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Falkenblut: Spiegelmagie Band 8
Falkenblut: Spiegelmagie Band 8
Falkenblut: Spiegelmagie Band 8
eBook397 Seiten4 Stunden

Falkenblut: Spiegelmagie Band 8

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Über dieses E-Book

Tiko hat nur ein Ziel: Sich einen Namen zu schaffen, der seinem Haus Ehre bringt. Eine Ausbildung in der königlichen Garde ist scheinbar der ideale Weg dazu. Dummerweise tritt er dabei sowohl dem karapakischen Königshaus als auch den Zauberern kräftig auf die Zehen. Und nicht genug, dass Tiko es versteht, sich die falschen Feinde zu machen. Er sucht sich als Freund auch noch ausgerechnet die Geisel des Königs aus.
An Karapaks Königshof haben schon bedeutend geringere Fehler den Tod gebracht.
Doch Tiko hat keine Wahl, er muss durchhalten. Als Kadett der Garde lebt er gefährlich. Aber wenn er aufgibt, ist er in jedem Fall tot, wie sein eigener Vater ihm unmissverständlich klargemacht hat.

Die Anfänge des späteren Königshauses der Sippe Mehme.
SpracheDeutsch
HerausgeberMachandel Verlag
Erscheinungsdatum5. Okt. 2021
ISBN9783959593250
Falkenblut: Spiegelmagie Band 8

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    Buchvorschau

    Falkenblut - Chris Svartbeck

    Cover Falkenblut

    Falkenblut

    Spiegelmagie Band 8

    Chris Svartbeck

    Drachen-Vignette_Fernando_Cortes

    ©Chris Svartbeck 2019

    Machandel Verlag

    Charlotte Erpenbeck

    2019

    ISBN 978-3-95959-325-0

    Bildquelle cover: Fotokostic /www. shutterstock. com

    Titelvignette: Fernando Cortes/www.shutterstock.com

    Hinweise für neue Leser der Serie

    Dieses Buch schließt an die Kurzgeschichte „Brutmutter" in dem gleichnamigen Ebook an und spielt einige Jahrhunderte vor den ersten sieben Büchern der Spiegelmagie-Serie. Es ist möglich für neue Leser, mit dieser Geschichte in die Serie einzusteigen, könnte aber die eine oder andere Überraschung in den ersten Bänden weniger überraschend machen. 

    Mit anderen Worten: Wer es richtig spannend möchte, liest die Serie besser von Anfang an.

    Noch einer

    „Herr, Ihr müsst Eurem Sohn endlich einen Namen geben!"

    Baron Kigato aus dem Hause Mehme antwortete nicht. Seine Feder kratzte weiter über die Steuerliste, die der König angefordert hatte. Mit einem Anflug von Neid dachte er an das talwärts gelegene Lehen der Lethe-Sippe. Die waren reich genug, sich einen Schreiber zu halten. Kunststück, wenn man hervorragende Weiden und eine der besten Pferdezuchten weit und breit hatte. Er dagegen …

    Die Tinte spritzte unter dem Druck. Kigato unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Es schickte sich nicht, Untergebenen gegenüber Schwäche zu zeigen.

    „Herr, der Priester drängt. Der Junge ist nun schon vier Tage alt. Er muss endlich in die Tempellisten eingetragen werden."

    Kigato durchforstete seine Erinnerungen nach einem brauchbaren Namen. Es wollte ihm keiner einfallen. Doch. da war der Spitznamen, mit dem er seinen Cousin immer geneckt hatte, als sie noch Kinder waren. „Sag dem Priester, der Junge heißt Tiko", entschied er brüsk.

    „Herr!" Vor lauter Bestürzung vergaß der Diener für einen Augenblick, was er seiner Stellung schuldig war.

    Erst jetzt ging Kigato auf, was er gesagt hatte. Ein Namen mit nur zwei Silben für einen Adelsspross – undenkbar. Aber eine einmal getane Aussage vor einem Diener wieder zurücknehmen? Das war noch viel weniger denkbar.

    „Du hast mich gehört. Und jetzt benachrichtige den Priester, damit wir diese leidige Angelegenheit endlich hinter uns bringen."

