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Wüstenfeuer: Spiegelmagie Band 10
Wüstenfeuer: Spiegelmagie Band 10
Wüstenfeuer: Spiegelmagie Band 10
eBook370 Seiten4 Stunden

Wüstenfeuer: Spiegelmagie Band 10

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Über dieses E-Book

Die Wüste ist gnadenlos –
ihre Bewohner auch.

Er ist der Schamane der Wüstenstämme. Einst hat er sein Volk fast vernichtet. Jetzt setzt er alles daran, ihm eine Zukunft zu geben.
Doch was, wenn sein Volk sich diese Zukunft gänzlich anders vorstellt als er? Wenn selbst die Geister der Vergangenheit mit seinen Plänen nicht einverstanden sind?
Plötzlich muss der Schamane an mehreren Fronten zugleich kämpfen – und feststellen, dass selbst er immer noch Fehler machen kann. Große Fehler.
Und erkennen, dass auch andere Personen seines Volkes wichtig sind im Spiel des Schicksals. Wie zum Beispiel der junge Krieger Ikti, Sohn des Mannes, dessen Körper der Schamane erobert und besetzt hat.

Ein Buch für alle Fans der Serie, die sich gefragt haben, was aus Nior und Ikti wurde, und ob Nior seinem Freund Jo noch einmal begegnen durfte.
SpracheDeutsch
HerausgeberMachandel Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2022
ISBN9783959593571
Wüstenfeuer: Spiegelmagie Band 10

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    Buchvorschau

    Wüstenfeuer - Chris Svartbeck

    Cover von Wüstenfeuer

    Wüstenfeuer

    Spiegelmagie Band 10

    Chris Svartbeck

    Zelte der Wüstenstämme

    ©Chris Svartbeck 2021

    Machandel Verlag

    Charlotte Erpenbeck

    ISBN 978-3-95959-331-1

    Bildquelle cover: romankybus /www. 123-rf.com

    Titelvignette: 4ek/www.shutterstock.com

    Alle Personen, Namen und Vorkommnisse in diesem Buch

    sind rein fiktiv und haben keine Vorlage in unserer realen Welt.

    Was allerdings sehr wohl in unserer realen Welt vorkommt,

    sind die diversen kleinen und großen Katastrophen

    der zwischenmenschlichen Beziehungen.

    Hinweis für neue Leser

    Die Handlung in diesem Buch fußt auf den Geschehnissen in Band eins bis sechs. Vermutlich werden Ihnen ohne Kenntnis dieser Bände einige Informationen zum Verständnis der Handlung fehlen. Ich empfehle Ihnen daher, zunächst den Anhang zu lesen, da dieser einige Basis-Informationen enthält.

    Das Buch ist aus verschiedenen Kurzgeschichten entstanden, die eine gemeinsame Rahmenhandlung bekommen haben. Warum diese Kurzgeschichten? In erster Linie, weil der Schamane eine eigene Geschichte brauchte. Aber auch, weil viele Leser gefragt haben, was aus Nior und seinem zweiten Sohn Ikti geworden ist und ob Nior seinen Freund Jo noch einmal getroffen hat.

    Durch die Kurzgeschichten, aus denen das Buch entstanden ist, gibt es ziemlich zu Anfang in der Handlung einen Sprung von gut tausend Jahren. Aber Sie werden sehen, dass sich am Ende der Kreis schließt.

    Triggerwarnung: 

    Karapak ist eine sehr gewalttätige, weitgehend patriarchalische Welt. Das Leben eines Mannes gilt wenig, das von Frauen und Kindern noch weniger, und eine falsche Geste kann Kriege auslösen. Die Wüstenstämme halten zwar deutlich mehr von ihren Frauen und Kindern, aber pazifistisch kann man sie nun wirklich nicht nennen. Außerdem lieben sie es, ihre Feunde zu enthaupten.

