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Sturm der Verbannten
Sturm der Verbannten
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eBook357 Seiten4 Stunden

Sturm der Verbannten

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Über dieses E-Book

Man erzählt sich, alle Völker seien von den Göttern erschaffen worden. Selbst die Cric. Bestialische Kreaturen, seelenlose Mörder, grotesk in ihrem Aussehen und ihrer Gestalt. Schwarze Schattengestalten der Menschen in einem natürlichen Panzer, mit langen scharfen Krallen und gefährlichen Reißzähnen. Ihr Auftrag soll es gewesen sein, das Gleichgewicht zwischen den Völkern, der Natur und der Magie der Götter wiederherzustellen. Also begannen die Cric zu jagen.
Erfolgreich. Zu erfolgreich.
Und die Kreaturen, die dazu geschaffen worden waren die Welt zu retten, drohten sie nun noch schneller in den Untergang zu reißen. Doch den Göttern gelang es, die Cric rechtzeitig zu verbannen und eine neue Harmonie zu schaffen.
Heute erzählt man sich die Überlieferung über die Cric als ein Ammenmärchen, um unartige Kinder zu erschrecken.
Doch was, wenn alles wahr ist?
Und was, wenn der Bann gebrochen wäre?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juli 2017
ISBN9783945230275
Sturm der Verbannten

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    Buchvorschau

    Sturm der Verbannten - Tanja Kummer

    PROLOG

    »Siehst du sie irgendwo?«, fragte der Wind den Stein.

    »Ja, sie sind in den flüsternden Wäldern.«

    »Ich kann sie ebenfalls sehen«, sprach die Eiche. »Du musst es tun!«

    »Der richtige Zeitpunkt ist gekommen!«, wisperte das Feuer.

    »Ja«, stimmten die anderen zu.

    »Dem, was ihr von mir verlangt, kann ich unmöglich nachkommen. Wir dürfen uns nicht auf diese Art in ihr Leben einmischen. Es ist nicht richtig«, säuselte der Wind.

    »Das Leben bedeutet Veränderung«, erklärte die Linde. »Wenn der Herbst kommt, dann verliere ich meine Blätter. Im Winter friere ich, und meine Äste drohen zu sterben. Im Frühling aber erwache ich zu neuer Blüte.«

    »Genau«, stimmte ihr die Kastanie zu.

    »Wir alle werden sterben, wenn du es nicht tust!«, erhob sich die mahnende Stimme der Blauen Rose. Ihre Worte hatten mehr Gewicht.

    »Dann soll es seinen Anfang nehmen«, fügte sich der Wind dem Willen der anderen.

    DIE SUCHE

    Die schmale Sichel des Mondes hatte sich vom Horizont der Welt aus immer weiter in die Höhe geschoben und nun ihren höchsten Punkt erreicht. Der fahle Schein der Dämmerung war längst der Dunkelheit der Nacht gewichen.

    Die aufziehende Wolkenwand kündigte Regen an. Sie verdeckte das letzte Licht des Mondes und der Sterne. Der Sommer war trocken, heiß und unerträglich schwül, doch das Grollen des Unwetters in der Ferne versprach eine baldige Abkühlung.

    Eine sanfte Brise war des Sturmwindes Vorbote. Sie streifte durch die großen Wipfel der jahrhundertealten Eichen. Sachte umspielte sie das Laubdach und erzählte flüsternd Geschichten ihrer langen Reise. Und der Wind kannte viele Legenden, denn es gab ihn seit Anbeginn dieser Welt.

    Im Schutz einer Eiche verharrte eine lauschende Gestalt. Ihre Haltung war in der Bewegung erstarrt und leicht vornüber gebeugt, den hölzernen Bogen in einer zärtlichen Umarmung. Noch befand sich der Grund, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte, nicht in unmittelbarer Nähe. Schleichend setzte er seinen Weg fort. Die Schritte waren auf dem trockenen Blattwerk nicht zu hören. Wie ein Geisterwesen schien er darüber hinweg zu schweben. Kurz darauf verharrte die Gestalt wieder und tauchte dann in das Unterholz, das sich vor ihm erstreckte. Den Bogen ließ er geräuschlos ins Laub sinken und blickte, unsichtbar für die Beobachteten, aus seinem Versteck hinaus.

