Seewölfe - Piraten der Weltmeere 364: Die Totenrutsche
Von Roy Palmer
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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 364 - Roy Palmer
10
1.
Joao Nazario, der portugiesische Freibeuter, hockte hoch oben in der Astgabel einer mächtigen Zypresse und ließ sein linkes Bein baumeln. Hin und wieder nahm er den Kieker zur Hand und schaute lange und prüfend hindurch.
Der Aussichtspunkt erinnerte an den Großmars einer Galeone. Punta Gorda und ein großer Teil der Nordostküste von Hispaniola konnte von hier aus überblickt werden, ja, im Osten reichte die Sicht sogar fast bis zum Cabo Engano, das an der Mona-Passage lag. Nichts konnte der Aufmerksamkeit eines guten Ausgucks entgehen – und das war Joao Nazario.
In den Elendsvierteln von Lissabon war er geboren und aufgewachsen. Als Kind riß er von zu Hause aus und heuerte auf einem Seelenverkäufer an. Er hatte Stürme, Messerkämpfe, Meutereien und Seegefechte erlebt, war als Schiffbrüchiger an fremde Strände getrieben und von Wilden gefangengenommen worden. Es war fast ein Wunder, daß er noch am Leben war.
Zäh war er, dieser Joao Nazario. Fast sechs Fuß groß und hager, höllisch gewandt im Messerkampf und ungemein schnell, vermochte er fast jedem Gegner zu trotzen. Mit seinen langen dunklen Haaren, die ihm in Strähnen bis auf die Schultern hingen, und der großen, gekrümmten Nase, die sein Gesicht prägte, wirkte er wie das Urbild eines Piraten.
Irgendwann, irgendwo hatte er Gilbert Sarraux kennengelernt, und sie hatten sich zusammengetan. Auf verschlungenen und abenteuerlichen Wegen waren sie in die Karibik gelangt und auf Hispaniola „hängengeblieben". Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Nichts schien sie trennen zu können.
Sarraux stand am Fuß der Zypresse, mit der Hand gegen den Stamm gelehnt. Er stammte aus Frankreich, und doch war er kein typischer Franzose, sondern ein Bretone, und das wollte etwas heißen, nämlich: Er war klein und untersetzt, breitschultrig und rothaarig. Ein alter Gallier – daß seine Vorfahren Kelten gewesen waren, ließ sich nicht leugnen.
Ein breites Gesicht voller Sommersprossen hatte Gilbert Sarraux, mittendrin funkelten listige graublaue Augen. Küstenhai, Beutelschneider, Galgenstrick und Schnapphahn, all das war er in einer Person, und Nazario hätte keinen verläßlicheren Kumpan zur Seite haben können, denn der Einfallsreichtum des Bretonen war unerschöpflich.
Sie unterhielten sich in einem französisch-portugiesischen Kauderwelsch, denn Sarraux beherrschte außer Französisch und seiner keltischen Heimatsprache nur noch ein bißchen Spanisch und ein paar portugiesische Brocken, die er von Nazario aufgeschnappt hatte. Dieser wiederum konnte kein Wort Französisch. Also waren sie auf ein wüstes Sprachengemisch angewiesen.
Wieder spähte Nazario durch den Kieker, und dieses Mal straffte sich seine Gestalt. „Donnerwetter, sagte er. „Da rauscht ein stolzer Schwan heran. Wie ein Spuk ist er an der nordwestlichen Kimm erschienen.
Der Bretone hob den Kopf. „Und? Der Kahn hat Kurs auf uns anliegen?"
„Sieht so aus. Folglich gibt es zwei Möglichkeiten."
„Wie immer im Leben, sagte Sarraux und grinste. „Entweder etwas Gutes oder etwas Schlechtes. Wie sieht er denn aus, der Kahn?
Der Portugiese gab sich Mühe, Einzelheiten des fremden Schiffes zu erkennen. Er kniff das rechte Auge zusammen. „Ein Dreimaster, ziemlich groß. Zweidecker obendrein, gut bestückt. Die Segel sind dunkel geloht. Nur irgendwie zerrupft sieht er aus."
Der Bretone spitzte den Mund und spuckte geräuschvoll aus. „Zwei Gründe gibt es für das Zerrupft-Sein – Sturm oder ein Gefecht."
„Sturm haben wir nicht gehabt, die letzten Tage und Nächte waren verhältnismäßig ruhig, sagte der Portugiese von seinem luftigen Sitz. „Also hat der Bruder einen Kampf hinter sich, und das nicht zu knapp.
„Er ist also keine Bedrohung für uns?"
„Kaum. Eher braucht er Hilfe."
„Wie groß ist die Besatzung?"
„Ein paar Kerle auf dem Hauptdeck, zwei auf der Back, drei oder vier auf dem Achterdeck, erwiderte Nazario. „Kein allzu großer Haufen.
