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Yo-Ho Piraten: Kurzgeschichten
Yo-Ho Piraten: Kurzgeschichten
Yo-Ho Piraten: Kurzgeschichten
eBook308 Seiten3 Stunden

Yo-Ho Piraten: Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

Willkommen an Bord bei unseren Piraten!
Sie sollten jetzt Ihre Sitze in eine aufrechte Position bringen, denn wir steuern stürmische Zeiten an. Verankern Sie Ihre Füße besser fest auf den Planken von Schiffen aller Art; gleich ob mit Wind, Dampf, Benzin oder mit Hyperbiumkernen betrieben. Vergnügen Sie sich in den sonnigen Gefilden der Karibik, der lauen Ostsee, oder treten Sie Ihren eiskalten Ritt in die Arktis oder ins All an. Gleich wohin Sie Ihre Reise auch gebucht haben, genießen Sie die Aussichten auf rachsüchtige Kontrahenten, Kannibalen, Amazonen, uneingeschränkten Rum-genuss ohne Konsequenzen, den Verlust von Zähnen, Gliedmaßen und Schiffen, unvorstellbare Reichtümer aus Lakritzschnecken und Diamant-Kakadus, Flüche aller Arten und das schlimmste No-Go seit Anbeginn der Schifffahrt: Frauen am Steuer!
Wir laden Sie ein. Seien Sie Gast in der Crew unserer fantastischen Literapiraten und wir lehren Sie das Fürchten … ähm … man wird Sie fürchten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Apr. 2017
ISBN9783945230251
Yo-Ho Piraten: Kurzgeschichten

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    Buchvorschau

    Yo-Ho Piraten - Thomas Heidemann


    Yo-Ho Piraten

    13 unterhaltsame Kurzgeschichten

    Marc Hamacher (Hrsg.)

    Leseratten Verlag


    Yo-Ho Piraten

    ISBN 978-3-945230-25-1

    1. Auflage, Allmersbach im Tal 2017

    Cover: Tanja & Marc Hamacher

    Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

    Lektorat: Tanja und Marc Hamacher

    Herausgeber: Marc Hamacher

    © 2017, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

    www.leserattenverlag.de


    Vorwort

    Nach dem aberwitzigen Erfolg mit der FUNTASTIK Anthologie, dem definitiv lustigsten Buch des Jahres 2016, war es wirklich nicht einfach, eine neue Idee für 2017 zu finden. Es gibt so viele interessante Figuren und Berufe, über die man ein Buch machen könnte. Aber von einer besonderen Sorte hatte ich schon länger nichts mehr gelesen: Piraten!

    Natürlich sind die Filme von Disney und vor allem Johnny Depp in aller Munde, Augen, Ohren und vielleicht auch noch sonstigen Organen. Aber mir ging es darum, eine Geschichtensammlung voller mutiger Piraten zusammenzustellen, die sich damit messen können.

    Das vorliegende Buch zeigt, dass ich mich zurecht auf die Fantasie der Autorinnen und Autoren in Deutschland verlassen kann. Uns erreichte ein Sammelsurium an verschiedensten Geschichten mit unterschiedlichen Stimmungen. In den meisten Beiträgen geht es rumhaltig und abenteuerlich, aber zum Glück auch nicht immer zu ernst zur Sache. Und wir haben auch ganz außergewöhnliche Ideen dabei: Eine Piratengeschichte mit charmantem und kindgerechtem Flair. Piraten nicht nur in der Karibik, sondern auch in der Ostsee. Einige der Piraten fliegen sogar durchs All.

    Für Freunde der FUNTASTIK gibt es hier und da ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Aber auch neue Autoren haben es in dieses Buch geschafft. Für mich als Verleger ist es immer wieder eine faszinierende Offenbarung, was sich so in den Köpfen der deutschen Fantasten abspielt. Ich hatte meinen Spaß beim Lesen und das wünsche ich auch jetzt allen Leseratten an Bord mit unseren Literapiraten.