    Was immer der Priester darüber dachte, er sagte nichts. So wurde der jüngste Sohn des Hauses Mehme in den Tempellisten unter dem Namen Tiko eingetragen.

    *

    Der Priester mochte schweigen, Kigatos Gattin aber dachte nicht daran. „Haben Euch die Winddämonen den Verstand verdreht? Ihre Stimme, sonst immer so weich und melodisch, kletterte in eine Höhe, die Kigato in den Ohren schrillte. „Ihr habt mit Eurer Entscheidung unseren Sohn dem Hohn und Spott des ganzen Landes preisgegeben!

    „Falls dieses ganze Land ihn überhaupt jemals sehen und zur Kenntnis nehmen wird, grollte ihr Mann finster. „Er ist unser wievielter Sohn? Der sechste oder der siebte?

    „Der fünfte!", fauchte seine Gattin.

    „Spielt keine Rolle. Bei Eurer Fruchtbarkeit werden wohl noch ein paar dazu kommen. Erben kann nur unser Ältester. Und mehr als drei werden wir in keinem Fall in der Armee unterbringen können. Die Ausbildung an der Offiziersschule kostet zu viel, das wirft unser Lehen einfach nicht ab. Tiko wird also mit ziemlicher Sicherheit zusammen mit seinem halben Dutzend Schwestern hier auf der Burg bleiben, hier leben und hier sterben. Da wird ihn sein Name wohl kaum stören."

    Die Augen seiner Gattin wurden schmal. „Meine Mutter hat immer gesagt, wer die Tradition bricht, fordert die Götter heraus. Ich werde beten, mein Gatte, dass Euer unüberlegter Entschluss kein Unglück über unsere Familie bringt."

    Kigato drehte sich wütend um und marschierte aus dem Raum, bevor er sich vergaß und seiner Gattin den Hals umdrehte. Diese Frauen aus den Bergen! Aufmüpfig, laut und abergläubisch! Als ob die Götter sich auch nur um einen einzigen Menschen kümmerten, geschweige denn um einen Namen! Einen Moment dachte er sehnsüchtig an die sanften, rundgesichtigen Frauen der Ebene, die ihren Gatten jeden Wunsch von den Augen lasen und nicht einmal auf die Idee kamen, in seiner Gegenwart die Stimme zu erheben. Aber von denen hatte keine einen kleinen Baron am Rand des karapakischen Reiches, weit weg von allen Annehmlichkeiten der Zivilisation, heiraten wollen.

    *

    Kigato hatte Recht. Seine Frau war fruchtbar. Es dauerte kein Jahr, bevor sie mit dem nächsten Kind niederkam.

    Aber auch seine Gattin hatte Recht. Die Götter liebten es nicht, wenn man gegen ihre Ordnung verstieß. Das neuste und jüngste Kind des Hauses Mehme war nur eine Tochter. Und zugleich war sie das letzte Kind, dass Kigato in seinem Haus aufwachsen sehen würde, denn seine Frau starb bei dieser Entbindung.

    Die Hebamme musterte ihren Herrn mit schmalen Augen und wagte es tatsächlich, Kritik zu äußern. „Dreizehn Kinder in siebzehn Jahren, die Fehlgeburten dazwischen nicht eingerechnet, das hat Eure Gemahlin ausgelaugt und zu sehr geschwächt. Sie hätte dieses letzte Kind nicht mehr bekommen dürfen." Natürlich sprach die Hebamme Kigato nicht direkt an, sondern tat so, als rede sie mit dem wimmernden kleinen Säugling.

    Was sollte das? Bis auf Tiko waren die letzten Kinder alles Mädchen gewesen. Sie konnte doch wohl nicht im Ernst erwarten, dass er nicht den Versuch machen würde, noch einen Sohn zu bekommen? Zumal es hier in den Bergen nicht selbstverständlich war, dass die Kinder überhaupt groß wurden. Sein ältester Sohn war im Jahr nach seiner Geburt an der Halsröte gestorben, und seine älteste Tochter Daini war beim Klettern in den Felsen abgestürzt und ihren schweren Verletzungen drei Tags später erlegen. Ein Mann musste einfach zusehen, dass er sich absicherte. Die Sippe musste fortbestehen. Aber Frauen dachten komisch. Zudem fanden die Hebammen es immer tragisch, wenn ihnen eine Gebärende unter der Hand wegstarb. Kigato beschloss, für dieses Mal gnädig zu sein und sie einfach zu überhören.

