Anscheinend kannte er seine Frau doch nicht so gut, wie er geglaubt hatte.

    Nachdenklich drehte er sein Glas in der Hand.

    »Erzähl mir doch bitte mal, seit wann du von dem Angebot weißt«, fragte er unverfänglich und bemühte sich dabei, möglichst ruhig zu bleiben.

    »Hör mal, Vernon, ich habe dir doch eben gerade gesagt, dass das die Chance in meinem Leben ist«, sprudelte sie hervor, stand wieder auf und holte ihre überdimensionale Handtasche.

    Auf seine Frage ging sie nicht ein.

    »Bisher war immer nur deine Karriere wichtig. Du hast dir einen Namen als Fotograf in der Werbebranche geschaffen und ich habe dich dabei unterstützt, so gut ich konnte. Auch wenn ich deswegen manchmal Abstriche in meinem Beruf machen musste. Ich habe mich um den Haushalt gekümmert und dir Kay vom Hals gehalten, so weit es möglich war.«

    Sie drückte ihre Zigarette aus und wedelte mit der Hand den restlichen Rauch weg.

    »Und das war alles okay so. Es soll keine Beschwerde von mir sein, aber ich denke, dass ich nun einmal das Recht habe, an mich zu denken. Kay wird dieses Jahr dreizehn, sie ist aus dem Gröbsten raus. Außerdem hatten wir doch schon seit Längerem überlegt, sie einmal für eine Zeit lang auf eine Schule ins Ausland zu schicken. Das ist jetzt die Gelegenheit. Und sie wäre jetzt noch nicht einmal alleine. Ich wäre in ihrer Nähe und sie könnte mit Wendy in eine Klasse gehen …«

    »Moment, ganz langsam«, unterbrach er sie und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wer ist Wendy?«

    »Wendy, die Tochter von Marias Mann aus der ersten Ehe. Sie ist in dem gleichen Alter wie Kay.«

    Maria. Maria Schaeffler, ehemals Maria Schastok.

    Daher also wehte der Wind.

    Vernon glaubte zumindest, es zu wissen.

    Er atmete tief durch und versuchte gleichzeitig, seinen aufkommenden Ärger zu verbergen. Maria war für ihn der Inbegriff von weiblicher Heimtücke. Sie war eine jener Frauen, denen jeder Mann sofort nach ihrem Anblick hoffnungslos verfallen war und kurz darauf sein letztes Hemd für sie gegeben hätte, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Maria Schaeffler schaffte es, innerhalb weniger Minuten ihrem männlichen Gegenüber den Eindruck zu vermitteln, der Einzige zu sein, dem ihr Interesse galt. Vernon war es vor Jahren nicht anders gegangen, als sie ihm von Christine vorgestellt wurde. Bis dahin hatte er sich nicht unbedingt für einen Typ von Mann gehalten, der von einem Moment zum anderen von einer Frau absolut begeistert war, aber dieses Weib – er sprach das Wort in Gedanken mit purer Verachtung aus – hatte ihn damals mit ihrer sinnlichen Augen- und Körpersprache regelrecht verführt. Diese zufälligen und sanften Berührungen mit ihrer Hand, dieses vertraute und im Nachhinein doch geheuchelte Interesse an seiner Person. All das hatte ihm ungemein geschmeichelt.

    Schließlich war er nach dieser ersten Begegnung sogar so weit gegangen, sie unter einem fadenscheinigen Vorwand auf ihrem Handy anzurufen, um sich mit ihr zu verabreden.

    Das Treffen kam wenige Tage später zustande und sie setzte ihr erotisches Spiel mit anfangs geschickt geführter langer Leine fort. Aber schon nach einem viertel Liter Merlot di Gudo rückte sie näher an ihn heran.

    Greifbar nahe.

    Vernon war ihr in diesem Moment verfallen, hätte alles dafür gegeben, sich diesem großen, einladenden Mund nähern zu dürfen, ihr eindeutige Dinge zuzuflüstern und auf den Augenblick zu warten, in dem sie nachgeben würde. Aber so weit ließ sie es nicht kommen. Sie ging rechtzeitig wieder auf Distanz und vertröstete ihn auf ein anderes Mal. Auf eine bessere Gelegenheit, wie sie es ausdrückte, und ließ ihn mit seinen dummen Träumen zurück.