    Muna Bering

    Muna Bering – 1975 in Hannover geboren, heute wohnhaft in Franken – hat vermutlich wenig Talent zur Seeräuberei denn:

    Sie liebt zwar das Meer, wird aber schnell seekrank.

    Trinkt lieber Tee als Rum.

    Trotzt jedem Wetter auf ihrem gelben Fahrrad, statt an Bord eines Schiffs.

    Hält sich keinen Ara, freut sich dafür jeden Tag über ihren wunderschönen Hund.

    Hat keine raubeinige Mannschaft, sondern einen weitestgehend zivilisierten Mann an ihrer Seite.

    Erlebt gerne Abenteuer, tut dies jedoch überwiegend im Lesesessel, im Kino oder am Rollenspieltisch.

    Kann sich für Schauriges erwärmen, wird aber beim Anblick ihres eigenen Bluts blass um die Nase.

    Ist schon viel in der Welt herumgekommen, leider ohne irgendwo Angst und Schrecken zu verbreiten (zumindest nicht absichtlich).

    Immerhin kennt sie schmutzige Lieder, hat schon einmal einen Hausboot-Urlaub gemacht und wurde in jungen Jahren von einem Kakadu gebissen. Vielleicht reicht das ja.


    Die Nachfolge

    »Du kommst auch mit, Kratzbürste!«

    Die Kratzbürste zuckte nur mit den schmalen Schultern, als sei ihr alles gleichgültig. Ihr schmutziges Gesicht unter der dunklen Haarmähne verriet nicht, was sie dachte.

    »Und glaub ja nicht, es sei eine gute Idee, unterwegs abzuhauen«, knurrte Zett. »Auf der Herzinsel gibt es nichts als Dschungel, in dem es von Giftschlangen wimmelt, und Sümpfe voller Krokodile, und der einzige Eingeborenenstamm, der dort haust, frisst Menschen. Wenn du wegrennst, wärst du nicht frei, sondern sehr schnell tot.«

    »Vielleicht will ich das ja«, antwortete sie trotzig. »Manchmal ist der Tod die einzige mögliche Variante von Freiheit.«

    Kurz überlegte er, ob sie das ernst meinte.

    Dann gab er ihr einen Klaps auf den Hinterkopf.

    »Red keinen Mist!«, schnauzte er. »Mach dich fertig. Zieh dir Stiefel an! Und nimm Wasser mit.«

    Nein, sie würde auf der Herzinsel nicht ausbüchsen, um den Tod zu suchen. Wenn sie ernsthaft sterben wollte, hätte sie in den Wochen, seit Käpt’n Zacharias »Zett« Goldzahn und seine Mannschaft sie entführt hatten, schon zehnmal die Gelegenheit dazu gehabt. Sie hätte beim Deckschrubben über Bord der Wellentochter springen, sich beim Kartoffelschälen die dürren Arme aufschneiden oder sich unten im Lagerraum, wo sie nachts festgekettet wurde, erdrosseln können.

    Sie hatte es nicht getan.

    Stattdessen hatte sie zweimal versucht zu entkommen. Einmal mit dem Beiboot und einmal im Hafen von San Devila. Und sie wäre beinahe erfolgreich gewesen – und das, obwohl sie ein junges Ding war, nicht einmal ausgewachsen, und bis zu jenem Tag noch keinen Fuß an Bord eines Schiffes gesetzt hatte. Eine elende Landratte. Dennoch konnte sie leise sein wie eine Katze und flink wie eine Maus.

    Das war einer der Gründe, weswegen er sie zum Landgang mitnahm: um sie nicht aus den Augen zu lassen.

    »Und wenn du doch Reißaus nimmst«, fügte Zett vorsichtshalber noch hinzu, »von mir aus! Du kannst dich vom Sumpf in die Tiefe ziehen lassen, bis dir Blut aus den Augen läuft und die faulige Brühe dir in den Mund quillt. Du kannst dir von einem Leoparden die Gedärme aus dem Leib zerren lassen, während du noch lebst. Oder die Kannibalen sägen dir bei vollem Bewusstsein den Dickschädel auf, um dein Gehirn zu löffeln – wenn du ein solches Ende suchst, nur zu! Aber glaub ja nicht, dass wir nach dir suchen oder dich retten würden. Nay! Vergiss nicht, dass deine verdammten Eltern nicht für dich zahlen und du verflixt noch mal nichts wert bist.«

    Die Kratzbürste antwortete nicht. Sie zuckte nur erneut mit den Schultern und wandte sich ab, um sich fertig zu machen.