    Dass die Zauberer ebenfalls über Leichen gehen, ist noch ihre liebenswürdigste Seite.

    Der Beginn

    Der Anfang dieser Geschichte führt viele Generationen zurück. In jene ferne Zeit vor mehr als tausend Regenzeiten, in der die Wüstenstämme noch keine Wüstenstämme waren. Damals, als sie noch in den Drachenschwanzbergen lebten, in den fruchtbaren Tälern auf der Windseite, wohin der Atem des Ozeans den Regen blies. In einer Zeit, in der ihre Herden so zahlreich waren wie die Menschen in ihren Zelten, und in der sie mehrere Schamanen hatten, zwei oder drei in jedem der Stämme. Schamanen, die Zauberer waren, auch wenn sie sich nicht so nannten, die aber im Gegensatz zu den Zauberern die Spiegel verschmähten und ihre Nutzung ablehnten. So mussten sie zwangsläufig mit der neu entstehenden Kristallkammer in Konflikt geraten. Jener Konflikt wiederum führte dazu, dass die freien Stämme der Drachenschwanzberge Karapak tributpflichtig wurden. Karapak und den Zauberern. Etwas, das weder den Männern und Frauen der Stämme schmeckte noch ihren Schamanen. Denn der Tribut nahm ihnen das, was ihnen am liebsten und teuersten war: ihre Kinder. Jene Kinder, die die Magie in sich trugen. Alle drei Jahre versammelten sich die Stämme im Grünen Tal. Und alle drei Jahre kamen die Zauberer dorthin, um sich ihre lebende Beute zu sichern.

    Das brennende Tal

    „Morgen ist Tagundnachtgleiche."

    Der Schamane antwortete nicht. Er wusste so gut wie jeder andere der Männer, was morgen passieren würde. Seitdem die Zauberer vor drei Generationen das Versteck der Stämme im Grünen Tal gefunden hatten, war ihr Auftauchen dort so sicher, wie es Felsen in den Bergen gab. Bequemer konnten sie es nicht haben, wenn sie ihren Tribut einsammelten. Alle Stämme und damit alle Kinder an einem Ort versammelt.

    Wie hatte das nur passieren können?

    Der Schamane kannte die Antwort. Die Zauberer waren stärker als die Schamane. Die Tarnzauber seiner Vorgänger hatten versagt. Die Zauberer hatten ihre Beute so leicht gefunden, wie ein Drache eine Hornziege an den Steilhängen sah.

    Das Kind rückte näher an ihn heran, versuchte, seinen dürren Körper unter den Arm des Schamanen zu drücken.

    Er verzog das Gesicht. Die Angst der Kleinen, die er ohnehin fast greifen konnte, verstärkte sich durch den direkten Kontakt um ein Mehrfaches.

    „Werden sie mich mitnehmen?"

    Weshalb das Unvermeidliche leugnen? „Vermutlich ja. Du gehörst zu den stärkeren. Solche wie dich nehmen sie immer mit."

    „Ich will aber nicht weg. Ich habe Angst!"

    Das Stimmchen war zaghaft, leise, kaum zu hören. Die Männer nickten, denn auch sie hatten Angst. Es gab keine Sippe hier, die nicht schon Kinder an die Zauberer verloren hatte. Und das Schlimmste war, man hörte nie wieder etwas von ihnen.

    „Du wirst dort andere von uns antreffen, sagte der Schamane. „Erinnerst du dich an deine Cousine Kalani, die vor drei Regenzeiten geholt wurde?

    Ein Zittern durchlief den Kinderkörper. „Ich habe von ihr geträumt. Sie hat geschrien, in meinem Traum."

    „Träume sind nur Träume", sagte der Schamane.

    Aber er wusste es besser. Es gab Träume, die verwehten. Und es gab Träume, die Bestand hatten. Sai gehörte zu denen, deren Träume Bestand hatten.