    Aufgewacht war er erst, als ihm Christine eines Abends berichtete, dass sich Maria bei ihr bitter über seine plumpen Annäherungsversuche beschwert hatte. Merkwürdigerweise ging sie mit keiner Andeutung auf sein heimliches Treffen mit Maria ein, sondern behandelte ihn wie einen fünfjährigen Jungen, dem die Mutter geduldig erklärte, dass er noch zu jung zum Autofahren sei.

    »Mach dir keine Gedanken darüber«, hatte sie zu ihm gesagt. »Maria ist einige Nummern zu groß für dich. Sie ist auf der Suche nach einem ganz großen Fisch, du warst für sie nur eine Übung auf dem Weg dahin; und ich kann dir versichern, du bist nicht der Einzige, der auf ihre Masche hereinfällt.«

    Nach Christines Worten war er wütend über seine eigene Dummheit und am meisten ärgerte er sich darüber, dass er sich jetzt genau wie ein Fünfjähriger vorkam, dem man gerade eben seine Unfähigkeit zum Autofahren erklärt hatte.

    Maria hatte er seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber er wusste aus Christines Erzählungen, dass sie im Laufe der Zeit einige große Fische gefangen hatte. Der letzte war Gerald M. Schaeffler, ein mit einem Oscar gekrönter deutscher Filmmusiker aus Los Angeles.

    Wenn er bis dahin sprachlos über Christines Pläne war, so fiel ihm nach der Erwähnung von Marias Namen überhaupt nichts mehr dazu ein.

    Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen war ihm bisher immer unverständlich gewesen. Es musste an der Mystik dieser Frau liegen, von der auch Christine in irgendeiner Weise beherrscht wurde. Auf jeden Fall grenzte die Beziehung an eine Art Religion.

    Und Maria war die unbestrittene Gottheit.

    »Ich verstehe«, brachte er tonlos hervor. Er fragte sich, ob es überhaupt Zweck hatte, seine Gegenargumente darzulegen, denn Christine begann nun mit einer heftigen Leidenschaft, ihn mit weiteren Ausführungen über ihre Zukunftsperspektiven und beruflichen Möglichkeiten zuzuschütten.

    Dann langte sie in ihre Handtasche und brachte einen großen wattierten Umschlang zum Vorschein.

    »Hier, das ist das Drehbuch. Die Verfilmung des neuen Romans von Sabine Renner, ›Die Sandburg‹. Die Produktion ist ausschließlich in deutscher Hand, obwohl der Film in den USA gedreht wird. So etwas kommt selten vor. Stell dir doch mal vor, welche Möglichkeiten sich da bieten. Wenn das Projekt ein Erfolg wird, steht uns alles offen. Wir könnten uns dann finanziell mehr leisten, wir kommen vielleicht endlich mal aus dem muffigen München raus. Unser Denken wird viel globaler sein. Und wer weiß, vielleicht könnten wir eines Tages die Hütte hier verkaufen und ganz an die Westküste ziehen …«

    Fassungslos blickte er sie mit ungläubigen Augen an.

    Was sollte das denn sein?

    Es waren weniger ihre Worte, die ihn sprachlos machten, als vielmehr die ungeheuerliche Aufzählung, die soeben zutage gekommen war.

    Möglichkeiten, Erfolg, mehr Geld, globales Denken, an die Westküste ziehen … Bisher hatten sie sehr zufrieden und mit vielen Möglichkeiten gelebt – und mit genügend Erfolg und Geld. Und so weit er zurückdenken konnte, hatte sich Christine bisher noch nie über eingeengtes Denken oder gar über ihr gemeinsames Heim beschwert. Was brachte seine Frau dazu, ein großzügig eingerichtetes und modernes Haus mit mehr als 2000 Quadratmeter Grund als Hütte zu bezeichnen, selbst wenn sie den Ausdruck mehr in einer burschikosen Leichtfertigkeit dahingesagt hatte?