    Sie setzten zu fünft über: Kapitän Zacharias Goldzahn, genannt „Käpt’n Zett, sein erster Maat Elias, „der Kleine – er war mit seinen 39 Lenzen der Jüngste an Bord –, die schwarzhäutige Silberzungen-Susa, der stille Sven und die „Kratzbürste".

    Der Himmel über ihnen war stechend blau. Unter ihrem Ruderboot kreisten Hammerhaie im türkisgrünen Wasser. Je näher sie der Herzinsel kamen, desto dichter und dunkler schien der Urwald zu wachsen und desto lauter wurde das Gekreische der Affen und Papageien.

    Sie legten an der Spitze des Herzens an und zogen ihr Boot auf den schmalen Sandstreifen.

    »Elias, Susa, Sven! Verteilt euch und findet einen Weg hinein in den Wald. Schlagt zur Not einen!«

    »Aye, Käpt’n.« Sie zogen los.

    Zett und die Kratzbürste ließen sich auf einigen Steinen nieder und warteten ab.

    Früher – vor vier oder fünf Jahren bestimmt noch – hätte ich selber eine Machete geschwungen, dachte er und sah einigen roten Krabben zu, die durch die Brandung eilten, als hätten sie wichtige Termine. Und früher hätte ich auch selbst gerudert.

    Heute aber waren seine Arme schwach und zittrig. Er musste seine Feuerbüchse mit zwei Händen halten, wenn er schoss. Seine Beine taugten zwar noch allerhand, aber sein verfluchtes Kreuz machte ihm zu schaffen und das Atmen fiel ihm bisweilen schwer. Als hätte eine Krake seinen Oberkörper umschlungen und würde ihn langsam immer fester zusammendrücken. Dann brannte ihm die Lunge und das Einatmen wurde von einem unan- genehmen Stechen begleitet.

    Er grunzte und streckte den Rücken durch, bis dieser knackte.

    Es lässt sich nicht beschönigen, dachte er grimmig. Ich bin alt geworden. Und schlimmer noch: krank.

    Er hustete und spuckte aus. Der Batzen, der im weißen Sand landete, war von dunklen Blutfäden durchzogen.

    Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, wandte er sich an die Kratzbürste: »Du fragst dich bestimmt, was ich auf dieser Insel suche, stimmt’s?«

    Keine Reaktion. Nicht einmal ihr berühmtes Achsel- zucken. Sie blickte weiter starr auf das glitzernde Meer hinaus, drehte ihm nicht einmal das Gesicht zu.

    »Auf dieser Insel gibt es ein Tier«, sprach Zett trotzdem weiter, und er hörte selbst die Gier in seiner rauen Altmännerstimme mitschwingen, »ein einmaliges und ungeheuer wertvolles Tier: den Diamant-Kakadu. Sein Gefieder, so heißt es, ist mit Diamantstaub durchsetzt. In seiner Krone glitzern Goldfedern. Als ich in San Devila von ihm gehört habe …«, er hatte dieses Geheimnis beim Würfeln gewonnen. Der zahnlose Greis, gegen den er gewonnen hatte, hatte nicht zahlen können und ihm schließlich heulend dieses Geheimnis angeboten, um zu verhindern, dass Zett ihn erdolchte. »Da wusste ich, dass ich diesen Vogel finden muss«, erklärte Zett. »Und wenn ich mir dabei Bein, Herz und mein ungewaschenes Genick breche, aye! Ich werde ihn fangen und mit ihm beim Großen Beutefest in Portido antreten. Weißt du, was das ist, Kratzbürste? Das Große Beutefest?«