    Was jetzt? Eine Burg voller Kinder, die meisten davon Mädchen und zudem noch klein, wer sollte sie erziehen? Sollte er eine neue Gattin suchen?

    Aber eine neue Gattin bedeutete am Ende noch mehr Kinder. Nein. Er hatte schon Schwierigkeiten genug, für die vorhandenen einen angemessenen Platz zu finden, an dem sie standesgemäß leben konnten. Dann doch lieber die Mägde und Sklavinnen. Deren Brut war nichts, um das ein Burgherr sich kümmern musste.

    Was dann?

    „Mutter?"

    Die Stimme war leise, zaghaft. Eine Mädchen von elf Wintern kam in das Zimmer, stutzte kurz, verneigte sich dann vor Kigato und eilte an das Bett der toten Burgherrin. Ein einziger Laut nur entfuhr ihr, als sie erkannte, dass sie zu spät kam, dann fielen ihre Schultern nach vorne, zuckten, und sie sank neben dem Bett in die Knie.

    Aber natürlich, das war die Lösung!

    Mit wenigen Schritten war Kigato bei ihr, griff nach ihren Schultern und drehte sie, sodass er in ihr Gesicht sehen konnte. Es war nass von Tränen.

    „Selea, du bist die älteste meiner Töchter und damit jetzt die Burgherrin. Ich weiß, dass wir davon gesprochen hatten, dich in zwei Sommern zu verheiraten, aber das muss vorerst warten. Deine jüngeren Geschwister brauchen dich jetzt. Ich werde mit den Rarkat reden und einen Aufschub verhandeln. Natürlich kannst du dann nicht mehr die Erste Gemahlin werden, aber immer noch die zweite."

    Das würde ihm eine schöne Summe Brautgeld einbringen. Dann konnte er sich vielleicht sogar endlich nach einer Braut für seinen ältesten Sohn umsehen.

    Selea hauchte ein zittriges „Ja."

    Zufrieden ließ Kigato sie los und stolzierte hinaus.

    Nicht schnell genug. Er hörte noch, wie die Hebamme sagte: „Armes Ding. Musst Mutter sein, bevor du überhaupt zur Frau geworden bist!"

    Dämliche Frau! Wusste nicht, wann sie den Mund zu halten hatte! Er würde sie natürlich bezahlen für ihre Dienste, ein Mehme stand zu seinen Verpflichtungen. Aber danach würde er sie mit Peitschenhieben vom Burghof jagen lassen.

    Die Schwester

    Schwestern waren langweilig. Wollten nie die Burg verlassen, hingen immer irgendwo in Haus und Hof herum, um Blumen zu hätscheln, immer dasselbe Essen zu kochen und Wäsche zu waschen. Er durfte dann nicht einmal in ihre Nähe kommen. Er sei zu schmutzig, schimpften sie.

    Nur Selea war eine Ausnahme. Manchmal nahm sie Tiko mit, wenn sie die Burg verließ. Am besten fand er die Ausritte. Dann durfte er vor ihr auf dem Pferd sitzen, da, wo er den besten Blick hatte, sicher festgehalten von den starken Armen seiner großen Schwester. Sie ritt mit ihm bis hinauf zu den Bergwiesen. Dort durfte er herumtollen und mit ihr in den Felsen klettern. Sie hatte immer Pfeil und Bogen dabei, sicherheitshalber, aber meist benutzte sie sie nur, um auf Tannenzapfen zu schießen.

    Selea hatte keine Angst, ohne männliche Begleitung auszureiten. Was sollte schon passieren, solange sie auf dem Land ihres Vaters blieb? Vaters Wachen hielten die Räuber kurz und die tolorischen Feinde fern, und von den eigenen Leuten hatte eine Tochter des Hauses Mehme keinerlei unangemessenes Benehmen zu erwarten.