    Sein Blick schweifte über die exklusiven Designermöbel von Schmid und Sarkowski, die eigens für das Esszimmer angefertigt worden waren und einen schweren Kontrast zu der eleganten Benz-Schrankwand aus Glas bildeten. Lag es vielleicht daran, dass hauptsächlich er sich um die Ausstattung gekümmert hatte? Andererseits hatte sich Christine noch nie um die Auswahl der Möbel bemüht und laut ihrer eigenen Aussage hatte sie auch kein Gespür für Innenarchitektur, sofern man bei der über die Jahre gewachsenen Einrichtung der Zimmer überhaupt von einer Innenarchitektur sprechen konnte. Im Grunde genommen waren die Möbel Einzelstücke, von denen jedes einzelne eine Geschichte erzählen konnte.

    Je länger er darüber nachdachte, desto mehr empfand Vernon den Ausdruck Hütte geradezu als Verrat.

    Und überhaupt: muffiges München. Wer schwärmte ihm denn permanent vor, in welch herrlicher Gegend sie lebten? München, die Kulturstadt, die Oper, die Berge, die Seen, die Nähe zu Italien!

    Offensichtlich hatte Maria Schaeffler ihren Einfluss auf Christine um mehr als nur einige Nuancen verstärkt, und das in relativ kurzer Zeit.

    Was ihn jedoch am meisten daran erschreckte, war das unerwartete und anscheinend kompromisslose Infragestellen ihres bisherigen Lebens.

    Er fühlte eine innerliche Verkrampfung und ermahnte sich zur Besonnenheit. Mit einer beiläufigen Bewegung nahm er den Umschlag in die Hand und blickte auf den Versandstempel: 19. Juni 2013. Das bedeutete, dass sie das Drehbuch schon vor zwei Monaten erhalten hatte. Nachdenklich schob er den braunen Umschlag zur Seite.

    »Christine, bitte, einen Moment. Mir geht das alles zu schnell. Glaub mir, es ist nicht so, dass ich mich nicht für dich freue, aber ich komme mir so überrumpelt vor. Ich habe das Gefühl, vor vollendeten Tatsachen zu stehen, ohne dass meine Meinung dabei jemals gefragt war …«

    »Das heißt also, du bist dagegen?«

    Vernon versuchte, seinen aufkommenden Zorn im Zaum zu halten. Mit betonter Beherrschung lehnte er sich zurück. Eine Hand ließ er entspannt auf dem Umschlag liegen.

    Ganz ruhig bleiben. Und vor allem sachlich.

    »Es geht nicht darum, ob ich gegen oder für etwas bin. Ich möchte etwas in Ruhe diskutieren, das uns beide betrifft.« Er hob die Ecke des braunen Umschlages mit dem Poststempel leicht an. »Du hast das Drehbuch im Juni bekommen, das heißt, du weißt von dem Angebot schon seit über zwei Monaten. Warum hast du mir damals nichts davon erzählt?«

    Mist, ein Fehler! Eben noch hatte er sich zu sachlichem Diskutieren ermahnt. Sein Hinweis auf den Poststempel war ein glatter Vorwurf.

    Er sah am plötzlichen Funkeln in ihren Augen, dass er damit das eigentliche Problem angesprochen hatte.

    Christines Kiefermuskeln traten sichtlich hervor.

    »Dass ich vielleicht selbst mit mir erst einmal im Reinen sein wollte, kommt dir dabei nicht in den Sinn, oder?« Sie lehnte sich mit einer unpassend entspannten Haltung zurück und sah ihn beinahe verächtlich an. »Typisch Mann. Wenn Frauchen einmal nicht so reagiert, wie er es sich vorstellt, kommen sofort die Vorwürfe.«

    Ein Pauschalurteil auf seine Frage. Sie wusste genau, wie lächerlich ihre Aussage war, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, sie trotzdem auszusprechen.

    Sie wollte seine Frage also nicht beantworten.

    »Es war eine Frage, kein Vorwurf«, entgegnete er so ruhig wie möglich.