    »Nein.«

    »Das Große Beutefest ist ein Wettbewerb. Ein Piraten-Wettbewerb! Er findet nur einmal alle zehn Jahre statt, und wer ihn gewinnt, erntet großen Ruhm. Die Piraten, die teilnehmen, zeigen jeweils ein Beutestück vor, das sie selbst erobert haben – ein sagenhaft kostbares oder seltenes Beutestück! Sie erzählen dazu die Geschichte, wie es in ihren Besitz gekommen ist. Und derjenige, der das spektakulärste Stück mitgebracht und die beste Geschichte erzählt hat, gewinnt.« Zett machte eine kurze Pause. »Wenn es mir gelingt, den Diamant-Kakadu beim Großen Beutefest herzuzeigen, ist mir der Sieg sicher!«

    Die Kratzbürste hatte sich mittlerweile umgedreht und musterte Zett stirnrunzelnd. Kurz glaubte er, er hätte sie beeindruckt, dann aber verzog sich ihr Mund zu einem spöttischen Grinsen.

    »Ihr Piraten seid ein seltsames Volk«, sagte sie. »Einerseits schlitzt ihr anderen die Kehlen auf, um sie zu berauben, und verschleppt Kinder, um Lösegeld zu erpressen – und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Andererseits benehmt ihr euch selbst wie Kinder. Ihr veranstaltet alberne Wettbewerbe, um zu sehen, wer der Größte ist, und haltet jede Lügengeschichte, die euch zu Ohren kommt, für wahr. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es diesen Vogel wirklich gibt, oder?«

    »Doch. Es gibt den Diamant-Kakadu. Er ist eine legendäre Kreatur – so wie Lanua, die Marmor-Meeres- schildkröte.«

    »Na dann!« Die Kratzbürste schnaubte verächtlich. »Dann können wir uns ja mit Zuversicht auf die Jagd nach diesem Vieh begeben. Es wird bestimmt ein wahres Vergnügen, ihn im dichten Urwald dieser Insel zu finden – einen einzelnen Kakadu in tausend Bäumen.«

    »Das lass mal meine Sorge sein, Kratzbürste.«

    »Warum ist es dir eigentlich so wichtig, diesen albernen Wettbewerb zu gewinnen? Könntest du die Zeit und die Mühe, die es kostet, den Papagei zu fangen, nicht für etwas Sinnvolleres oder Erwachseneres aufwenden? Oder kannst du genau das nicht mehr?«, ergänzte sie und um ihren Mund spielte ein harter Zug. »Bist du zu alt geworden für echte Erfolge, und dieses Beutefest ist deine letzte Hoffnung auf ein bisschen Ruhm? Deine letzte Hoffnung darauf, dass man sich wieder an dich erinnert?«

    »Halt’s Maul!«, grollte Zett und schlug ihr mit dem Handrücken auf die Lippen.

    Ihr Kopf flog zurück und sie verstummte. Aber Zett sah, dass sie lächelte, bevor sie sich wieder abwandte, um auf das Meer zu blicken.

    Sie wusste, dass sie recht hatte.

    Und er wusste es auch.

    Seine besten Jahre waren vorbei. Er war alt. Er war krank. Seine verdammte Mannschaft war alt. Und die Wellentochter war auch alt.

    Manchmal verstand er die Welt nicht mehr.

    In letzter Zeit waren mehrere Vorhaben misslungen: Ein Handelsschiff, das sie hatten entern wollen, hatte verbissen Widerstand geleistet und sie in die Flucht getrieben. Die versuchte Rettung eines befreundeten Piratenkapitäns aus dem Kerker von San Devila hatte leider in dessen blutigem Ableben geendet. Und die Entführung der Kratzbürste war zwar gelungen, aber jetzt weigerte sich ihr geiziger Vater, der immerhin Gouverneur und steinreich war, auch nur ein Kupferstück für sie zu zahlen.

    »Behaltet sie. Ich habe genug Töchter. Und die hier lässt sich nicht einmal verheiraten«, hatte er Zett per Brief- taube wissen lassen.