    Solange er noch ganz klein war, hatte Tiko das natürlich anders gesehen. Als Fünfjähriger war er vor Stolz fast geplatzt, wenn seine Schwester ihn liebevoll neckend als ihren Beschützer bezeichnete. Später wusste er es natürlich besser. Aber Spaß machten die Ausritte mit Selea trotzdem.

    Solange, bis er sechs Jahre alt war und die anderen Jungen ihn aufzuziehen begannen.

    „Na, immer noch mit einem Mädchen unterwegs? Traust dich wohl nicht unter Männer, was?"

    „Bringt sie dir auch das Nähen bei?"

    „Hast wohl Schiss, alleine rauszugehen!"

    Danach begleitete Tiko seine Schwester nur noch selten auf ihren Ausflügen. Insgeheim gab er vor sich selbst zu, dass er diese gemeinsame Zeit vermisste. Selea war immer so lustig, und sie schlug und trat ihn nie.

    „Eigentlich hätte sie schon längst verheiratet sein müssen. Dann wäre sie jetzt bei den Rarkat und ohnehin nicht hier", bemerkte einer seiner älteren Brüder nur, als Tiko sich mal traute, das Thema anzuschneiden.

    Das stimmte, wie die dicke Köchin Musa bestätigte, während sie ihm wohlwollend ein Stück kalten Braten in die Hand drückte. Kleine Jungen waren immer hungrig. „Aber Selea ist keineswegs traurig über die verschobene Heirat. Im Gegenteil, das verschafft ihr ein paar weitere Jahre zu Hause und damit relativ viel Freiheit. Selbst wenn es hinterher nur noch zur dritten Gemahlin des Rarkat-Erben reichte, das ist es ihr wert. Im Gegensatz zu einem Ehemann, der mit Argusaugen über jeden Schritt seiner Gattin wachen wird, interessierte sich ihr Vater kaum für das, was seine Töchter tun."

    Natürlich hätte Selea niemals gewagt, sich direkt gegen ihren Vater aufzulehnen. Nicht einmal seine ältesten Söhne taten das, obwohl sie schon erwachsen waren. Selea sollte die Stelle der Burgherrin vertreten, hatte der Vater gesagt. Also tat sie das, was auch ihre Mutter getan hatte: Die jüngeren Geschwister bemuttern, trösten, erziehen und lieben, den Haushalt leiten, die Einkäufe der Vorräte organisieren, den Hausbediensteten den Lohn auszahlen, Knechte und Mägde einstellen und, falls nötig, feuern.

    Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter, die als verheiratete Frau ohne die Erlaubnis ihres Gatten nirgendwohin gehen konnte, war Selea frei, die Burg zu Ausritten zu verlassen, durch Täler und Berge zu streifen und sich den einen oder anderen schönen Tag zu gönnen.

    Einmal, als Tiko selbstvergessen mit ein paar Stockfiguren im Garten Krieg spielte, belauschte er Musa und seine Schwester. Er hörte mit eigenen Ohren, wie Selea zugab, diese Zeit ohne ihre Mutter sei die beste, die sie je gehabt hätte. Niemand, der sie in die Nähstube rief, um an ihrer Aussteuer zu arbeiten, niemand, der ihr erklärte, für eine Edelfrau schicke es sich nicht, den ganzen Tag draußen in der Sonne zu werkeln, das schade dem Teint, niemand, der schimpfte, dass es sich für eine Edelfrau ungehörig sei, auf dem Pferd zu sitzen wie ein Mann, anstatt sich mit einer Sänfte tragen zu lassen.

    Sie müsse nur aufpassen, dass ihr Vater keinen Grund zur Klage fände und ihre Aufgaben stets mustergültig erledigt seien.

    Das waren sie wohl, denn der Vater beschwerte sich nie. Im Gegenteil, einmal verstieg er sich sogar dazu, ein „Gut, gut!" zu brummen, als Selea ihm die Vorratslisten vorlegte.

    *

    An einem schönen Frühsommertag war dann der Falke in die Burg gekommen. Selea kam von einem Ausritt zurück, einen Falken im Arm, den sie so in die Satteldecke eingewickelt hatte, dass der Vogel weder seinen gesunden Flügel noch Krallen oder Schnabel einsetzen konnte.