    Er ärgerte sich über Christines plumpe Verteidigung und vor allem ärgerte er sich über seine Hand auf dem braunen Umschlag, die wie von alleine zur Faust geworden war.

    Ihre Behauptung, zwei Monate über das Angebot nachgedacht zu haben, war ein reines Ausweichmanöver. Ganz abgesehen davon bedurfte die Idee mit Kay und der Schule einer längeren Vorbereitung. Und so, wie die Dinge lagen, war es bereits eine beschlossene Sache.

    So konnte es nicht weitergehen.

    »In Ordnung, vielleicht ist es am besten, wenn wir ganz von vorne anfangen«, meinte er beschwichtigend. »Du hast einen Job in Aussicht …« Er zögerte einen Moment. »… und ich gehe einmal davon aus, dass du ihn annehmen willst. Du wirst dich für ein halbes Jahr im Ausland aufhalten. Gut. Du willst Kay mitnehmen. Warum? Ich meine, sechs Monate sind keine so ungeheuer lange Zeit. Warum soll sie unbedingt mitkommen?«

    »Weil sich jemand um sie kümmern muss. Wenn sie hierbleibt, passt sie sich nur deinem Lebensstil an. Was im Endeffekt heißt: Hamburger, Fritten, Computer und TV bis zum Abwinken. Kay ist in einem kritischen Alter und ich bin der Meinung, dass du alleine nicht die richtige Anlaufstelle für sie sein kannst. Du bist 24 Stunden am Tag mit deiner Fotografie und deiner Bildbearbeitung beschäftigt. Kay würde in der Zeit machen, was sie will, und dir auf der Nase herumtanzen. Auf der Schule in den USA dagegen steht sie unter meiner Aufsicht, zudem ist sie dort gefordert und hat keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn.«

    Lebensstil. Nicht die richtige Anlaufstelle! Vernon blieb bei diesen Worten die Spucke weg. Es klang fast so, als wäre er ein entfernter Onkel, den Kay ab und zu besuchte und der eigentlich nicht so ganz in ihr soziales Gefüge passte.

    Hamburger und Fritten. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal mit Kay bei McDonald’s haltgemacht hatte. Des Weiteren war es eine absolute Ausnahme, wenn er mal »bis zum Abwinken vor dem Fernseher hockte«. Seine Tochter war viel zu quirlig und zu intelligent für solch eine tumbe Freizeitgestaltung. Außerdem hatte sie sehr früh alle möglichen Sportarten für sich entdeckt. Meistens fielen ihr schon beim Abendessen die Augen vor Müdigkeit zu.

    Christine ging also immer noch eine harte Gangart.

    Das Warum war ihm vollkommen rätselhaft.

    Sie musste genau wissen, wie ungerechtfertigt ihre Argumente waren, und trotzdem tischte sie ihm einen Mist nach dem anderen auf.

    »Ach, und übrigens«, fuhr sie eisern fort. »Natürlich wird Kay nicht nur sechs Monate auf der Schule bleiben. Sie muss schon ein ganzes Jahr absolvieren, besser noch zwei. Aber das ist kein Problem. Maria sagt, es wäre eine Freude für sie, sich ein wenig um ihre Erziehung zu kümmern. Und L. A. ist heutzutage direkt von München aus zu erreichen. Ein Katzensprung. Ich kann also nach dem halben Jahr zwischendurch immer wieder kurz zu ihr rüberfliegen und nach ihr sehen.«

    Natürlich. Kurz rüberfliegen. Katzensprung.

    Er konnte es nicht fassen.

    Im Grunde genommen gab es jetzt nur zwei Möglichkeiten.

    Die erste bestand darin, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, seinen ganzen aufgestauten Ärger herauszulassen und Christine wütend zu fragen, ob sie noch bei Verstand wäre.

    Fragen zu stellen.