    Was war das für ein furchtbarer Vater?

    Früher hätte es so etwas nicht gegeben. Früher hatte es auch keine ernsthafte Konkurrenz für Zett gegeben. In seinen besten Jahren – sie schienen noch gar nicht so lange her zu sein, bei Neptuns Nippeln! –  war er gefürchtet und verehrt worden. Andere Piraten hatten ihn vielleicht gehasst, aber sie hatten anerkannt, dass er ihnen überlegen war. In der Haifischbucht hatte man Lieder über ihn gegrölt. Man hatte seine Gerissenheit und seinen Mut besungen.

    Heute drängten viele junge Piraten nach – ehrgeizig, ohne Skrupel, respektlos.

    In seinen Gewässern war das vor allem dieses eiskalte Weibsstück, das Zett das Leben schwermachte: die Rote Runa. Längst galt sie als die größte Gefahr, die in seinem Revier kreuzte. Man wisperte hinter vorgehaltener Hand Geschichten über sie, nicht mehr über ihn. Geschichten über ihre Grausamkeit und über ihre Habsucht. Kleine Jungs wachten nachts heulend auf, weil sie geträumt hatten, die Rote Runa käme sie holen. Kleine Mädchen malten sich aus, wie es wohl wäre, in ihre Mann- schaft – nur Weiber! – aufgenommen zu werden und die Meere zu befahren, mit Rum im Blut, Goldgier im Herzen und Mord im Sinn. Gerüchten zufolge hatte die gesamte Besatzung mancher Kaufmannsgaleere sich lieber selbst umgebracht, bevor sie in die Hände der Roten Runa fiel. Angeblich färbte Runa ihr Kopftuch mit dem Blut ihrer Opfer und trug Stiefel aus Menschenhaut. Männer, die sie gefangen nahm, entmannte sie und verfütterte die abgeschnittenen Teile an ihr Totenkopfäffchen.

    Ob das alles stimmte, wusste Zett nicht.

    Aber er wusste, dass er gegen die Rote Runa ein Piratenwitz war. Ein zahnloser Alter. Das kleinere Übel. Und er wusste, dass sie keine Ehre hatte. Er hatte sie vor einigen Jahren zu einem Parley eingeladen, um mit ihr über die Aufteilung ihrer Gewässer zu verhandeln, und sie war ihm mit ihren Flintenweibern in den Rücken gefallen. Sein alter Freund und erster Offizier Tiger-Tim, Schiffsjunge Nubs und Zetts geliebter Ara hatten damals ihr Leben verloren. Wenig später hatte Runa ihn in seinem Versteck überfallen, den Großteil seiner Schätze geraubt und die Grotte zum Einsturz gebracht. Zett und seine Mannschaft waren in letzter Sekunde auf der Wellentochter entkommen.

    Das hätte es früher auch nicht gegeben.

    Aber was half Lamentieren? Nichts.

    Es blieb dabei: Die Kratzbürste hatte recht.

    Die Zeiten seiner großen Erfolge und seines Ruhms schienen unwiderruflich vorbei. Er war zu alt, er war zu müde.

    Aber wenn es ihm gelingen sollte, den Diamant-Kakadu beim Großen Beutefest vorzuführen, würde man sich wieder an ihn erinnern. Man würde mit Ehrfurcht und mit Staunen zu ihm aufsehen.

    Und die Rote Runa, die mit Sicherheit auch an dem Wettbewerb teilnahm?

    Sie würde gegen ihn verlieren. Endlich einmal! Sie würde in seinem Schatten stehen. Sie würde im Glanz seines Erfolgs verblassen. Sie wäre ein Niemand. Wenigstens für einen Tag.

    Zett sah sich deutlich selbst, mit dem funkelnden Diamant-Kakadu auf der Schulter auf einem Siegertisch im „Zornigen Poseidon" in Portido. Die Rote Runa zu seinen Füßen, mit hilfloser Wut in den Augen und geballten Fäusten. Als die ersten Hoch-Rufe erklingen, hält sie sich die Ohren zu und stürmt hinaus …

    Elias’ Ruf riss Zett aus seinem Tagtraum.