    Sein Vater hatte sich das blutbefleckte Federbündel angesehen und war drauf und dran gewesen, dem Tier den Hals umzudrehen, aber Selea hatte protestiert und gesagt, der Flügel könne doch wieder heilen. Es war ein schöner, großer Falke, ein Königsfalke. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben. Vater hatte ihr den Versuch erlaubt, und der Falkner Mirko hatte den Vogel verarzten dürfen.

    Danach schoss Selea nicht mehr auf Tannenzapfen. Irgendwie sah sie den Falken genauso als Verpflichtung wie ihre jüngeren Geschwister und sie ging für ihn jagen. Für ein Mädchen schoss sie sogar ziemlich gut, musste Tiko zugeben.

    Anfangs brachte sie nur jeden zweiten oder dritten Tag Beute nach Hause, aber dann nahm sie den Falken mit. Und obwohl der Vogel weder dressiert noch flugfähig war, schien das Seleas Jagdkünste deutlich zu verbessern. Sie kam nie mehr mit leeren Satteltaschen zurück. Sie brachte Kaninchen, den einen oder anderen Vogel, sogar Murmeltiere heim.

    Tiko wusste, wie schwer es war, ein Murmeltier zu erbeuten. Er war also gebührend beeindruckt.

    *

    Im nächsten Winter wurde Selea krank. Fast jeden Morgen erbrach sie sich, sobald sie aufstand. Tiko merkte es nur, weil er noch jung genug war, um in den Frauenquartieren zu schlafen. Er verstand nicht ganz, warum Selea nicht zu der Heilerin ging. Tagsüber musste sie nicht brechen, da verrichtete sie ihre Arbeit ganz normal, wenn auch vielleicht ein wenig langsamer, und niemand schien etwas zu merken. Selea war stolz, wie alle Mehme. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Tiko beschloss, den Mund zu halten. Es war ja auch ihr letzter Winter zu Hause, den wollte er ihr nicht verderben. Bereits im kommenden Sommer sollte sie den Rarkat heiraten. Zum Mittsommerfest. Vater stellte bereits ihre Mitgift zusammen. Auch das schöne braunscheckige Pony sollte dazugehören. Tiko beneidete Selea, er hätte es gerne selbst als Reittier gehabt. Oder besser gesagt, er beneidete ihren Rarkat-Bräutigam, denn dessen Eigentum würden sowohl das Pony als auch Selea werden.

    Und dann kam jener Tag, der sich Tiko ins Gedächtnis einbrannte. Der Tag, der alles änderte.

    Am Tag davor war Selea wieder zur Jagd geritten.

    Und dann war nur ihr Pferd zurückgekehrt.

    Vater hatte sich geweigert, in der früh einbrechenden Winternacht einen Suchtrupp loszuschicken, auch wenn die Spur in dem hohen Schnee vermutlich selbst bei Mondlicht gut zu erkennen gewesen wäre. „Wenn sie zu blöd ist, sich auf einem Pferd zu halten …" hatte er gezischt.

    Erst am nächsten Morgen durfte der Suchtrupp losreiten. Sie kamen schnell zurück, Selea war wohl schon ganz in der Nähe gewesen. Dann brachten die Männer Selea in den großen Saal. Alle waren sie dort versammelt, auf Befehl des Barons, die ganze Familie und alle Soldaten und Diener und Sklaven der Burg. Selea würde bestraft werden. Vor aller Augen.

    Mirko hob ihr den Falken vom Arm, die Diener nahmen Selea die dicken Überkleider ab. Der Vater starrte auf ihren Bauch, als ob er Löcher hineinbrennen wollte. Sein Gesicht versteinerte zu jenem kalten, starren Ausdruck, der nach Tikos Erfahrungen äußerste Wut bedeutete. Und dann ging er auf seine Tochter los.