    Die Reisenden hatten am anderen Ende der Lichtung unter dem dichten Blätterdach einer Eiche Schutz vor der Nacht gesucht. Das Feuer erhellte ihre Gesichter und der Unbekannte konnte erkennen, dass es zwei Männer waren. Einer davon groß, kräftig und eindeutig ein ausgebildeter Krieger. Der andere war klein und schmal, fast schmächtig. Zugleich wirkte er weder zerbrechlich noch schutzlos. Stärke in Form von Macht umgab die Gestalt wie eine würdevolle Aura. Dem Gesicht des Mannes war die große Verantwortung abzulesen, welche er trug. Gram und Sorgen hatten darin tiefe Falten hinterlassen.

    Ein Blick auf die Kleidung von guter Qualität, die Ausrüstung und die drei Pferde ließen keinen Zweifel zu. Es war eindeutig, dass die Reisenden wohlhabend waren. Dennoch entsprachen sie nicht dem gewohnten Bild von reichen Kaufleuten, die ihre wertvollen Frachten wohl bewacht in Handelszügen durch das Land fuhren. Sie waren nicht unterwegs, um ihre Waren auf den Märkten der Städte feilzubieten. Jeder Dieb oder Räuber konnte das sehen.

    Die Wolkenwand des Unwetters war heran. Mit kräftigen Händen packte der Wind nun nach den Bäumen, begann sie zu schütteln, streifte durch ihre Äste und ließ die schweren Eichen ächzen.

    Wer sind diese Leute, Vater?, fragte die Gestalt im Busch in seinen Gedanken. Um ihn herum war nichts außer der Nacht, dem Wald und dem Unwetter. Trotzdem gab ihm eine säuselnde Stimme auf dieselbe stumme Art eine Antwort.

    Ihre Namen spielen keine Rolle, wisperte sie ihm ins Ohr.

    Warum hast du mich hergebracht?, fragte die Gestalt.

    Doch die Stimme des Vaters, deren Ursprung so ungreifbar war wie ein Gedanke, schwieg. Ein leises, unglückliches Seufzen entrann der Kehle des Fremden.

    Ich verstehe. Du möchtest, dass ich ihnen meine Hilfe anbiete. Aber der Vater schien nicht mehr gewillt zu sein, den ungeduldigen Fragen seines Sohnes Gehör zu schenken oder sie gar zu beantworten.

    Die Gestalt erhob sich, schulterte den Bogen und sprang auf die kleine Lichtung. Fast im selben Augenblick zuckte ein Blitz vom Himmel und erleuchtete die Nacht für den Moment eines Atemzuges mit einem grellen, unwirklichen Licht.

    Die Reisenden sahen erschrocken auf und erhaschten in der kurzen Helligkeit einen menschlichen Schatten, bevor die Dunkelheit zurückkehrte. Trotzdem starrten sie weiter auf die umrisshafte Gestalt des Fremden, der wie aus dem Nichts erschienen war.

    Der ohrenbetäubende Schlag des Donners mahnte die Menschen, genau wie die Bewohner des Waldes, sich rasch Schutz zu suchen.

    Die Gestalt ging los, schritt über die Lichtung, trat an die Männer heran und nickte ihnen höflich zu.

    »Setzt Euch an unser Feuer, Fremder«, bot ihm der kleinere der beiden die Gastfreundschaft ihres Nachtlagers an.

    Dankbar nickend ließ er sich nieder, damit das Licht sein Gesicht erhellen konnte. Abschätzende Blicke streiften ihn und er erwiderte sie freundlich.

    Der Fremde konnte dem Bild, welches er sich bereits gebildet hatte, kaum etwas hinzufügen. Außer der Tatsache, dass die Männer fast gleichaltrig waren und die Leichtigkeit ihrer Jugend hinter ihnen lag. Sie waren in einem Lebensabschnitt, in dem man Kinder hatte und sich stolz deren Fortschritten widmete: zu Hause, bei der Familie. In Frieden.

    Wieder zuckte ein Blitz gen Boden. Gleich darauf grollte der Donner. Sehr viel lauter und bedrohlicher.