    »Käpt’n! Wir haben einen Pfad gefunden.«

    Seine Leute hatten einen überwucherten, aber sichtbaren Pfad entdeckt, der in den Dschungel führte. Vielleicht war es ein Wildwechsel; vielleicht wurde er vom Qicua-Stamm zum Jagen genutzt. Ein Blick auf Kompass und Karte verriet Zett jedenfalls, dass er in die Richtung ihres Dorfs führte.

    »Und dort wollen wir hin«, erklärte er. »Die Wilden vom Qicua-Stamm wissen, wo der Diamant-Kakadu zu finden ist.«

    »Aber ich dachte, das wären Menschenfresser.«

    Es war das erste Mal, dass die Kratzbürste ein kleines bisschen kleinlaut klang. Zett musste grinsen. Ihre Verzagtheit erfreute sein altes Herz.

    »Lass das mal meine Sorge sein«, antwortete er munter. »Silberzungen-Susa hier weiß, wie man mit Kannibalen verhandelt. Und zur Not bieten wir ihnen ein Opfer an, um sie für uns einzunehmen … ich weiß schon, wer dafür infrage käme.«

    Er lachte und sie machten sich auf den Weg.

    Lange hielt seine kleine Freude leider nicht an. Bald schon wurde sie vertrieben von den Mühen der Wan- derung durch den dichten Urwald.

    Sie stiegen über kniehohe Baumwurzeln, schlugen sich durch schleimig-feuchte Büsche, krochen unter giftigen Ranken hindurch. Ganz anders als auf dem Meer, war die Luft in diesem Dickicht feucht und erdrückend warm. Als müsste man auch sie mit der Machete zerteilen, um einen weiteren Schritt tun zu können. Sie roch nach verrotten- den Pflanzen und den scharfen Aus- scheidungen wilder Tiere.

    Es dauerte nicht lange, und sie alle keuchten und badeten in ihrem Schweiß. Zetts Rücken schmerzte vom ständigen Bücken. Sogar seine Beine wurden allmählich schwach. Seine Lungen brannten. Die Waldluft tat ihnen nicht gut. Batzen blutigen Auswurfs markierten ihren Weg.

    Bevor die Sonne als blutroter Ball hinter den Bäumen versank, richteten sie sich ein Nachtlager ein. Während die Affen und Vögel über ihnen ein ohrenbetäubendes Dämmerungskonzert gaben, befestigte Elias mit Hilfe der Kratzbürste ihre Hängematten und die Mückennetze in den Ästen. Zett teilte Wachen ein, ließ eine Flasche Rum herumgehen, fesselte der Kratzbürste Hände und Füße und wünschte allen eine gute Nacht.

    Noch vor dem Morgengrauen des nächsten Tages wurden sie von Schüssen geweckt. Mehrere Schüsse. Sechs oder sieben Stück. Zett fiel beinahe aus seiner Hängematte.

    Die Schüsse waren nicht laut gewesen. Sie waren in einiger Entfernung abgegeben worden, und dichtes Blattwerk sowie die morgendlichen Nebelschwaden hatten sie gedämpft. Aber eindeutig: Schüsse.

    »Was war das?«, fragte Susa.

    »Wird die Wellentochter angegriffen?!«, rief Elias.

    »Nay. Das sicher nicht«, antwortete Zett. »Die Wellen- tochter liegt hinter uns. Die Schüsse kamen von vorn.«

    »Verfügt der Stamm der Qicua über Feuerbüchsen?«

    »Nay. Das glaube ich nicht.«

    »Aber wer hat dann geschossen?«

    »Wir werden weitergehen müssen, um es herauszu- finden. Also los! Packt zusammen! Und dann geht es weiter. Aber vorsichtig!«

    Sie schlichen weiter und machten dabei so wenig Lärm wie möglich.

    Zett behielt seine Pistole in der Hand.

    Er blieb wachsam.

    Er versuchte, seine Rückenschmerzen, seine glühende Brust und seinen rasselnden Atem auszublenden.