    Mufa rieb sich fröstelnd die Arme. Der Nachtwind war kalt, selbst hier in der Schlucht, wo die Felsen tagsüber die Wärme der Sonne förmlich in sich hinein sogen. Da half nicht einmal das Feuer. Ohne schützende Zeltwände blieben die Nächte kalt.

    „Du spürst es auch, nicht wahr? Der jüngere Mann auf der anderen Seite des Feuers warf einen scheuen Blick in Richtung der nördlichen Felswand. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch. „Ich würde tausendmal lieber meine Herden auf den Weiden im Osten gegen einen hungrigen Berglöwen verteidigen, als hier auf sie zu warten.

    „Sie erwarten nun mal, dass sie hier jemand begrüßt." Mufa hörte, wie belegt seine Stimme klang. Nein, er konnte weder sich selbst noch dem jüngeren Wächter etwas vormachen. Es war nicht der Nachtwind. Es war die Drohung, die über ihnen schwebte, über den Zelten, über dem Tal. Das, was in jeder Trockenzeit zur Tagundnachtgleiche geschah, geschehen war, solange er lebte. Er ballte die Fäuste. Wie konnte so viel Grausamkeit hinter so freundlich wirkenden Gesichtern stecken! Lächelnde Münder, federnde Schritte, Hände, die nie eine Waffe getragen hatten. Und die doch tödlicher waren als Schwerter. Junge Körper mit alten Augen, die kalt blickten, kälter als das harte blauweiße Wasser in den höchsten Bergen. Seit Mufa diese Augen das erste Mal erblickt hatte, suchten sie ihn in seinen Alpträumen heim.

    Erneut rieb er sich die Arme, neigte sich noch etwas näher über das Feuer. Aber die Kälte in seiner Seele blieb.

    Beide Wächter waren mehr als froh, als der Himmel sich endlich aufhellte und der rote Rand der Sonne sich über die Berge schob. Egal, welchen Schrecken der Tag bringen mochte, er konnte nicht so schrecklich sein wie die Ungewissheit des Wartens.

    Immer wieder wanderten ihre Blicke zu den Felsen. Mufa dachte an das Trockenfleisch in seiner Tasche. Aber alleine der Gedanke an Essen ließ ihn würgen.

    Der andere gab einen erstickten Laut von sich. Mufa fuhr zusammen. Sein Blick sprang zu den Felsen hinüber.

    Die Luft flirrte vor der Felswand. Aber so früh am Morgen war es nicht das Flirren der Hitze. Die Wächter sahen sich mit angstgrauen Gesichtern an. Dann gab Mufa dem anderen mit einer Geste zu verstehen, dass er den Schamanen benachrichtigen sollte. Der Jüngere rannte fast, froh, den Ankömmlingen nicht entgegentreten zu müssen.

    Aus dem Flirren hatte sich das gefürchtete Spiegeltor geformt. Nacheinander traten fünf jung aussehenden Männer daraus hervor. Einer von ihnen reckte sich, drehte sich einmal um sich selbst. „Endlich kein Fischgestank mehr! Warum, bei den Windgeistern, mussten wir unseren Hauptsitz ausgerechnet in einer Fischerstadt wählen?"

    „Ganz einfach, du Dummkopf, grollte der erste. „Weil das die einzige Stelle weit und breit ist, an der sich die Meeresmagie mit der Drachenmagie überlappt! Und jetzt hör auf mit den Kapriolen, wir haben einen Auftrag! Oder willst du, dass dich diese Kreaturen nicht ernst nehmen?

    Der Wächter wartete, bis die Zauberer in einer geordneten Reihe vor dem Spiegeltor standen. Dann trat er hervor und begrüßte sie mit einer Verbeugung. Einer sehr tiefen Verbeugung. „Ihr seid gekommen, Euren Tribut zu holen. Wir haben alles vorbereitet. Bitte folgt mir, verehrte Meister!"