    »Es ist noch etwas von unserer Abendmahlzeit übrig. Falls Ihr hungrig seid, könnt Ihr Euch von dem verbliebenen Fleisch so viel nehmen, wie Ihr wollt.«

    Der Mann ihm gegenüber machte eine Geste auf das Essen. Dankbar nickte er, hob aber ablehnend die Hände.

    »Was ist mit Euch los, Fremder?«, knurrte die tiefe und dunkle Stimme des Kriegers. Sie klang wie das feindselige Grollen eines Bären. »Sind wir Euch zu gut, Herr? Redet Ihr nicht mit Leuten unseren Standes?«

    Traurig schüttelte er den Kopf und klopfte mit der rechten Hand gegen seinen Kehlkopf.

    »Halte dich zurück, Silbur«, sagte der Wortführer zu seinem Gefährten, als er die Geste erkannte. »Er ist stumm.«

    »Tut mir leid, Fremder«, entschuldigte sich Silbur.

    Die Finger des Fremden formten nun verschiedenartige Figuren, so langsam und deutlich, dass sie für die Reisenden gut zu erkennen waren. Der Kleinere der beiden schüttelte bedauernd den Kopf.

    »Einst beherrschte ich die Sprache der Jäger«, sagte er dann. »Im Laufe der Zeit habe ich vieles vergessen, da ich kaum Möglichkeiten fand sie anzuwenden.« Er sah niedergeschlagen und müde aus.

    Erneut formte er Worte in seiner Fingersprache und der Mann nickte.

    »Ihr wollt uns helfen? Sieht man so deutlich, dass wir Hilfe benötigen?« Der Wortführer lächelte traurig und Silbur neben ihm knurrte, um ihn zu ermahnen, niemandem zu vertrauen. »Ihr seid von hier?«

    Er nickte.

    »Ein Bauer erzählte uns, dass wir in den Flüsternden Wäldern Antworten auf unsere Fragen bekommen würden. Dass wir hier Hilfe finden könnten und unsere Suche ein Ende fände. Seit zwei Tagen irren wir aber nun schon umher, ohne jemandem begegnet zu sein. Ihr seid das erste menschliche Wesen, das wir in diesem alten Wald treffen. Vielleicht wisst Ihr, wohin wir gehen müssen? Fremder, wir suchen nach dem Ort, an dem wir die Blaue Rose finden. Niemand weiß, wo sich dieser befindet. Doch wir benötigen dringend das Wissen und die Weisheit der Hüterin. Zahlreiche Plätze haben wir aufgesucht, heilige Männer und Gläubige befragt, aber keiner konnte uns helfen.«

    Er seufzte und versuchte erneut, sich den Männern mitzuteilen.

    »Mehr als dass Ihr uns helfen wollt, verstehe ich leider nicht, Fremder. Wisst Ihr etwa, wo wir die Blaue Rose finden können?«

    Er nickte sehr deutlich und ohne Zweifel. Es sollte ihnen vermitteln, dass er es wirklich wusste. Mehr als einmal war er dort gewesen und hatte selbst Rat gesucht. Doch er konnte es ihnen nicht sagen. Auch nicht, dass sie im falschen Teil des Landes nach ihr forschten. Ebenso wenig, wie beschwerlich und gefährlich die Reise dorthin werden würde.

    Silbur grunzte abfällig. »Woher sollen wir wissen, dass es nicht ein Ort ist, an dem wir schon gesucht haben, wenn er uns nicht sagen kann, wo er ist?«

    »Natürlich hast du Recht, Silbur. Doch ich möchte ihm glauben. Er ist der Erste, der behauptet den Ort zu kennen. Kein anderer hat je so überzeugend auf mich gewirkt. Und außerdem, was kann es schaden? Es ist besser, ihm zu folgen, als im Wald herumzuirren.«

    Silbur gab einen widerwilligen, aber dann doch zustimmenden Kehllaut von sich.

    »Finden wir die Blaue Rose in der Nähe?«

    Er schüttelte den Kopf. Dann machte er eine Geste zu den Pferden. Zusammen mit der deutlichen Erklärung, dass sie ein weiteres Tier und Vorräte benötigten. Schließlich zeigte der Fremde in südöstliche Richtung.