    Tiko verkroch sich instinktiv unter dem Tisch

    Sein Vater brüllte und trat, Selea schrie und ging zu Boden, und dann war plötzlich ein lautes Zischen zu hören, und sein Vater flog durch die Luft und gegen die Wand. Als Tiko wieder zu Selea sah, blieb ihm der Mund offen stehen. Über ihr stand etwas wie eine überdimensionale Eidechse mit funkelnden goldenen Augen, langen Zähnen und Flügeln. Das musste einer der sagenumwobenen Drachen sein! Aber die gab es doch nur im Norden, da, wo auch die Frostgeister lebten?

    Tiko wollte gerade unter dem Tisch hervorkriechen, um dieses Wundertier näher in Augenschein zu leben, als der Drache tatsächlich redete!

    „Wage es nicht, sie noch einmal anzurühren! Trotz des unmenschlichen Zischens war die Stimme klar verständlich. „Du nicht – und keiner deinesgleichen! Diese Frau trägt meine Brut! Sie steht unter meinem Schutz!

    Schlagartig herrschte Totenstille. Und Tiko war mehr als froh, unter dem Tisch und somit weitgehend außer Sicht zu sitzen.

    Der Drache sprach weiter. Er klang ebenso wütend, wie Tikos Vater es zuvor gewesen war. Kunststück. Wenn Tiko das richtig verstand, hatte sein Vater schließlich auch gerade versucht, den Nachwuchs des Drachen totzutreten.

    Gegen dieses Monster hatten alle Männer seines Vaters zusammen keine Chance. So fand Tiko es auch nicht erstaunlich, dass sein Vater bereitwillig auf alle Bedingungen des Drachen einging. Sicherheit und Unversehrtheit für Selea, Sicherheit und Unversehrtheit für das ungeborene Junge in seiner Burg.

    Sicherheit mit Hintergedanken, und entsetzlicherweise schien der Drachen Gedanken lesen zu können. Er sprang den Baron an, und im nächsten Moment schrie sein Vater ganz fürchterlich, Blut spritzte und Tiko sah die abgebissene Hand seines Vaters zu Boden fallen.

    Mirko war der einzige, der sich überhaupt traute, seinem Herrn zur Hilfe zu kommen und ihm den Armstumpf abzubinden. Danach musste Baron Kigato noch einmal schwören, dieses Mal wesentlich umfassender.

    Der Drache wurde wieder zu einem Falken.

    Und der Falke bliebt auf der Burg für die ganze Dauer von Seleas Schwangerschaft.

    *

    Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft ritt Selea mit dem Falken aus. Als sie zurückkam, war der Falke nicht mehr bei ihr. Ihr Pferd auch nicht.

    Und sie war nicht mehr schwanger.

    Ihr Vater ließ sie gar nicht erst in die Burg hinein. Er hielt sein Versprechen, ihr nichts anzutun, aber er verbannte sie, weit weg, in ein kleines, ärmliches Köhlerdorf am Rand des Hochwaldes.

    Tiko sah sie nicht wieder.

    Halsröte

    Es war, als ob mit Selea auch das Glück aus der Burg vertrieben worden war. Tiko vermisste ihr Lachen. Seine Schwestern drängten sich scheu in die Schatten, sobald ihr Vater irgendwo auftauchte und ihre Stimmen sanken zu einem Flüstern, um nur nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Baron machte nicht einen einzigen Versuch, noch weitere von ihnen zu verheiraten. Es war, als ob sie nicht mehr existierten, Schatten unter Schatten.

    Sein Vater trank. Trank, wenn er Schmerzen hatte – und sein Armstumpf schien ihn fast jeden Tag zu schmerzen. Er trank auch, wenn er keine Schmerzen hatte, um seine Schande zu vergessen. Tiko nahm er bis tief in den Winter nur ein einziges Mal wirklich zur Kenntnis. Das war, als der Frost so klirrend kalt war, dass die Wände der Burg innen vor Eiskristallen glitzerten, und Männer wie Frauen selbst in den Räumen noch dicke Pelze trugen. Ein Winter, wie er seit Menschengedenken nicht mehr hier, so tief im Süden der tolorischen Grenzberge, gesehen worden war. Ein Frostgeisterwinter, wie einige der ganz Alten schaudernd raunten. Der Vater war abgemagert seit dem Zwischenfall mit dem Drachen. Er fror schnell, weder das lodernde Kaminfeuer noch die dicken Fuchsfelldecken vermochten ihn zu wärmen. Tiko hörte ihn stöhnen und brachte ihm einen Becher heißen Würzwein. Sein Vater nahm den Becher, ohne ihn anzusehen, leerte ihn in wenigen Zügen. Dann sah er auf.