    Er versuchte auch, die Vorahnung auf eine böse Über- raschung, die ihm am Herzen nagte, zu ignorieren.

    Beides gelang ihm nicht.

    Es war zur Mittagsstunde, als Zetts Vorahnung sich erfüllte. Die Sonne stand genau über ihnen und warf ihr Licht als grüner Dämmer durch das Blätterdach. Der Wald lag still in der Hitze und lauerte. Vor ihnen öffnete sich ihr Pfad plötzlich und führte in flirrendes Licht.

    »Wir haben das Dorf der Qicuas erreicht«, raunte Zett. »Susa und Sven kommen mit mir. Elias, du bleibst mit der Kratzbürste hier. Verhaltet euch ruhig!«

    »Aye, Käpt’n.«

    Noch bevor sie vom Pfad auf die Lichtung traten, roch Zett ihn: Den Gestank nach Rauch und Blut. Dazu Kindergeplärre, ein Schluchzen, das Stöhnen von Ver- wundeten. Das kleine Dorf war niedergemacht worden.

    Keine der Hütten aus Bambus und Farn stand mehr, die meisten schwelten noch. Hühner, Hunde, Ziegen und Menschen lagen tot über der Lichtung verstreut. Zetts Stiefel schmatzten im vom Blut aufgeweichten Boden.

    Silberzungen-Susa stieß einen deftigen Fluch aus. Sven gab ein würgendes Geräusch von sich. Zett dachte an den Diamant-Kakadu und fühlte seine dunkle Vorahnung in sich wüten.

    In einer Hütte, die noch zwei Wände und ein Dach hatte, waren die Überlebenden versammelt. Die wenigsten standen aufrecht. Viele lagen verwundet auf der Erde. Viele Alte, einige Kinder. Sie blickten ihnen ängstlich entgegen. In ihrer Mitte, auf einem erhöhten Lager aus blutigen Decken und Laub, lag ein alter Mann mit langen grauen Haaren und einem blutverschmierten Gesicht.

    Eine Greisin, begleitet von zwei bewaffneten Jugend- lichen, trat ihnen entgegen, als sie sich der Hütte näherten. Hastig stieß sie einige zornige Sätze in einer seltsamen Sprache aus, die vor allem aus Pfeif- und Klicklauten zu bestehen schien.

    »Sie sagt, wir sollen verschwinden«, übersetzte Susa. »Sie sagt, die anderen Hellhäute hätten diesen Stamm bereits vernichtet. Es gäbe hier für uns nichts mehr.«

    »Sag ihr, dass wir mit den anderen Hellhäuten nichts zu tun haben«, rasselte Zett. Die dunkle Vorahnung jaulte in seinen Ohren wie ein Sturm. »Frag sie, wer die anderen waren. Wer hat sie überfallen?«

    »Aye, Käpt’n.«

    Susa übersetzte, und die Greisin antwortete.

    Mit Grabesstimme gab Susa die Antwort weiter: »Es war eine Gruppe Weiber, Käpt’n Zett. Sie sind heute Morgen über das Dorf hergefallen. Sie wurden angeführt von einer Frau mit roten Haaren und sandweißer Haut.«

    Zett schloss die Augen.

    »Was wollten sie?« Er wusste es schon.

    »Sie wollten wissen, wo der Diamant-Kakadu sich versteckt.«

    »Haben sie es ihnen gesagt?«

    »Aye, das haben sie. Der Schamane des Stammes hat ihnen beinahe sofort gesagt, was sie wissen wollten, um seinen Stamm zu schützen. Dennoch haben sie ihn weiter- gefoltert und einen Großteil der Dorfbewohner getötet.«

    »Sag ihr, dass mir das leidtut.« Das tat es wirklich. Die Rote Runa war eine verfluchte Schande für die See- räuberei! »Frag sie, ob wir helfen können. Und dass wir im Gegenzug auch wissen müssen, wo der Diamant-Kakadu auf dieser Insel zu finden ist.«

    Zett spuckte einen blutigen Batzen auf die dunkle

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