    »Wir müssen nach Wyrett, ein Pferd kaufen und unseren Proviant aufstocken. Richtig?«

    Er nickte.

    »So soll es geschehen, Freund!«, bestimmte der Wortführer und ein neuer Hoffnungsschimmer glühte in seinen Augen. »Ich bin Ansgar, und das ist mein Beschützer und Weggefährte Silbur.«

    Höflich nickte er.

    »Morgen früh brechen wir auf.«

    Wieder zuckte ein Blitz aus dem Himmel. Diesmal schlug er knapp neben dem Lager der Reisenden ein und spaltete eine der riesigen Eichen in zwei Teile. Wind stob dazwischen und Feuer begann aus dem Holz zu züngeln, während die Baumteile ächzend und krachend zu Boden sanken. Die Blicke der drei Männer richteten sich auf den Baum jenseits ihres Ruheplatzes. Sie starrten auf die Flammen, die sich bald in dem trockenen Laub und dem Geäst ausbreiten würden, während der Donner über ihr Lager rollte.

    Die Pferde neben ihnen blähten die Nüstern, warfen die Köpfe erschrocken zurück und schauten sich gehetzt um. Das Weiße in ihren Augen wurde sichtbar und sie legten die Ohren an, während sie an ihren Fußfesseln zu zerren begannen.

    Silbur wollte bereits aufspringen um die Tiere zu beruhigen, doch der Fremde hielt den Krieger zurück. Im selben Moment lösten sich schwere, dicke Silberperlen aus dem Himmel und fielen funkelnd in milchigen Perlmuttfarben herunter. Als sie auf den Boden trafen, verblasste ihre Schönheit und sie ließen feuchte und kalte Flächen auf Erde, Haut und Kleidung zurück. Das Wasser, welches sich nun in Strömen über sie ergoss, löschte den Brand des Baumes und ihr Lagerfeuer fast augenblicklich.

    Obgleich sie unter dem gewaltigen Blätterdach der Eiche hockten, vermochte dieses nicht sie zu schützen. Die Wassermassen waren zu groß, zudem trug der Wind die Tropfen von der Lichtung an ihren Platz.

    Ansgar und Silbur zogen die Decken heran, die sie mitgebracht hatten und kuschelten sich schützend darunter. Er besaß keine. Der Regen prasselte auf seine Haut und auf seine Kleidung. Der Umstand war ihm nicht unangenehm. Stattdessen hieß er die Feuchtigkeit mit jeder Pore seines Körpers willkommen. Die Tränen des Himmels waren erfrischend und führten eine kühle Brise mit sich.

    Dampfschwaden quollen aus Ritzen und Spalten des trockenen Bodens und brachten den Geruch von erfrischter Erde mit sich. Die Pferde beruhigten sich und drängten dichter zueinander.

    Die beiden Männer zogen sich bis zum Stamm der Eiche zurück, wo es nicht ganz so feucht war. Hier legten sie sich nieder. Er jedoch blieb sitzen und wachte in der Nacht, während er seinen eigenen Gedanken nachhing. Ihm war der Umstand verhasst, dass er sich seinem Umfeld gelegentlich nicht verständlich machen konnte. Er war es leid und stellte einmal mehr diese eine Frage.

    Sag mir, Vater, womit habe ich diese Strafe verdient?

    Alles folgt einer Ordnung, mein Sohn. Zu sein, was und wer du bist, hat dich die Stimme gekostet.

    Und dich? Was war dein Preis für die Unsterblichkeit?

    Was ich bezahlen musste, um der Wind zu sein? Schau mich an, wenn du kannst. Ich bin überall und nirgends richtig. Mich hat es meinen Körper gekostet. Und du bist mein Sohn. Du bist der Prinz des Windes, flüsterte ihm sein Vater ins Ohr.

    Ich habe nie darum gebeten. Ich wurde nie danach gefragt. Du hast diese Entscheidung bei meiner Zeugung getroffen. Aber ich bin dieser Bürde nicht gewachsen.