    „Du! Er beugte sich vor. „Nichtsnutziger Nachkömmling. Dich hätte es niemals geben sollen. Dann wäre meine Gattin vielleicht noch am Leben und dieses ganze Desaster mit deiner Schwester niemals geschehen.

    Einen Moment schlossen sich seine Augen, als ob ihn die Müdigkeit übermannte. Dann flogen sie wieder auf; und schneller noch als seine Augenlider bewegte sich seine Faust, fuhr vor und traf Tikos linke Schulter. Sein Schlüsselbein brach mit einem hörbaren Knirschen. Tiko floh, so schnell er sich wieder aufrappeln konnte. Erst draußen wich der Schock so weit, dass er den Schmerz spürte und wimmernd zusammensank. Er merkte nicht einmal, wer ihn aufhob und zur Heilerin trug.

    Der Knochen heilte ohne böse Folgen. Aber danach drückte auch Tiko sich in die Schatten, wenn sein Vater in der Nähe war.

    Alle waren mehr als erleichtert, als es endlich taute und sie nicht mehr von Schneewehen eingeschlossen waren. Die Sache hatte nur einen Haken. Nicht nur die Mehme-Leute konnten jetzt ihre Burg verlassen, das konnten auch andere.

    Tikos ältere Brüder bemannten die Grenzwachen doppelt. Da die Rarkat auf der einen Seite keine Mehme-Frau mehr in Aussicht hatten, auf der anderen aber auch der Schutz durch den Drachen fehlte, mochten sie auf die Idee kommen, wie in früheren Jahren Überfälle auf die Dörfer und Herden der Mehme zu machen.

    Jeder Pass und jede Straße wurde gesichert.

    Der Feind jedoch kam auf einem ganz anderen Weg.

    *

    Am ersten Vollmond nach dem letzten Schnee feierten sie traditionell das Frühlingsfest. Egal, wie miserabel seine eigene Stimmung war, dieses Fest musste Baron Kigato einfach feiern. Nicht einmal in seinem alkoholumnebelten Zustand war er so dumm, seine Gefolgsleute durch eine Absage zu verärgern.

    Musa backte und briet und braute, und mit ihr werkelten ein Dutzend Frauen in der großen Küche. Tikos Brüder gingen wilde Antilopen jagen, und die Bauern brachten ihre traditionellen Frühlingsabgaben, Lämmer und Eier, um zur Festtafel beizutragen.

    Wichtiger aber waren die Händler und Musikanten. Ein gutes Dutzend von ihnen kam, wie jedes Jahr, in die Burg, baute große, bunte Stände auf, voller verlockendem Tand, ihre Frauen und jungen Männer tanzten und zeigten akrobatische Kunststücke, Trommeln und Flöten erklangen den ganzen Tag und die ganze Nacht. Tiko wusste, dass er sich dieses Jahr nichts kaufen konnte, Vater hatte nicht, wie früher, ein paar Kupferstücke für seine jüngeren Kinder herausgerückt, aber die verheißungsvollen Gerüche, der Trubel im Burghof und die ungewohnte, lustige Menschenmenge besaßen dennoch eine magische Anziehungskraft. Er stürzte sich voller Begeisterung in das Gewühl.

    Am interessantesten waren natürlich die Akrobaten und Jongleure. Einer der Musiker legte am Abend seine Trommel weg, griff zu einigen Fackeln und begann, die brennenden Scheite kunstvoll durch die Luft zu wirbeln. Tikos Augen klebten förmlich an den Funkenwirbeln. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Es war, als ob die Flammen Muster in den Himmel schrieben.

    Ein zweiter kam dazu, und die beiden Männer warfen sich gegenseitig die Fackeln zu, ein halbes Dutzend waren es jetzt. Ihre schweißglänzenden Muskeln spielten im Feuerschein, während sie sich drehten und sich über den Platz bewegten, in einem flammenden Tanz.