    Er glaubte, ein glucksenden Lachen zu hören, sah aber nicht auf. Bange Hoffnungslosigkeit lähmte ihn fast. In diesem Jahr war auch sein Sohn unter den möglichen Tributen. Er wandte sich um und führte die Zauberer durch die Schlucht in das Grüne Tal.

    Der Schamane spürte ihr Kommen, lange bevor er sie sah. Die Kinder ebenfalls. Sie pressten sich enger aneinander, und Sai nahm ihre jüngere Schwester fest in die Arme, streichelte ihr über das Haar. Der Schamane war sich ziemlich sicher, dass die Zauberer beide Mädchen wählen würden. Sie nahmen immer die Stärksten. Es war eine Schande, dass sie die besten Drachenblütigen in jedem Drittjahr auf diese Weise verloren. Sai wäre die perfekte Nachfolgerin für ihn.

    Aber er durfte nur ein einziges Kind auswählen, das er zurückbehalten konnte. So war es vereinbart, für ihn wie für alle anderen Schamanen der Stämme. Nur ein Kind. Und natürlich hatte er seinen leiblichen Sohn gewählt, vor vier Tributjahren.

    Der Junge war kurz danach an einem Skorpionstich gestorben. Und damit hatte der Schamane keinen Nachfolger mehr. Da blieben nur die übrig, die zu schwach waren, um die Zauberer zu interessieren. Aber wie sollte ein schwacher Schamane seinen Stamm schützen?

    Die alte Mokoko hatte vermutlich recht, wenn sie sagte, dass die Zauberer das Drachenblut in den Bergen austrocknen wollten. Diese Steppenleute waren wie Treibsand, der seine Beute packte, sie Stück um Stück in sich hineinzog und vernichtete. Nicht einmal die Drachen mochten sie. Der Schamane konnte sich schon kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal einen Drachen über den Drachenschwanzbergen gesehen hatte.

    Die Signaturen der Zauberer bewegten sich jetzt auseinander. Fünf Signaturen, fünf Zauberer, fünf Sammelplätze. Der Schamane wartete reglos.

    Drei Handbreit war sein Schatten weitergewandert, als der Zauberer endlich in Sicht kam. Er sah jung aus. Aber das taten sie alle. Und dieser hier war mit Sicherheit älter als der Schamane. Der Schamane erkannte ihn wieder. Das war der Mann, der vor einem halben Leben ihn hatte wählen wollen. Er war der Wahl nur entgangen, weil der damalige Schamane Scho ihn als seinen Gehilfen gewählt hatte. Seit damals ... Der Schamane seufzte. Der Zauberer hatte es wohl nie verwunden, dass er seine Beute nicht bekam. Bei jeder der folgenden Tributwahlen war er wieder zum selben Sammelpunkt gekommen, hatte er sein Möglichstes getan, die Wahl möglichst demütigend, möglichst verletzend ausfallen zu lassen. Er hatte selbst die gewählt, die schwach waren und bei früheren Tributwahlen sofort ausgeschieden wären. Der Gram über seine Fehlentscheidung hatte Scho einen frühen Tod beschert. Und jetzt musste der Schamane selbst dem Zorn dieses Mannes gegenübertreten, erdulden, dass seinem Stamm unnötig viele Kinder geraubt wurden, musste die panische Angst der Kinder und die tiefe Verzweiflung der Eltern aushalten und gute Miene zum bösen Spiel machen. Es gab keine andere Lösung. Die Zauberer waren stärker als die Schamanen.

    Beim Anblick des jämmerlichen Haufens verängstigter Kinder grinste der Zauberer boshaft. „So, so! Er umrundete seine Beuteherde. „Keine besonders hohe Qualität. Aber die habt ihr ja schon lange nicht mehr. Da wird wohl die Masse die fehlende Klasse ersetzen müssen. Ich nehme alle.

    Der Schamane zuckte zusammen. „Alle? Aber ..."