    Schweig! Erzürne mich nicht, mein Sohn! Ich werde diese Unverschämtheiten von dir nicht länger dulden. Du bist unsterblich! Das ist kein Joch, es ist eine Ehre, heulte der Wind und fegte in einer kräftigen Böe über das Lager hinweg.

    Er schwieg. Alleine mit sich und seinen Gedanken.

    Er gehörte zu einem Volk, das nur noch in den Legenden existierte. Schöpfer, die längst aus dem Leben der Wesen dieser Zeit verschwunden waren. Sein Geschlecht trug zahlreiche Namen: Altes Volk, oder Erstgeborene. Sie waren all das und mehr. Sehr viel mehr. Geister der Elemente. Götter.

    Einst, zu Beginn der Zeit, waren sie mit dieser Welt vereint – durch Magie mit ihr verbunden. Dann lernten sie, ihre Macht zu nutzen. Sie formten sich Körper und suchten ihre Freiheit darin. Das war die Geburtsstunde seines Volkes. Es folgten Jahrhunderte, in denen sie sich frei entwickelten und ihre Magie einsetzten. Sie veränderten die Welt so, dass sie sich ihren Bedürfnissen besser anpasste. Einige von ihnen kehrten zum Ursprung dessen zurück, was sie zu Beginn gewesen waren. Sie ermöglichten es den anderen, sehr viel einfacher über die Elemente zu verfügen. Sie opferten ihren Körper und ihren freien Geist, um den Willen der Erstgeborenen zu erfüllen. Von da an hatten sie keinen Einfluss mehr darauf, was die Erstgeborenen taten. Diese seines Volkes nannten sich von nun an die Verschmolzenen.

    Einer der Verschmolzenen war Jeseth gewesen, sein Vater, nun das Element des Windes. Andere vereinigten sich mit dem Wasser, dem Feuer und der Erde. Sie verbanden sich mit dem Gestein und den Tieren der Welt. Eine von ihnen wurde die Blaue Rose, die Wächterin über die Geheimnisse des Lebens und des Todes. Sie verbarg in der Weichheit ihrer Blütenblätter den Ursprung des Lebens, in ihrem Duft die süßen Verlockungen und in ihren Dornen den Tod. Sie war die Hüterin des Wissens und der Zeit. Viele aus seinem Volk gingen zu ihr, um Antworten zu bekommen, die sonst keiner wusste.

    Nachdem die letzte aller Fragen gestellt worden war, und sein Volk nach etwas Neuem gierte, begannen sie mit ihrer Kraft erneut Leben entstehen zu lassen. Sie schufen Kreaturen, deren Erscheinungsbild ihrem eigenen ähnelte. Doch sie machten sie minderwertig, denn sie gaben ihnen nur irdische Existenz, aber keine Magie. Ihre erste Schöpfung waren kleine haarige Wesen, kaum größer als ein Wolf. Diese gingen gebeugt, weil ihre Arme zu lang und die monströsen Hände zu schwer waren. Ihre schmalen, glitzernden Augen in den einfältigen Fratzen glühten stumpf und ohne Intelligenz, doch von einer künstlichen Leidenschaft beseelt, wann immer sie Erz sahen.

    Die Erstgeborenen erfreuten sich viele Jahre an diesen Wesen. An ihrer verbissenen Suche nach dem Erz, welches sie glücklich machte, sie ernährte und ihre Zahl wachsen ließ. Dann wurde es seinem Volk langweilig und sie schufen neues Leben. Dieses war gewaltig. Titanen, die alles zertraten, was sich ihnen in den Weg stellte und die Steine liebten. Aber ihr Gewicht machte sie träge und sie schliefen viel. Manche von ihnen Tage und Wochen. Danach wuchsen neue Rassen wie Pflanzen aus dem Boden. Unzählige Varianten. Zahlreiche Begierden. Bald begannen sie einander zu bekriegen, weil sie zu viele waren und die Rohstoffe knapp wurden. Andere bekämpften sich, weil sie die benachbarten Wesen fürchteten und es entstanden Legenden und Sagen.