    Unter anderem, ob Frau Maria Schaeffler vorhatte, seine Familie auseinanderzubringen. Oder ob gar Marias Hang zu mysteriösen Religionsvorstellungen und ihre Kontakte zu dieser geheimnisvollen Sekte mit im Spiel seien. Diese Befürchtungen waren ihm in den letzten Minuten in den Kopf geschossen – eine Befürchtung, die ihm Angst machte. Andererseits war Christine viel zu clever, um einer so gefährlichen Verführung zu erliegen. Er kannte ihre Einstellung. Niemals wäre sie einer unseriösen Gemeinde verfallen und schon gar nicht würde sie es zulassen, dass ihre Tochter damit in Verbindung gebracht wurde.

    Als Nächstes wäre es wichtig, seine Reputation wiederherzustellen, von der er gar nicht gewusst hatte, dass sie ihm abhandengekommen war. Das Ruder wieder an sich reißen. Vorsichtig nach Hintergründen suchen, die Vergangenheit nach Fehlern abtasten. Wieder Vertrauen gewinnen.

    Ihre Blicke trafen sich kurz und er erkannte, dass dies ein langwieriger Prozess werden würde.

    Es gab noch eine zweite Möglichkeit.

    Keine sehr elegante Lösung, aber sie schien ihm die einzig machbare zu sein.

    Für einen Moment war er über sich selbst überrascht, als er sagte: »Na gut, wenn du meinst, dass es dich weiterbringt und es gut für Kay ist …«

    Danach fühlte er sich wie betäubt.

    Seitdem waren vier Wochen vergangen.

    Christine war nach seiner überraschenden Zustimmung in ein tiefes Loch der Irritation gefallen. Sie hatte sich zunächst mit Eifer in ihre Arbeit und den anstehenden Vorbereitungen für das neue Projekt gestürzt, kam aber mit zunehmender Dauer ins Grübeln.

    Vernon registrierte ihre Verwirrung mit einer gewissen Genugtuung. Gleichzeitig aber mit Enttäuschung, denn auch nach seiner kampflosen Kapitulation hatte sie es nicht für nötig befunden, ihn über den einen oder anderen Umstand näher aufzuklären. Damit war ihr Zusammenleben auf einen höflichen Austausch nichtiger Informationen reduziert, die mehr oder weniger das eigentliche Problem zukleisterten.

    Ein unerträglicher Zustand, aber Vernon war von seiner Seite aus nicht bereit, auch nur den Versuch eines weiteren Abfragens nach den Hintergründen zu starten.

    Er war neugierig darauf, wie lange seine Frau dieser Situation standhalten würde, und hielt sich zurück.

    Das war unfair von ihm, besonders in dieser ernsten Lage, und er wusste das. Es hatte in den Jahren ihres Zusammenseins noch nie eine lange dauernde Missstimmung gegeben. Irgendwann hatte ein zaghaftes »Du blöder Hund« oder ein unwirsches »Dumme Gans« immer das Eis gebrochen.

    Dieses Mal war jedoch alles anders.

    Beide kreisten vorsichtig um die veränderten Positionen, nur mit dem Unterschied, dass Vernon nach wie vor keine Ahnung hatte, wie es dazu kommen konnte.

    Nach einigen Tagen fragte er sich ernsthaft, ob es nicht seine Pflicht als Ehemann, Familienoberhaupt – oder was auch immer – wäre, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Wenn er schon Christines Plänen zugestimmt hatte, musste er auch dazu stehen und sie unterstützen, so gut er konnte.

    Dummerweise wurde er aber eines Tages unfreiwillig Zeuge eines Telefongesprächs, das sie mit Maria Schaeffler führte. Er konnte keine Zusammenhänge verstehen, aber ein in Abständen auftretendes glockenhelles Lachen wies auf ein verschwörerisches Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den beiden Frauen hin. Als Christine seine Anwesenheit im Haus bemerkte, beendete sie sehr schnell das Gespräch und erwähnte es später ihm gegenüber auch nicht.

    Irgendwie war Krieg.

    Mit Bitterkeit und Trotz beschloss er, den Status quo als billige Rache aufrechtzuerhalten.