    „Nichts aber. Ich nehme nur, was mir zusteht. Oder willst du das bestreiten, Schamane?"

    Der Schamane senkte den Kopf und schwieg. Vertrag war Vertrag. Das konnte nicht einmal er ändern.

    „Machen wir es kurz. Der Zauberer musterte die Kinder. „Ihr geht schon mal los.

    Keines der Kinder gehorchte. Im Gegenteil, sie klammerten sich noch fester aneinander.

    Die Stimme des Zauberers wurde schärfer, und der Schamane erkannte den Zauber, der hineinfloss. „Ihr werdet gehorchen. Sofort!"

    Das Knäuel der jammernden Kinder floss auseinander, wie von unsichtbaren Händen zerpflückt. Eines nach dem andren setzte sich in Bewegung. Dann stand da nur noch Sai und hielt ihre zappelnde kleine Schwester fest.

    „Na los!"

    „Ich will nicht!"

    Der Kopf des Schamanen ruckte hoch. Der Zauberer erstarrte.

    „Du ... gehst ... jetzt ... sofort!"

    „Nein!"

    Emotionen huschten über das Gesicht des Zauberers, so schnell, dass der Schamane sie nicht erkennen konnte. Dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Kleine Bergratte! Der Zauberer wirbelte herum, starrte den Schamanen an. „Was immer du mit dieser Kreatur gemacht hast, glaub nicht, dass ich mir das gefallen lassen. Wenn sie nicht selbst gehen will, dann wird eben einer deiner Leute sie tragen!

    „Das steht nicht im Vertrag."

    „Was?"

    „Im Vertrag steht nur, dass ihr euch die Kinder holen könnt. Da steht nirgends, dass wir sie bringen müssen. Ist nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie euch gehorchen."

    Der Zauberer öffnete seinen Mund, dann schloss er ihn wieder, öffnete ihn erneut, ohne dass ein Wort herauskam.

    Der Schamane fand allmählich Gefallen an dem Spielchen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie es überhaupt zustande gekommen war. Seit wann hatte ein Kind von kaum sieben Regenzeiten die Kraft, sich einem Zauberer zu widersetzen?

    Der Zauberer starrte ihn weiter, an, inzwischen mit puterrotem Kopf. Dann drehte er sich abrupt um und stakste den davongehenden Kindern nach. Sais kleine Schwester hörte auf zu zappeln, als er sich entfernte, und blickte verstört um sich. „Mama?"

    Die Frau löste sich aus der Menge. Mit aschgrauem Gesicht eilte sie zu ihren Kindern, drückte sie an sich und zerrte sie fort. Niemand sagte ein Wort.

    Der Schamane spürte, wie sich ein schadenfrohes Grinsen über seinem Gesicht ausbreitete. Sai würde bleiben. Und er konnte sie als seine Nachfolgerin ausbilden.

    „Du bist ein von allen Göttern verlassener Idiot! So leise Mokoko sprach, ihre Stimme schnitt tiefer als ein Messer. „Was hast du dir dabei gedacht, ein Kind zurückzuhalten?

    „Ich habe Sai nicht zurückgehalten. Sie hat sich von ganz alleine gegen ihn gestemmt", gab der Schamane irritiert zurück.

    „Mag sein. Aber werden die Zauberer das glauben? Und selbst wenn, du hättest das Mädchen dazu bringen können, mit ihm zu gehen."

    „Ist es nicht schon schlimm genug, dass die Zauberer so viele unserer Kinder holen?, brauste der Schamane auf. „Sollen wir sie jetzt auch noch dabei unterstützen?

    Mokoko humpelte zu ihm, stemmte ihren Stock vor seinen Zehenspitzen in die Erde und funkelte ihn von unten herauf an. „Du bist zu jung! Ich habe immer gesagt, du bist zu jung, um bereits Schos Nachfolger zu werden. Junge Leute handeln, ohne zu denken! Sag mir eines – für wen bist du verantwortlich?"