    Die Erstgeborenen sahen im Verborgenen zu und ergötzten sich an den Kriegen ihrer Geschöpfe, die sie liebevoll als ihre Kinder bezeichneten. Jene Rasse, die sie Menschen nannten, erwies sich als besonders lernfähig, überlegen und zäh. Sie zu beobachten wurde sein Volk nicht überdrüssig. Mit den Jahren wuchs ihre Anzahl rasch an. Gut organisiert verteilten sie sich im ganzen Land. Die Erstgeborenen, die unentdeckt bleiben wollten, zogen sich an die entlegensten Orte dieser Welt zurück. Doch die Zahl ihrer Möglichkeiten schwand im Laufe der Jahrzehnte rasch dahin.

    Eines Tages geschah es, dass dem Alten Volk eine Veränderung auffiel. Das Land wurde krank. Und damit ihre Magie. Dies war etwas, was sie nicht erwartet hatten. Hilflos sahen sie zu, wie ihre Welt starb, ohne dass sie die Ursache fanden. Eine Panik ergriff sie, derer sie nicht Herr werden konnten. Erst als es fast zu spät war, erinnerten sie sich daran, dass die Blaue Rose alle Antworten kannte.

    Die Hüterin sagte ihnen, dass das Land stürbe, weil es zu sehr ausgebeutet wurde. Dass es der Rassen zu viele seien. Die Flüsse wären verschmutzt, die Erde hätte ihre Nährstoffe verloren und die Berge würden durch unzählige Tunnel einstürzen. Sie prophezeite das Sterben der Welt und damit auch das Ende der Magie. Niemand würde überleben.

    Nach den erschreckenden Worten der Blauen Rose waren sich die Erstgeborenen einig, dass ihre Kinder die Schuld an dem traf, was in dieser Welt geschah.

    Sie beschlossen, die Zahl der Rassen zu verringern, damit sich das Land erholen konnte. Dazu formten sie mit ihrer Magie neue Wesen. Eine erbarmungslose Armee, welche die von ihnen geschaffene Vielfältigkeit ausdünnen sollte. Bestialische Kreaturen, seelenlose Mörder, grotesk in ihrem Aussehen und ihrer Gestalt. Schwarze Schattengestalten der Menschen in einem natürlichen Panzer, mit langen scharfen Krallen und gefährlichen Reißzähnen. Die Cric waren geboren. Und sie begannen zu jagen. Mit Erfolg.

    Doch schon bald ließ sich die unfassbare Zahl der Cric nicht mehr kontrollieren. Sie taten das, wozu sie geschaffen worden waren. Viele Völker wurden in diesem Krieg gänzlich ausgelöscht. Zuerst jene Rassen ohne kriegerische Neigungen. Andere widersetzten sich anfänglich sehr erfolgreich. Doch letzten Endes würden auch sie fallen, da die Cric zu übermächtig waren. Zudem starb die Welt weiterhin, und das sogar noch viel schneller.

    Fassungslos erkannten die Erstgeborenen ihren Fehler. Ihre neu erschaffenen Mörder waren es jetzt, welche das Land mit ihrem Gift zerstörten. Erneut trat sein Volk vor die Blaue Rose. Diese offenbarte ihnen die schwierigste aller Aufgaben. Nur gemeinsam konnten Erstgeborene und Kinder es jetzt noch schaffen, ihr Land vor dem Untergang und den Cric zu retten. Wenn nicht, wäre das Ende der Welt unabwendbar.

    In jener Stunde der größten Angst überwanden die Erstgeborenen die Mauer der Abgeschiedenheit und offenbarten sich den Rassen. Sie ersuchten sie um Schutz und Hilfe. Der Anführer der Menschen, ein alter und weiser Mann namens Roderok, kannte all die zahlreichen Legenden über das Alte Volk. Er hoffte, dass ihre Magie noch nicht zu sehr geschwächt war, und sie zu mächtigen Verbündeten werden würden. Roderok war es auch, der die verschiedenen Rassen vereinte und sie gemeinsam mit den Erstgeborenen in den Krieg gegen die Cric führte.