„Der Kapitän braucht Männer, Proviant, Trinkwasser und Munition für seine Kanonen, sagte Sarraux. „Hoffentlich bildet er sich nicht ein, er könne uns darum prellen.
Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. Gleichzeitig gab Nazario zum Inneren der Insel hin eine Reihe von Handzeichen, die nur verstehen konnte, wer in Punta Gorda seßhaft war.
Knapp hundert Yards entfernt erhob sich ein dürrer Mann mit verschrumpeltem, verkniffenen Gesicht von seinem Lager, das aus getrocknetem Schilfgras und ein paar Lumpen bestand. Er blickte aus schmalen Augen zu Sarraux, brummelte etwas Unverständliches und leitete die Meldung ziemlich unwillig weiter.
Dodger hieß dieser Kerl – jedenfalls wurde er von allen nur so genannt, der Schwindler also, weil er die haarsträubendsten Lügengeschichten aufzutischen pflegte, wenn er ein paar Mucks üblen Zuckerrohrschnapses gekippt hatte. Keiner kannte Dodgers richtigen Namen, keiner wußte, wie alt er war, es ließ sich auch schlecht schätzen. Wo er geboren war, war auch nicht bekannt. Dodger selbst hatte erhebliche Gedächtnislücken und schien sich im übrigen nur höchst ungern an seine Vergangenheit zu erinnern.
Er hauste in einer Hütte auf einer wackligen Plattform, die er selbst in mühsamer Arbeit in der Krone eines gigantischen Eukalyptus’ errichtet hatte. Das „Baumhaus befand sich in schwindelnder Höhe, und nur einmal in der Woche stieg Dodger hinunter, um die wichtigsten Besorgungen zu erledigen oder in „El Escarabajo
, der Hafenspelunke von Punta Gorda, tüchtig einen zu heben und seine wilden Geschichten zum besten zu geben.
Dodger hatte eine Anzahl von Signalflaggen zur Verfügung, von denen er jetzt eine hißte. Der Eukalyptus stand am Saum des Urwalds, aber wegen seiner immensen Höhe war das Signal bis weit in den Busch zu erkennen. Hier lebte auf einer Lichtung, die eine Art Rondell auf einer sanften Anhöhe bildete, der Zwerg Amintore mit seinen beiden Frauen.
Amintore, nur knapp über vier Fuß groß, war italienischer Abstammung. Seit zehn Jahren lebte er auf Hispaniola – mit Rosa, seiner Frau, einer dicken, müden Matrone, die an nichts Interesse zu haben schien als am Essen, und mit Annamaria.
Annamaria war eine Mulattin, schön wie ein Paradiesvogel, und mindestens zwanzig Jahre jünger als Amintore, der seinerseits behauptete, zwölf Jahre jünger zu sein als Rosa, deren genaues Alter kaum zu erraten war. Amintore versicherte, daß Annamaria seine Tochter wäre, aber niemand nahm ihm das ernsthaft ab.
Der Spott, mit dem man ihn verfolgte, hatte ihn dazu veranlaßt, vom Hafen in den Dschungel zu ziehen. Hier sammelte er Wurzeln und seltene Früchte, die er in Punta Gorda verkaufte. Er konnte feilschen wie ein Levantiner und ließ sich von keinem übers Ohr hauen.
Ganz leise hatte Amintore Sarraux’ Pfiff vernommen und trat vor seine Hütte. Er sah die Flagge munter im Nordostwind flattern und wußte Bescheid.
„Annamaria, sagte er. „Lauf zum Hafen. Sag den Männern Bescheid, daß sich ein Dreimaster aus Nordwesten nähert. Er segelt schon dicht unter Land. Beeil dich.
Annamaria verließ die Hütte und eilte leichtfüßig wie eine Gazelle davon. Amintore sah ihr etwas verärgert nach. Wieder trug sie nur einen Fetzen am Leib, obwohl er sie schon oft ermahnt hatte, sich besser zu kleiden. Sie gab dann aber immer ziemlich patzig zurück, daß sie nichts anzuziehen habe. Amintore wußte dagegen nichts einzuwenden, er war machtlos. Annamarias Auftauchen im Hafen würde wie üblich einiges Aufsehen erregen. Aber sie wußte sich gegen die schmierigen, grinsenden, verwahrlosten Kerle zur Wehr zu setzen.
Rechtzeitig, bevor das fremde Schiff das Kap rundete, das Punta Gordas Bucht nach Westen hin vorgelagert war, würde man im Hafen also unterrichtet sein und Vorkehrungen treffen. Die Einmaster wurden bemannt, die Geschütze an Land besetzt, und in den Häusern verschanzte sich jeder, der eine Muskete hatte, um etwaigen Angreifern einen heißen Empfang zu bereiten. Schon mancher Angriff auf Punta Gorda war auf diese Weise zurückgeschlagen worden. Wilde Kämpfer waren die Kerle, die hier lebten, sie ließen sich so leicht nichts wegnehmen.
Das