    „Für meinen Stamm natürlich!", fauchte der Schamane zurück.

    „Für wen aus deinem Stamm?"

    „Für alle, natürlich!"

    „Ah ja! Mokokos Stimme troff vor Ironie. „Das letzte Mal, als sich einer deines Stammes den Zauberern widersetzte und ein Kind zurückhielt, habt ihr es damit bezahlt, dass in all den folgenden Jahren doppelt und dreifach so viele Kinder fortgeholt wurden. Scho hat einen Fehler gemacht, als er dich behielt. Und du hast nichts Besseres zu tun, als diesen Fehler zu wiederholen! Schlimmer noch, du hast es bei einem Kind getan, dass imstande war, einem karapakischen Meister die Stirn zu bieten! Was glaubst du wohl, was die Zauberer daraus für Schlüsse ziehen werden? Wie viele Leben werden dich diese beiden geretteten Kinder wohl kosten? Glaubst du wirklich, dein Stamm wird damit glücklich?

    Der Schamane schwieg betroffen.

    „Wie ich es mir gedacht habe. Du hast überhaupt nicht nachgedacht. Mokoko stieß zornig ihren Stab auf den Boden und verfehlte seinen Zehen dabei nur knapp. „Idiot! Impulsiver, jugendlicher Idiot! Sie ging zwei, drei Schritte zurück. Plötzlich schien ihre Gestalt einzufallen, um mehrere Handvoll Jahre zu altern. Der Schamane erkannte Tränen in ihren Augen. „Ich habe die Knochen gefragt, sagte sie leise. „Egal, wonach ich fragte, sie haben nur Tod gezeigt. Ich bete zu den Göttern, dass deine Tat nur dich und die deinen umbringt und keine weiteren Kreise zieht.

    Dem Schamanen lief es kalt über den Rücken. Die anderen Schamanen warfen einander beunruhigte Blicke zu. Auch Mokoko gehörte zu denen, deren Träume Bestand hatten. Niemand in der Runde wagte es, die alte Schamanin zurückzuhalten, als sie das Beratungszelt verließ.

    „Er wird mich holen kommen, sagte Sai. „Ich habe geträumt, dass er mich holen kommt.

    Der Schamane sah sie nicht an. „Möglich", murmelte er.

    „Aber ich habe nicht geträumt, dass er auch meine kleine Schwester holt. Sais Stimme wurde lauter. „Die wird er nicht holen!

    „Dann hättest du zumindest sie gerettet", gab der Schamane zurück und sah sie jetzt endlich doch an. Die Angst blickte aus ihren Augen zurück.

    „Ich bin nicht sicher, ob ich sie gerettet habe. In meinem Traum hat sie geschrien. Dieser Zauberer ist böse. Er wird ihr wehtun. Hier. Dieser Ort ist schlecht."

    Der Schamane blickte ihr nach, als sie mit hängenden Schultern zum Zelt ihrer Familie zurückging. Das Grüne Tal – schlecht? Hier gab es die besten Weidegründe der Drachenschwanzberge. Hier gab es Quellen und Bäche. Hier gab es Bäume und Wild.

    Aber auf diesem Idyll lag ein Schatten. Das spürte er genauso wie Sai. Vermutlich war es gut, dass das große Treffen der Stämme in zwei Tagen zu Ende ging. Er verspürte unmissverständlich den Drang, das Tal zu verlassen.

    Eine Nacht voller unruhigem Schlaf. Der Schamane fühlte sich wie zerschlagen, als er am nächsten Morgen aus seinem Zelt trat. So freudig er sonst die aufgehende Sonne begrüßte, dieses Mal sah er nur mit einem Stirnrunzeln, dass der lodernde Ball bereits zu mehr als der Hälfte über den Horizont gestiegen war. Wobei das hier im Tal nichts zu sagen hatte. Es war längst Tag. Nur die hohen Berge ringsum sorgten dafür, dass die Sonne verhältnismäßig spät aufging.