    Angetrieben und mitgerissen vom Gefühl der Zugehörigkeit, trunken von Kampfeslust und Hoffnung, rafften die Erstgeborenen all ihre Magie zusammen. Gemeinsam beschworen sie Naturgewalten und ließen eine gewaltige Spalte in der Erde entstehen. Dorthin verbannten sie die Cric. Um die Schlucht zu versiegeln, erschufen sie einen lebendigen Stein. Den Stein der Völker. Von nun an galt es, diesen zu beschützen und zu pflegen, um zu gewährleisten, dass die Cric ihrem Gefängnis niemals mehr entkommen würden.

    Zum Zeichen der Einigkeit aller Rassen wurde der magische Gegenstand in einen Schrein, der Die Wache genannt wurde, inmitten des Landes gebettet. Um diesen Ort zu verteidigen, erbauten die Völker gemeinschaftlich einen Palast. Gleichzeitig entstand eine Stadt, welche von einer gut befestigten Wehrmauer umschlossen war. Seitdem lebte von allen Rassen ein ausgewähltes Mitglied im Goldenen Palast, um das eigene Volk in der neu gebildeten Regierung zu vertreten.

    Er, der Fremde, war in die Welt des gemeinschaftlichen Friedens geboren worden. Möglicherweise als Beweis dafür, dass die Erstgeborenen und die Verschmolzenen sich von ihren Kindern nicht so sehr unterschieden. Immerhin war er das Zeugnis einer solchen Vereinigung.

    Doch er glaubte, in Wahrheit genau aus demselben Grund wie die anderen Rassen erschaffen worden zu sein: Er sollte ein weiteres Geschöpf zur Unterhaltung der Erstgeborenen werden.

    Gleich wie, eines war sicher. Sein Vater, der angeblich körperlose Wind, belog ihn immer wieder. Denn das, was er trotz allem nicht ganz ohne Stolz seinen Erzeuger nannte, besaß durchaus Stofflichkeit. Oder wie wäre es dem Wind sonst möglich gewesen, ihn zu zeugen? Möglicherweise aber war es ihm durch Magie gelungen, denn sein Vater war wie alle aus dem Volk der Erstgeborenen sehr mächtig. Und unsterblich. Und diese Unvergänglichkeit, zusammen mit der Fähigkeit Magie zu nutzen, hatte er geerbt.

    Er seufzte. Ja, er war hier und das schon seit vielen Jahrhunderten. Seitdem hatte sich so manches verändert. Oft fühlte er sich fremd, und das in seiner eigenen Welt. Erneut seufzte er und stand auf. Er würde trockenes Brennholz suchen gehen, denn inzwischen war es unangenehm frisch geworden.

    Als der neue Tag endlich dämmerte, hatte es aufgehört zu regnen und die Wolken waren weitergezogen. Regentropfen lagen wie Perlen auf dem sanften Grün der Gräser und Farne, die auf der Lichtung wuchsen. Zwei mutige Rehböcke standen am anderen Waldrand und kosteten von den erfrischenden Halmen. Als sich Silbur unruhig im Schlaf bewegte, scheuchte er das Wild von ihrem Frühstück auf. Mit anmutigen Sätzen verschwanden sie im Unterholz. Der Fremde blieb noch eine Weile sitzen, dann entzündete er ein neues Feuer. Daran konnten sich die Reisenden die kühlen Gliedmaßen wärmen. Das taten sie dann auch, nachdem sie wach geworden waren.

    Silbur kramte ein paar Vorräte heraus und bot ihm etwas davon an, doch er lehnte dankend ab.

    »Seid Ihr gar nicht neugierig zu erfahren, weshalb wir die Blaue Rose suchen?«, fragte Ansgar nun.

    Natürlich war er das.

    »Ich hatte einen Traum«, begann Ansgar darum. »Es war genau vor einem Mondwechsel, als ich in Angst und schweißgebadet erwachte. Mein Herz raste vor Furcht und es dauerte Minuten, bis ich mich daran erinnern konnte, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich stand auf, kleidete mich an und verließ mein Schlafgemach, um zur Wache zu eilen.«

    Der Fremde legte den Kopf schief. Offenbar machte ihm etwas an der Erzählung stutzig. Das freute Ansgar, denn es bewies ihm, dass der Mann nicht so weltfremd war, wie er den Eindruck erweckte.