    Frenetischer Applaus dankte ihnen und Tikos ältester Bruder gab ihnen gut gelaunt einige Kupferstücke für diese Darbietung. Dann klang die Trommel wieder, und die Zuschauer begannen ebenfalls zu tanzen.

    Für Kinder war in dem Tanz kein Platz. und immer nur zusehen war langweilig. Tiko beschloss, die bunten Wohnwagen etwas näher in Augenschein zu nehmen.

    Wirklich reich waren die Händler und Schausteller nicht, wie er von Nahem sehen konnte. Zwar waren alle Wagen bunt bemalt und die Hörner und Hufe ihrer Zugochsen frisch geölt, aber das Holz war alt und verwittert, die Ochsen so mager, dass ihre Knochen hervorstanden. Die bunten Röcke, die an einer Leine zwischen zwei Wagen flatterten, waren vielfach geflickt und der Eintopf, der in einem großen Kessel auf einem offenen Feuer vor sich hin simmerte, roch nicht, als ob viel Fleisch darin enthalten war.

    Eine Frau kam aus einem der Wohnwagen, ging zum Kessel und schöpfte etwas vom flüssigen Teil des Eintopfs in eine kleine Schale, dann kletterte sie zurück in den Wagen. Tiko konnte durch die offene Tür hören, wie sie mit jemandem sprach.

    „Versuch doch wenigstens, etwas zu essen. Schau, ich hab dir auch nur Brühe mitgebracht. Es tut bestimmt nicht weh. Versuch es, mir zuliebe, bitte!"

    Sie bekam keine Antwort.

    Warum sollte jemand nicht essen wollen? Tiko wusste absolut sicher, dass er nie, nie etwas zu essen ausschlagen würde. Irgendwie hatte er sowieso immer Hunger.

    Wie auf Stichwort rumorte sein Magen. Der Eintopf hatte wohl zu gut gerochen, auch ohne Fleisch. Aber Tiko wusste, wo er Besseres bekommen würde. Er flitzte zu Musa in die Küche.

    Am nächsten Tag packten die Händler bereits wieder und fuhren ab, ebenso die Dorfleute. Tikos Brüder kurierten, wie die meisten Männer der Burg, einen ordentlichen Kater, und die Frauen machten sich mit einigen Seufzern daran, die Überreste der Feuer wegzuräumen und den Hof zu säubern. Nicht alles, was sie fanden, war appetitlich, die Feier schien einigen nicht gut bekommen zu sein. Aber das war nach jedem Frühlingsfest so und sie lachten und scherzten, während sie fegten und schrubbten.

    Am späten Nachmittag schmerzte plötzlich Tikos Kopf. Gegen Abend war es so schlimm, dass er nichts essen mochte. „Hast dir gestern wohl den Magen verdorben, was, Kleiner?, scherzte Musa gutmütig. „Das nächste Mal nimmst du einen Blaubeerkuchen weniger.

    Einer der Diener platzte in die Gesindeküche, wo traditionell auch die jüngeren Kinder und Frauen des Burgherrn mit aßen. „Ich brauche einen Eimer mit heißem Wasser, schnell! Der junge Herr Kimuko hat sich erbrochen, mitten bei der Mahlzeit!"

    Das würde seinem Vater ganz bestimmt nicht gefallen. Tiko war fast geneigt, Mitleid mit Kimuko zu haben. Wie viel sein Vater auch trank, von seinen Söhnen erwartete er, dass sie Maß hielten. Kimuko stand eine derbe Abreibung bevor.

    Aber warum sah Musa plötzlich so besorgt aus?

    „Das ist schon der vierte. Die Köchin flüsterte, als ob sie Sorge hatte, die Aufmerksamkeit böser Geister auf sich zu ziehen. Ihr Blick flog zu Tiko. „Oder der fünfte. Holt die Heilerin! Sofort! Und du, mein Junge, gehst sofort ins Bett!

    Normalerweise hätte Tiko mit seinen bereits neun Jahren heftig protestiert. Er war kein kleines Kind mehr, das man einfach so ins Bett schickte. Aber heute war er fast erleichtert, die Tafel verlassen zu dürfen.

    Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging,

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