    Der Schamane wanderte am Bach entlang zu den weidenden Herden. Einige der Ponys sahen kurz auf, und ein kleiner Ziegenbock nahm sein rechtes Bein als Zielübung. Die winzigen Hörner, kaum mehr als fingernagelgroße Knubbel, konnten noch keinen Schaden anrichten. Die Lippen des Schamanen kräuselten sich zu der Andeutung eines Lächelns, bevor er das Tier mit einer Handbewegung wegscheuchte. Mit einem Meckern sprang das kleine Kerlchen zurück zu seiner Mutter.

    Alles war ruhig. Alles war friedlich. Und doch ...

    Der Schamane ging zurück zu seinem Zelt, nahm die Knochen, warf sie. Ein Bote würde kommen. Und hinter dem Boten ... Unheil.

    Der Schamane ging wieder hinaus, blieb vor seinem Zelt stehen und wartete auf das Unvermeidliche.

    Da war Unruhe aus der Richtung der Schlucht. Ein Mann lief herbei, mit raschen, aber kurzen Schritten. Er musste bereits einen langen Weg zurückgelegt haben. Männer und Frauen sahen von ihren Arbeiten auf, legten sie beiseite, gingen ihm entgegen. Der Mann stockte, verschwand in einer Gruppe Menschen, die plötzlich wieder zurückwichen. Während er sich wieder in Bewegung setzte, jetzt geradewegs auf den Schamanen zu, rannten einige der anderen zurück zu den Zelten.

    Der Man hielt direkt vor ihm, rang nach Luft, stützte leicht schwankend die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich vor. Sein Körper war von Schrammen und Blutergüssen gezeichnet. Der Schamane regte sich nicht. Endlich hob der Mann den Kopf wieder. Es war einer der Schluchtenwächter.

    „Der Zauberer ist zurückgekommen."

    „Wann?"

    „Kurz vor Sonnenaufgang."

    „Aber du kommst erst jetzt."

    „Er löste eine Steinlawine aus, die mich begrub."

    „Der andere Wächter?"

    „Er stand mitten in der Lawine. Ich nur an ihrem Rand."

    „Und wo ist der Zauberer jetzt?"

    „Ich hatte die Schlucht zur Hälfte durchquert, als ich sah, dass er zurückkam. Er ging in Richtung der Wüste."

    Schlecht. Sehr schlecht. Was hatte der Zauberer im Grünen Tal gewollt? Und wieso lebte der Wächter noch, der ihn gesehen hatte?

    „Er ... war nicht alleine."

    „Noch ein Zauberer?"

    Der Mann verneinte mit einer stummen Geste. Drüben bei den Wohnzelten schrie eine Frau auf.

    „Sai. Er hat sie doch noch geholt. Der Schamane spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. „Wie hat er sie dazu gebracht, ihm zu gehorchen?

    „Das Mädchen hatte Blut im Gesicht. Und eine Schlinge um den Hals."

    Natürlich. Eine Schlinge konnte sehr viel überzeugender sein als ein magischer Befehl. Was jetzt? Einen Moment überlegte der Schamane, ob er die alte Mokoko um Rat fragen sollte. Aber dann erreichte ihn die Frau, die geschrien hatte. Sais Mutter. Auf ihren Armen das jüngere Kind, dessen Wange angeschwollen und aufgeplatzt war.

    „Er hat Sai mitgenommen. Niri hat versucht, sie festzuhalten. Er hat sie niedergeschlagen."

    Ein entführtes Kind, ein geschlagenes Kind. Das war zu viel. „Der Tributtermin ist verstrichen. Er hätte nicht zurückkommen und Sai holen dürfen. Ich werde ihm folgen und sie zurückfordern."