    Was ihm nicht schwerfiel, denn die Urlaubszeit war zu Ende gegangen und damit häuften sich die Besprechungen und Vorbereitungen für die nächsten Fotoproduktionen. Ganz bewusst verwendete er darauf den Großteil seiner Konzentration und Energie. So kam es nicht selten vor, dass er spätabends nach Hause kam und anschließend vollkommen erschöpft ins Bett fiel. In diesen Momenten wurde ihm klar, dass Christine in Bezug auf Kay recht gehabt hatte. Er lebte zwar nicht gerade in der Kulturwelt von Burgern und Cola, aber er hätte gar keine Zeit gehabt, sich um seine Tochter zu kümmern. Dabei war es nicht so, dass es unbedingt nötig gewesen wäre. Kay half schon seit jeher unaufgefordert im Haushalt. Für Vernon war es unverständlich, dass sie daran auch noch Spaß zu haben schien. Manchmal befürchtete er gar, ein künftiges Hausmütterchen herangezogen zu haben, war dann aber immer wieder beruhigt, wenn er den Elan und die Energie seiner Tochter im täglichen Leben beobachtete. Sie hatte keine Probleme in der Schule, war ein absolutes Bewegungstalent, spielte hervorragend Tennis und Fußball, schwamm die fünfzig Meter unter fünfzig Sekunden und fand Jungs ganz okay.

    Trotzdem: Er würde einfach wenig Zeit für sie haben und er musste Christine zustimmen, wenn sie sagte, es sei ein schwieriges Alter, auch wenn er davon bisher nichts bemerkt hatte.

    Ein fremdes Land in früher Jugend zu erleben, musste etwas Fantastisches sein. Und Kay war von der Aussicht begeistert. Keine Spur von Betrübnis gegenüber dem Zurücklassen des Gewohnten oder Angst vor der Fremde.

    Vernon war ein wenig stolz auf seine Tochter.

    Christine dagegen machte eine ernste Krise durch. Wegen der Zeitverschiebung von neun Stunden gegenüber der Westküste der USA hatte sie ihren Tagesrhythmus umgestellt und fing erst gegen Mittag an zu arbeiten. Sie saß fast ausschließlich in ihrem Arbeitszimmer am Telefon und surfte im Internet, nahm ihr Essen (Hamburger, Pizza und Cola) vor dem Computer ein und begann, Vernon zu beschuldigen, dass er sie nicht genügend unterstütze. Ihre Vorwürfe gipfelten darin, dass sie sich jeden Abend über sein Frühstücksgeschirr beschwerte, das er nachlässig in der Spüle zurückgelassen hatte. Eine Steigerung davon war, dass sie Brotreste auf dem Tisch beanstandete.

    Es war einfach lächerlich.

    Zusätzlich stand Kay in den Ferien erst gegen 11:00 Uhr auf und nervte sie mit Fragen über die USA und den üblichen kleinen Problemchen. Außerdem gab es anscheinend Schwierigkeiten mit den Formularen für die Ummeldung von der Schule in München zu der deutschen Schule in Los Angeles. Offenbar hatte Maria Schaeffler den Vorgang nicht rechtzeitig in die Wege geleitet und nun war es unsicher, ob für Kay noch ein Platz frei war. Als Christine ihn bat, einen Freund von ihm in Los Angeles anzurufen und um Hilfe zu bitten, lehnte er mit einem verständnislosen Kopfschütteln ab:

    »Entschuldige, aber Rainer ist ein armes Schwein, das glaubt, unbedingt in Hollywood Karriere machen zu müssen. Er jobbt Tag und Nacht, um wenigstens dort überleben zu können. Maria hat einen einflussreichen Komponisten geheiratet, der nur mit dem Finger zu schnippen braucht, wenn er etwas möchte. Was soll also das Ganze?«

    Zugegeben, seine Ablehnung war sehr brüsk gewesen, denn schließlich ging es auch um seine Tochter, aber Christine und Maria telefonierten jeden Tag miteinander, hatten die Planung für das Projekt USA übernommen und ihn mehr oder weniger ausgesperrt, warum sollte er also plötzlich als Nothelfer einspringen und einem verdrehten Möchtegernschauspieler langwierig erklären, worum es ginge und was er tun sollte?

    Die Reaktion auf seine Ablehnung

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