    »Als ich diese erreichte, lagen die Soldaten der Palastwache erschlagen am Boden. Mein Albtraum war wahr. Der Stein der Völker war geraubt worden.«

    Die Finger des Fremden bewegten sich.

    »Ja, ich bin König Ansgar. Ein direkter Nachkomme aus der Familie des Roderok, Herrscher über die Rasse der Menschen.«

    Erneut nickte der Mann und stellte in der Fingersprache eine Frage, aber der König schüttelte den Kopf.

    »Ich verstehe euch nicht. Es tut mir leid.«

    Der Fremde zuckte mit den Achseln und machte eine auffordernde Geste, mit der Erzählung fortzufahren.

    »Am frühen nächsten Morgen riefen wir eine Versammlung der Vertreter der Rassen ein. Wie Ihr sicher wisst, wohnen im Goldenen Palast nur noch die Gesandten der Marwens. Und diese waren uneinsichtig und starrköpfig.«

    »Mehr als das«, grollte Silbur verärgert über die milde Umschreibung der Ereignisse. »Sie beschuldigten uns, wir hätten den Stein selbst gestohlen, um unsere Rasse zu bereichern. Dabei weiß jedes Kind, dass dieser magische Gegenstand keinem einzelnen Volk von Nutzen wäre.«

    Der Fremde stimmte Silbur zu, zumindest für all jene, die nicht über Magie verfügten. Doch wer steckte hinter dem Diebstahl? Hatte jemand den Stein nur gestohlen, um sich daran zu erfreuen? Um Geld zu erpressen? Oder trachtete wirklich jemand danach ihn zu missbrauchen? Und wer wäre in der Lage so etwas zu tun?

    »Die Marwens waren ziemlich aufgebracht. Sie sprachen die Drohung eines Krieges aus, würde der Stein nicht binnen einer Frist von sechs Monaten an seinen ursprünglichen Platz zurückkehren. Sie beauftragten mich mit der Suche.« Ansgar hob die Hände, offenbar ahnte der König, welche Frage er ihm nun gestellt hätte. »Selbstverständlich hätte ich meine Soldaten und Vertrauten schicken können, doch ich bin fest davon überzeugt, dass sie den Stein nicht finden werden. Es ist Vorsehung! Erneut ist meine Familie dazu bestimmt die Welt zu retten!«

    Der Krieger neben Ansgar brummte missbilligend. Offenbar war der König alleine mit seiner Überzeugung. Schließlich gab es für solche Aufgaben Soldaten und Helden wie Silbur.

    »Seitdem sind wir unterwegs und haben alle uns bekannten Tempel in unserem Land abgesucht. Aber nichts und niemand war in der Lage uns zu helfen.«

    Der Fremde nickte, schlug die Handinnenflächen gegen seine Brust und machte eine große, umarmende Bewegung.

    »Ja, ich hoffe auch, dass uns das Glück nun endlich hold sein wird«, seufzte Ansgar.

    Sein Blick ruhte auf der Gestalt des Königs, während er das eben Gehörte verarbeite. Die Geschichte warf neue Fragen auf, die seine ganze Aufmerksamkeit benötigten, so erschreckend waren sie. Was würde geschehen, wenn der Stein der Völker nicht mehr an seinen angestammten Platz zurückkehrte? Das Siegel der Verbannung wäre gebrochen. Die Cric wären frei, um neues Leid, Krieg und Tod über das Land zu bringen.

    Die ersten Folgen des Verschwindens hatten, soweit er das einschätzen konnte, bereits begonnen. Zwar waren die Marwens schon immer eine aggressive Rasse gewesen, doch diese schnelle Bereitschaft zum Krieg war erschreckend.

    War es vorstellbar, dass sie den Stein selbst gestohlen hatten, um eine Auseinandersetzung zu provozieren? Nein, das war unwahrscheinlich.

    Sein Vater, der Wind, brachte ihm ab und an Neuigkeiten. Darum wusste er, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Rassen ihre Vertreter abgezogen hatten. Jede davon hatte ihre eigenen Beweggründe dafür gehabt. Doch die meisten waren wohl gegangen, weil ihre weitere Anwesenheit unnötig erschien. Der Stein und seine Legende waren

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