    Erleichterung, Hoffnung und Zweifel wechselten sich im Gesicht der Mutter ab. Der Schamane wartete nicht ab, welche dieser Emotionen die Oberhand gewinnen würde. Wenn der Zauberer das Spiegeltor erreichte, war Sai für den Stamm verloren. Er lief los.

    Die Spur ging fast beständig geradeaus, weg vom Grünen Tal. Der Vormittag verstrich, die Berge wichen flachen Hügeln. Am Horizont zeichnete sich bereits das Dünenmeer der Wüste ab, schattenlos in der Mittagssonne. Davor zwei kleine schwarze Punkte, die sich stetig weiterbewegten. Und weit und breit kein Spiegeltor. Da stimmte doch etwas nicht! Das Verhalten des Zauberers passte nicht. Normalerweise hätte er sich und seine Beute schon längst in Sicherheit gebracht. Der Schamane zögerte. Aber dann lief er doch weiter. Noch gab es eine Chance für Sai.

    Die Hügel wichen, machten dem Sand Platz, die Bahn der Sonne begann sich wieder zu senken, die Schatten wurden länger, die Dünentäler dunkler, der Schamane holte auf.

    Nur um zu merken, dass er nicht wirklich aufholte. Seine Beute hatte angehalten und erwartete ihn. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich. Aber Sai lebte noch, stand neben dem Zauberer, er konnte ihre Signatur klar erkennen. Also lief er weiter.

    Der Sand versuchte ihn aufzuhalten, klammerte sich um seine Füße, ließ ihn stolpern. Unwillig schüttelte er ihn ab und lief weiter.

    Der Wind versuchte, ihn abzulenken, versuchte seinen Lauf zu drehen, dass er von der Verfolgung abließ und zurückkehrte. Der Schamane schüttelte die heißen Böenfinger des Windes unwillig ab und lief weiter.

    Die herabsinkende Sonne versuchte ihn anzuhalten, blendete ihn mit heißem Licht. Unwillig kniff er die Augen zusammen und lief weiter.

    Und dann stand er unvermittelt vor dem Zauberer, in einer schmalen Senke zwischen zwei hohen Sanddünen. Der Zauberer lächelte spöttisch und zog ein wenig mit seiner rechten Hand an einem dünnen Strick, der noch immer um den Hals eines kleinen Mädchens geschlungen war. Sai erzitterte, gab aber keinen Laut von sich. In der anderen Hand hielt der Zauberer einen Spiegel. „So habe ich dich also doch aus deinem Loch gelockt."

    Der Schamane ballte die Fäuste, schluckte, sammelte Speichel in seinem Mund, um reden zu können. Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. „Das hättest du nicht tun dürfen!"

    „Nicht? Die Brauen des Zauberers wanderten in die Höhe. „Und ich dachte, ich könnte dir zur Abwechslung mal einen Gefallen tun.

    Der Schamane fror trotz der Hitze. „Einen Gefallen? Indem du widerrechtlich eines unserer Kinder entführst?"

    Die Schnur straffe sich erneut. Sai stolperte einen Schritt zurück, stand jetzt so nahe an dem Zauberer, dass sie ihn fast berührte.

    „Eigentlich hatte ich vor, euch alle zu vernichten. Aber diese kleine Bergratte ist ... interessant. Es könnte sich vielleicht lohnen, sie am Leben zu lassen."

    „Uns zu vernichten?" Der Schamane glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

    „Natürlich. Wir können nicht riskieren, dass noch mehr eurer Brut gegenüber unserem Zauber immun sind. Wer weiß, wie viele davon bereits existieren, ohne dass wir es wissen."

    „Niemand sonst!", presste der Schamane hervor. Mokoko hatte recht gehabt. Die Zauberer hatten ihre Schlüsse gezogen. Der Preis für das Leben dieses einen Mädchens würde entsetzlich sein. Und was immer er jetzt an Argumenten hatte, er spürte, dass er damit zu spät kam.

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